Das Ergebnis: Ein neues Grundsatzprogramm, das mit insgesamt 503 Delegiertenstimmen von einer überzeugenden Mehrheit getragen wird. Während Medien und politische Gegner in den vergangenen Wochen und Monaten bereits eine Spaltung oder sogar Auflösung der Linkspartei heraufbeschworen hatten, einigte man sich in Erfurt erstaunlich reibungslos auf eine gemeinsame Leitlinie.
Wer angesichts interner Auseinandersetzungen, Flügelkämpfen zwischen Realos und Antikapitalisten und sinkender Umfragewerte mit einem konsensualen Beliebigkeitskurs, irgendwo zwischen SPD und PIRATEN gerechnet hatte, erlebt stattdessen deutliche Signale und eine klare Mission:
Mit großer Geschlossenheit spricht sich DIE LINKE für einen radikalen Systemwechsel zum demokratischen Sozialismus aus, stimmt für die Auflösung der Nato und für die Vergesellschaftung von Banken und Energieunternehmen und wendet sich entschlossen gegen Kampfeinsätze der Bundeswehr.
Ein Grundsatzprogramm nach vier Jahren
Gregor Gysi spricht von einem „wichtigen Aufbruch“, Klaus Ernst bezeichnet das verabschiedete Programm als „Meilenstein in unserer Geschichte“, Sahra Wagenknecht freut sich, „dass DIE LINKE auf dem Parteitag in Erfurt mit einer überwältigenden Mehrheit von 96,9 Prozent ein konsequent antikapitalistisches und antimilitaristisches Parteiprogramm verabschiedet hat“ und Oskar Lafontaine zitiert die Linkspartei in die Offensive: „Wir brauchen den aufrechten Gang und wir dürfen uns nicht von den anderen in die Defensive drängen lassen.“
Der Leitantrag zum verabschiedeten Programm umfasste 40 Seiten. Insgesamt wurden 1.400 Änderungsanträge gestellt, von denen 350 zur Abstimmung kamen. 18 hiervon wurden angenommen. Die wichtigsten der beschlossenen Punkte im Überblick:
- Radikaler Systemwechsel zum demokratischen Sozialismus
- Vergesellschaftung von Banken und Energieunternehmen
- Steuer auf private Millionenvermögen und Konzerngewinne
- Auflösung der Nato
- Ende der Bundeswehr-Kampfeinsätze
- Verbot von Waffenexporten
- Aufstellung eines „Willy-Brandt-Korps“ für rein zivile Auslandsmissionen
- 30-Stunden Woche
- Mindestlohn in Höhe von 60 Prozent der deutschen Durchschnittseinkommen
- Renteneintritt mit 60
- Anerkennung des Existenzrechts Israels
- Langfristige Legalisierung aller Drogen
Regieren oder Opponieren: Rote Linien
Anhaltende Auseinandersetzungen innerhalb der Linkspartei gab es in den vergangenen Monaten vor allem immer wieder über die Frage: Regieren oder Opponieren. Während ein Teil der Partei in Regierungsbeteiligungen die Chance auf schrittweise Veränderungen erkennt, lehnt ein anderer Teil es entschieden ab, sich im Rahmen von Regierungskoalitionen indirekt an neoliberaler und pro-kapitalistischer Politik zu beteiligen.
Neu sind diese Haltelinie dabei allerdings nicht. Bereits am 29. Mai 2010 hieß es in einem Positionspapier des Parteivorstandes, der sich an Fraktionen und Gliederungen der Linkspartei wandte:
Unser Maßstab in den Ländern ist die Verbesserung der Lebenslage der Menschen. Unser Nein zu Sozialabbau, Privatisierung und Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst ist aber nicht verhandelbar. Darüber hinaus wird sich DIE LINKE auf Bundesebene nicht an einer Regierung beteiligen, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt.
