Die Lust am Jenseits ist es, die den Schriftsteller aus dem Bett treibt.
(Er steht vor seinem Bett. Er gähnt. Er besieht sich das Bett. Die Bettdecke liegt wie eine Landschaft vor ihm. Er fährt mit einem unsichtbaren Auto an den Klippen entlang. Er hetzt auf ein Treffen am Leuchturm zu. Aber da ist kein Leuchtturm. Er überlegt, wie er das Bett in seine Erzählung einbauen wird. Vielleicht als einen Nachtkahn. Er setzt mit diesem Boot Nacht für Nacht ins Jenseits über. Da ist dieses Land in ihm. Aber jetzt ist er zurück. Er steht vor keinem Kahn. Denn das ist ein Bett, denkt er. Und dies dort ist eine Bettdecke.)
Der Schriftsteller, der die Tage zu Hause verbringt, der in seinem Haus wie ein Gefangener lebt,
(Und wahrscheinlich ist er das auch: Ein Gefangener seiner Umstände, seiner Vorlieben, seiner Gemütlichkeit, seiner Faulheit und seiner Fantasie.)
rasiert sich, duscht sich, wirft sich in Schale.
Beim Schreiben trägt der Schriftsteller
(Der Schriftsteller denkt alle paar Tage darüber nach, warum er sich eigentlich Schriftsteller nennt. Er könnte sich doch auch Autor nennen. Oder Dichter. Vielleicht ist es ja auch einerlei, wenn ihn da eine zu bemängelnde Sprachungenauigkeit nicht den Schrecken und die Röte ins Gesicht treiben würde. Also denkt er weiterhin darüber nach, bis er sich schließlich mit der Sprachungenauigkeit versöhnt, weil die Ungenauigkeit auch wieder neue Zusammenhäng erschafft, die sein Schreiben voran bringen.)
einen Anzug. Er zwängt seinen Hals in eine Krawatte.
(Der Schriftsteller stellt sich statt der Krawatte einen Strick vor. Er steht vor dem Spiegel und probt seine eigene Hinrichtung. Er schließt die Augen und versucht sich ganz und gar in die Situation hinein zu versetzen. Trommelwirbel zerschneidet die Luft. Die Menge steht mit geöffneten Mündern vor ihm. Er blickt zu ihnen hinunter. Er hält eine letzte Rede.
Jetzt wird mir das Wort wohl endgültig im Halse stecken bleiben, sagt er zu den Männern und Frauen, die sich nun die Hände vor ihre Münder halten, damit sie den Schrecken behalten können. Sie drücken den Schrecken in ihre Hälse zurück. Sie ziehen ihre Kinder herbei.
Sieh nur hin, sieh nur hin, flüstern sie. So geht es denen, die das Wort an sich reißen wollen.)
Der Schriftsteller steht noch einen Moment unschlüssig vor dem Spiegel. Die Bilder der eigenen Hinrichtung lassen ihn nicht los.
(Der Trommelwirbel endet.)
Jetzt geht dem Schriftsteller die Tagträumerei doch etwas zu weit. Er schüttelt entsetzt den Kopf und eilt in sein Arbeitszimmer hinüber.
Der Schriftsteller schaltet den Computer ein. Viel lieber würde er an einer alten Schreibmaschine arbeiten.
(Die Finger sollten beim Schreiben bluten.)
Er öffnet die Lust am Jenseits.
Der Schriftsteller überliest die letzten Zeilen. Er lehnt sich zurück.
(Der Schriftsteller schreibt nur wenige Worte jeden Tag. Die Kopfarbeit geht vor. Er muss sich in der Geschichte, die er erzählen will, einfinden; leider weiß er selten, um was es in seinen Geschichten überhaupt gehen soll.)
Der Schriftsteller ersinnt sich an diesem Morgen ein Erschießungskommando. Ein Baron ist ins Jenseits zu begleiten.
(Der Schriftsteller hat noch keine Ahnung, wie er seinen zukünftigen Lesern das plötzliche Auftauchen eines Barons erklären soll, zumal in einer Geschichte, die sich bisher um einen krebskranken Schauspieler kümmerte, der unbedingt die Rolle eines Krebskranken verkörpern möchte. Ein letzter Film, der ihn im Gedächtnis der Menschen verankern wird.)
Die Lust am Jenseits will sich an diesem Morgen nicht befeuern lassen. Die Lust stockt.
(Der Schriftsteller greift nach dem Mobiltelefon und ruft seine Geliebte an.
- Ich bin es.
- Ja. Ja.
- Hast du …?
- Ach!
- Ich habe eine Schreibblockade.
- Würdest du?
- Prima!
Der Schriftsteller beendet das kurze Gespräch. Seine Geliebte wird in wenigen Minuten bei ihm sein.)
Es hilft alles nichts, denkt der Schriftsteller.
- Bevor ich mich um die Lust am Jenseits kümmere, muss ich mich erst einmal um die Lust am Diesseits kümmern.
Der Schriftsteller eilt in sein Schlafzimmer zurück. Rasch schlüpft er aus seinem Anzug. Er streift einen Bademantel über.
(Der Schriftsteller verliert sich in erotischen Fantasien. Sein Schriftstellermast zeigt Trauerbeflaggung. Also sucht er rasch nach den blauen Pillen. Die müssen das regeln. Die werden das regeln.)
Nach zehn Minuten ist die Geliebte noch nicht eingetroffen. Der Schriftsteller läuft mit seinem steifen Glied auf und ab. Er schimpft auf die Geliebte.
(Plötzlich fallen den Schriftsteller Bilder eines Verkehrsunfalls an. Er sieht die Geliebte in ihrem Blut liegen. Gedanken und Penis bilden nun keine Einheit mehr. Leider kann sich sein Ständer der Wirkmächtigkeit der blauen Pillen einfach nicht widersetzen: Todesvisionen hin, Todesvisionen her.)
Da klingelt es. Der Schriftsteller rennt zur Tür hin. Er reißt sie auf. Die Geliebte stürmt herein. Schriftsteller und Geliebte fallen übereinander her.
(Der Schriftsteller beschließt während des Liebesakts die Arbeit an Lust am Jenseits einzustellen. Er wird einen pornografischen Roman schreiben. Ja, ja, ja, das wird er.)
Der Schriftsteller verzerrt das Gesicht.
- Schlampe!
- Sau!
- Dreckstück!
Beim Sex wird der Schriftsteller stets ausfällig. Die Geliebte stört das nicht. Sie bezeichnet den Schriftsteller im Gegenzug als
- Schriftficker
- Rammler
und
- Schwanz!
Letztere Bezeichnung schreckt den Schriftsteller auf. Er fühlt sich ein wenig erniedrigt. Lässt sich dann aber von einer neuen Welle aus Lust davon tragen.
(Später wird der Schriftsteller die Arbeit an Lust am Jenseits wieder aufnehmen. Er wird über die metaphysischen Eigenschaften von Eros und Thanatos fabulieren.)
Aber jetzt ist jetzt. Und später ist später.
Der Schriftsteller schließt die Augen und versinkt mit dem Kopf zwischen den Schenkeln der Geliebten.