von Salome
Wenn in Deutschland über Integration gesprochen wird, ist ganz schnell die Rede von der Parallelgesellschaft. Immigranten, vor allem türkischstämmige, so heißt es, würden sich in eigenen Vierteln abschotten und sich so vor der Integration drücken. Klaus J. Bade, deutscher Historiker und Migrationsspezialist, hat schon vor Jahren in einem Spiegelinterview den Begriff der Parallelgesellschaft als Populismus entlarvt:
Die Parallelgesellschaften gibt es in den Köpfen derer, die Angst davor haben: Ich habe Angst, und glaube, dass der andere daran Schuld ist. Wenn das ebenso simple wie gefährliche Gerede über Parallelgesellschaften so weitergeht, wird sich die Situation verschärfen. Dieses Gerede ist also nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.
Ein wirksamer Kampfbegriff
Tatsächlich ist Parallelgesellschaft ein Kampfbegriff, der darauf abzielt, Immigranten zu diskriminieren, indem er ihnen ein Fehlverhalten unterstellt: Angeblich leisten Immigranten nicht genug für ihre Integration, lernen nicht genug Deutsch, passen sich nicht der viel beschrieenen deutschen „Leitkultur“ an. Zuletzt hat Thilo Sarrazin das öffentlichkeitswirksam zum Thema gemacht. Mit dem Vorwurf der Parallelgesellschaft wird eine Grenze gezogen zwischen dem Vertrauten und dem Fremden und es wird zugleich deutlich gemacht, dass das Scheitern der Überwindung der Grenze an den anderen, an den Fremden liegt und dass man sich deshalb um jene Fremden auch nicht mehr bemühen muss. Aber was machen sie dort eigentlich, die Fremden, in ihren Vierteln? – das fragen sich viele Deutsche argwöhnisch, wenn sie an Neukölln, an Offenbach denken.
Übergangsstationen zwischen Heimat und Fremde
Für eine Antwort müssen sie gar nicht so sehr in die Fremde, sondern nur ein wenig in die Ferne schweifen: Als im 19. Jahrhundert viele Deutsche nach Amerika aufbrachen, um dort ihr Glück zu suchen, steuerten viele Philadelphia oder Chicago an. Der Grund war ganz einfach: Dort lebte bereits jeweils eine große deutsche Community mit deutschen Geschäften, deutschen Schulen und sogar deutschen Straßen. Dort gab es Netzwerke, Vereine, Hilfe, Unterstützung, Freunde und Verwandte, die bei der Ankunft in dem neuen, fremden Land und dem Aufbau eines neuen Lebens behilflich sein konnten. Die wenigsten blieben dauerhaft dort, für viele war es nur eine Durchgangsstation. Nach einer Generation zogen die meisten weiter und legten sogar ihre deutschen Namen ab. Diese historischen Beispiele zeigen, dass Viertel, in denen viele Einwanderer aus einem Land zusammenleben, vor allem der gegenseitigen Hilfe und nicht der Abschottung dienen. Gleichzeitig hat Klaus Bade darauf hingewiesen, dass es in Deutschland nirgendwo Viertel gibt, wo nur Menschen aus einem Land zusammenleben, so wie es in den USA teilweise der Fall ist, also diese Formen exklusiven Zusammenlebens, wie sie sich in „Chinatown“ oder „Little Italy“ finden, bei uns überhaupt nicht existieren. Doch da wie hier entstehen in Einwandervierteln kulturelle Netzwerke, die Übergangsstationen zwischen Herkunftsland und neuer Heimat sind.
Die hässliche Fratze der angeblichen “Willkommenskultur”
Die USA sind nicht Deutschland. Dort gibt es eine positive Einwanderungspolitik, in Deutschland redet man lieber von einer „Willkommenskultur“, während die UN eine Rüge für Sarrazins Treiben ausspricht und die NSU zehn Jahre unbehelligt mordend durch die Republik ziehen konnte. Wie willkommen kann man sich als Ausländer in so einem Land fühlen? Einem Land, das in Hysterie vor einer Armutszuwanderung ausbricht, die auf unhaltbaren Zahlen basiert, wie sich später kleinlaut zeigte, dafür aber wochenlang die Talkshows und Zeitungen gefüllt hat?
Die unsichtbare Parallelgesellschaft
Wer einmal einen Spaziergang durch die In-Viertel der deutschen Großstädte unternommen hat, mag einen neuen Eindruck davon bekommen, was Parallelgesellschaft bedeutet. Dort, wo sich die reichen, gut gebildeten Deutschen die frisch gentrifizierten Wohnungen kaufen und ihre teuren Bugaboos mit eingebauter I-Phone-Halterung durch die Gegend schieben, wo es mehr Bioläden als Bushaltestellen gibt, zeigt es sich, was es heißt, wenn ein Teil der Gesellschaft sich abschottet und mit dem Rest, mit den Armen, den Hoffnungslosen, den Alten einer Stadt nichts mehr zu tun haben will. Schlimmer noch wird es, wenn man sich in die Villenviertel einer Stadt begibt, dort, wo die Klingelschilder keine Namen mehr tragen, wo Sicherheitszäune und Kameras dafür sorgen, dass man ungestört und unter sich bleibt.
Das ist die Parallelgesellschaft, die uns Sorgen machen sollte, nicht die Viertel mit den Gemüse- und Dönerläden.