Die Aufnahme der „Roten Linien“ in das Grundsatzprogramm stellt hier allerdings eine qualitative Veränderung dar. Auseinandersetzungen über künftige Regierungsbeteiligungen auf Länderebene sind hiermit jedoch nicht völlig ausgeschlossen. Sowohl den Definitionen von „Verbesserung der Lebenslage der Menschen“ als auch von „Sozialabbau“ fehlt es an Eindeutigkeit.
Öffentliche Reaktionen auf den Parteitag
Die Medien hielten sich, abgesehen von den Live-Berichterstattungen bei Phoenix, in Bezug auf den Parteitag zunächst stark zurück. Erst nachdem sich die Delegierten am Samstag auf den Programmpunkt „langfristige Legalisierung aller Drogen“ verständigten, meldete sich die Qualitätspresse zu Wort und geißelte, angeführt von BILD und WELT, den Vorstoß als Absurdität.
Der Programmpunkt ist entweder nicht verstanden oder mit Absicht in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit gerückt worden. Zur Relativierung beschloss der Parteitag noch am Samstag Abend, eine erläuternde Ergänzung. Der Abschnitt im Programm bedeute „die Entkriminalisierung der Abhängigen und die Organisierung von Hilfe und einer legalen und kontrollierten Abgabe an diese“.
Obwohl dieser Zusatz inhaltlich nichts an der verabschiedeten Position ändert, haben sich die Medien mittlerweile wieder beruhigt. Sie berichten seit heute über die Entscheidung für das Grundsatzprogramm und würdigen dabei sogar die große Geschlossenheit der Partei.
Dies geschieht natürlich nicht ohne den Hinweis auf künftige Probleme, die die Linkspartei erwarten. Neben der Erwartung künftiger Streitigkeiten beziehen sich diese vor allem auf die anstehende Personaldebatte, auf die künftige Position von Sahra Wagenknecht und auf die Frage, ob Oskar Lafontaine in die Bundespolitik zurückkehren wird.
Friede, Freude, Eierkuchen, oder was?
Auch wenn man der Partei die Freude und Zuversicht angesichts der großen Mehrheit für das heute beschlossene Programm gönnen will: Viel Zeit zum Freuen und Feiern bleibt der Linkspartei nicht. Stattdessen heißt es jetzt, das Programm auf die Straße zu bringen und gegenüber der Parteibasis zu vertreten. Die endgültige Entscheidung über das Grundsatzprogramm liegt bei den rund 70.000 Mitgliedern. Im Rahmen einer Urabstimmung, die bis zum 18. Dezember diesen Jahres abgeschlossen sein soll, muss die Basis dem Entwurf zustimmen.
Die große Geschlossenheit der Delegierten des Bundesparteitages ist ein wichtiges Signal an die Bevölkerung und an die Parteibasis. Während sich die Regierungskoalition immer tiefer zerstreitet, die CDU von Flügelkämpfen und Kanzlerinnen-Dämmerung geprägt ist und sich in der SPD zwei immer weiter entfernte Flügel formieren, zeigt DIE LINKE Einigkeit und demonstriert, wie man unterschiedliche Auffassungen konstruktiv verbinden kann, wenn man sich darauf konzentriert, dass die Übereinstimmungen überwiegen.
Der Parteitag in Erfurt hat das Problem der sinkenden Umfragewerte nicht gelöst und das konnte er auch nicht. Er hat allerdings die Voraussetzungen dafür geschaffen, die künftige Position der Linkspartei zu stärken und sie in der öffentlichen Wahrnehmung wieder in das Licht zu rücken, das ihr gebührt:
Eine geschlossene, starke und selbstbewusste Linke, die als einzige politische Partei konsequent gegen den Wildwuchs des Kapitalismus, den Abbau der Sozialstaatlichkeit, die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen und die Rolle Deutschlands als Nation, die Kriege befürwortet, Rüstungsgüter in alle Welt verkauft und sich aktiv an Kriegen beteiligt, eintritt.
Zum Thema: Jacob Jung interviewt Bodo Ramelow, 25.10.2011 – “Drum bleibe im Land und wehre Dich täglich”