Die Mahasiddha-Tradition (Teil 1)

KarchenPalgyi Von Lama Vajranatha (John Myrdhin Reynolds)

Viele Leute im Westen nehmen an, dass alle Lamas notwendigerweise Mönche sind. Das stimmt so nicht, da das tibetische Wort „Lama“ (bla-ma), das verwendet wurde, um den Sanskrit-Begriff „Guru“ zu übersetzen, eigentlich spiritueller Lehrer bedeutet und, dass kann entweder ein Mönch oder ein Laie sein. Nichtsdestotrotz ist das klösterliche Leben und die Lebensweise eines Mönchs immer die Hauptform der buddhistischen Institution und gesellschaftlichen Organisation gewesen, wo immer der Buddhismus sich in Asien verbreitet hat.
Diese buddhistische Klosterkultur wurde 7. Jhdt. und 8. Jhdt. unserer Zeitrechnung von Indien nach Tibet gebracht und im 11. Jhdt. nach einem vorübergehenden Zusammenbruch wiederbelebt. Die buddhistischen Gelehrten Indiens brachten eine äußerst reiche und tiefgründige tausend Jahre alte spirituelle Kultur mit nach Tibet. In Indien ist diese jedoch weitestgehend im 13. Jhdt. aufgrund der völligen Zerstörung der großen buddhistischen Klosteruniversitäten in Nordindien durch die einfallenden tobenden Horden aus Afghanistan und Zentralasien verschwunden, die die besiegten Einwohner ausraubten, plünderten, vergewaltigten und zum Religionswechsel für die aufkommende Religion des Islam zwangen, sodass viel von dem geistigen Erbe dieser Universitäten, das in Indien verlorgen ging, in Tibet erhalten geblieben ist. Während dieser Frühzeit förderte die tibetische Regierung eines der größten Übersetzungsprojekte, die jemals in der Geschichte unternommen wurden – nämlich die Übersetzung des Großteils der Texte des Mahayana-Buddhismus aus dem Sanskrit ins Tibetische. Auch wenn die monastische Kultur der Mönche und Klöster in den vergangenen 2500 Jahren die hauptsächliche gesellschaftliche Einrichtung für die Erhaltung und die Übertragung des buddhistischen Erbes gewesen ist, so hat es doch auch immer andere Formen des buddhistischen Lehrens und der Praxis gegeben.

Mönch oder Haushälter

Sogar zur Zeit von Shakyamuni Buddha selbst waren nicht alle seine Anhänger Mönche. Einer ist beispielsweise der Laie und Händler Vimalakirti, der in der Debatte über das Thema „Shunyata“ oder Leerheit den großen Mönch und Gelehrten Shariputra selbst besiegen konnte. Gelehrte wie E. Lamotte und E. Conze habe spekultiert, dass die Spannung zwischen den safranfärbigen Älteren der klösterlichen Gemeinschaft und der weißgekleideten Anführer der buddhistischen Laiengemeinde einer der Faktoren für die historische Entwicklung des Mahayana gewesen sein könnte. Nur ein Jahrhundert nach dem Dahinscheiden des Buddha gab es ein Schisma beim Konzil von Vaishali zwischen den Sthaviras oder Älteren und der Mahasanghika oder den Anhängern der Größeren Versammlung, der viele Anführer angehörten, die keine Mönche waren. Während sich aus den Traditionen, die von den Sthaviras oder älteren Mönchen bewahrt wurden, die 18 Schulen des Hinayana-Buddhismus entwickelten, die beteuern, dass man erstens als Mann wiedergeboren werden muss und zweitens Mönch werden muss, um aus Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten zu erlangen, haben die Mahasanghikas Erleuchtung für etwas jedermann – egal ob Mann oder Frau, Mönch oder Laie – Offenes angesehen, da jedes Individuum die innere Voraussetzung für die Erleuchtung besitzt. Diese Gemeinschaft der Mahasanghikas war der Nährboden aus dem sich später das Mahayana erhob – sowohl die Sthaviras und Mahasanghikas besaßen authentische Traditionen, die auf den historischen Buddha selbst zurückgingen, auch wenn sie diese unterschiedlich betonten. In der Tradition des Mahasanghika-Mahayana war es für männliche oder weibliche Laien möglich, vollentwickelte Praktizierende des Buddhadharma zu werden und nicht nur zweitklassige Bürger der Sangha in Bezug auf die ordinierte Geistlichkeit der Mönche.
Aber historisch am wichtigsten für die Entwicklung des Buddhismus in Tibet war die Mahasiddha-Tradition, die sich in Nordindien im frühen Mittelalter (3. – 13. Jhdt.) entwickelte. Philosophisch basierte diese Bewegung auf Einsichten, die in den Mahayana-Sutras offenbart und in den philosophischen Schulen der Madhyamaka und Chittamatrin systematisiert worden waren, aber die Methoden der Meditation und Praxis waren völlig verschieden von denen, die man in den Klöstern sah. Der Sanskrit-Begriff „Mahasiddha“ bezeichnet einen großen Verwirklichten oder Strebenden. Ein Siddha oder Adept ist eine Person, die durch die Praxis der Sadhana, eine spirituelle oder psychische Schulung oder ein Prozess der Realisation, die Verwirklichungen der Siddhis, der psychischen und spirituellen Kräfte erlangt. Diese Methoden wurden in den buddhistischen Schriften, die als Tantras bekannt sind, offenbart. Manchmal sagt man, dass ihre Quelle der historische Buddha ist, aber viel öfter ist es ein transhistorischer Aspekt des Buddha, Vajradhara genannt, der das Tantra auf die Frage eines speziellen Mahasiddha in einer Vision enthüllt. Diese vage und schlecht definierte Gemeinschaft der Mahasiddhas war der historische Nährboden für die Offenbarung der Höheren Tantras, den Anuttara Tantras. Sie brachen mit den Konventionen des buddhistischen Klosterlebens dieser Zeit und da sie das Kloster aufgaben, praktizierten sie in Höhlen, Wälder und in Dörfern Nordindiens. Im völligen Gegensatz zum niedergelassenen monastischen Establishment ihrer Tage, die die buddhistische Gelehrsamkeit auf ein paar wenige große Klosteruniversitäten konzentrierte, nahmen sie den Lebensstil von umherziehenden Bettlern an, ähnlich der wandernden Sadhus im modernen Indien.

Askese oder reine Sicht

Die Form der Askese, die in den Tantras dargelegt wurde, anders als die Sutras und die Vinaya, die die Methoden des Pfades der Entsagung lehrten, wo die Gifte der Leidenschaften, bei weitem nicht aufgegeben werden, sondern eigentlich bis zum Extrem kultiviert werden müssen, damit ihre Energie im alchemistischen Gefäß des menschlichen Körpers in den lichthaften Nektar des erleuchteten Gewahrseins umgewandelt werden. Hier gab es eine absichtliche und klare Parallele zur Alchemie – die Kleshas oder Leidenschaften wurden durch den alchemistischen Vorgang der Sadhana in Jnana (Gnosis) oder Weisheitserkenntnis umgewandelt. So wurden die Dinge der Welt, die von den Asketen normalerweise aufgegeben wurden – wie Wein, Fleisch und Sex – und die als die Fesseln angesehen werden, die den Geist an die Materie und Natur binden, speziell letztere (Frauen und Sex) werden in den höheren Tantras nicht aufgegeben, sondern als die eigentlichen Mittel der Erleuchtung entwickelt. Aber das war keine Entschuldigung oder Erklärung, um an Wein, Weib und Gesang teilzuhaben, sondern sie repräsentierten einen höchst disziplinierten asketischen Pfad. Und da die Methoden des Tantra hauptsächlich mit Energie arbeiten und mit einer der für das menschliche Erleben wichtigsten und mächtigsten Energien, nämlich des sexuellen Verlangens, so entwickelt sich ein anspruchsvoller Yoga der Geschlechtlichkeit, der als Upayamarga und als Karmamudra bekannt ist. Yoga-Praktizierende nahmen Gefährtinnen bzw. Gefährten oder Sexualpartner unter den Dorfmädchen, einschließlich kastenlosen Mädchen, wie die Dombis, Chandalis etc. und lebten mit ihnen im Retreat oder in den Dörfern, während sie bescheidenen Geschäften nachgingen. Beispielsweise der junge Brahmanen-Gelehrte Saraha befleckte seinen Kastenstatus, indem er öffentlich mit einer aus einer niedrigeren Kaste lebte, die eine Pfeilmacherin war, trotzdem wird er als einer der größten Poeten und Gelehrten der buddhistischen tantrischen Tradition angesehen. Oder Naropa, einst Professor und Kanzler der Klosteruniversität Nalanda, gab seine akademische Laufbahn auf, um sich den Lehren Tilopas zuzuwenden, einem wild dreinblickenden und offenkundig halbverrückten Asketen, der in einer Reihe entlegener Verbrennungsplätze in Begleitung von Frauen mit fragwürdiger Tugend lebte. In Indien wurden die Anuttara Tantras im Allgemeinen nicht an den Klöstern praktiziert, weil ihre Praxis mit dem Vinaya, den Regeln und Gelübden, die ein Mönch hält, unvereinbar war. Dies geschah dann zum ersten Mal in Tibet.

Fortsetzung folgt!


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