Gestern Morgen, bei Tagesanbruch, ließ mich der Ruf eines Vogels aufhorchen. Seine kräftige Stimme hob sich vom Gegacker der Elstern und dem Kreischen der Krähen ab, und sie war neu in dieser Gegend. Es war leicht den Rufer zu erspähen, er saß direkt gegenüber im Kirschbaum: ein Papagei.
Heute habe ich bei meinem Besuch im Sanatorium meinem Freund Armin von diesem Ereignis berichtet.
„Geträumt habe ich nicht, denn ich konnte ihn fotografieren“, erklärte ich. „Er ist sicher jemandem entwichen.“
„Das ist naheliegend“, entgegnete Armin. „Es gibt aber noch einige andere Möglichkeiten.“
„Ja, ich weiß, vielleicht ist er durch ein Dimensionstor gefallen“, scherzte ich.
Armin nickte ernsthaft. „Das ist gut möglich. Aber es gibt noch andere. Aber du solltest auch die letzte Möglichkeit in Betracht ziehen.“
„Die Letzte? Welches ist denn die letzte Möglichkeit, und was ist mit all denen dazwischen?“
„Die Letzte ist immer am interessantesten.“
„Und die wäre?“
„Vielleicht wollte dir der Vogel im Kirschbaum eine Botschaft überbringen.“
„Das hat er nicht getan. Gleich nachdem ich in fotografiert hatte, ist er weg geflogen.“
„Vielleicht hast du seine Botschaft nicht verstanden. Wir Menschen verstehen viele Botschaften nicht oder falsch, sofern wir sie überhaupt wahrnehmen. Hast du schon einmal die Geschichte des Paradiesvogels gehört?“
Ich winkte ab. „Über diese Geschichte haben wir doch schon oft philosophiert. Ich kenne sie zur Genüge.“
„Aber ich habe dir noch nie meine Version erzählt. Dabei geht es um die letzte Möglichkeit.“
Ich seufzte. „Wenn du unbedingt willst…“
„Es war einmal ein einsamer König in einem fernen Land. Er war mächtig, besaß viele Ländereien und regierte eine große Zahl Untertanen. Doch das Wichtigste für ihn, war sein Paradiesvogel. Dieser steckte in einem goldenen Käfig und begleitete den König überall hin. Er liebte ihn so sehr, dass er ihn nie aus den Augen ließ…“
„Seltsam“, platze ich dazwischen, „in deinen Geschichten sind Könige oft einsam.“
„Könige sind immer einsam. Doch lass mich weiter erzählen: Eines Tages begegnete er einem alten weisen Mann…“
„…und alte Männer sind bei dir immer weise. Dabei ist oft das Gegenteil der Fall: sie sind starrköpfig und verschroben.“
„…dieser sprach zu dem König: „Wieso sperrst du den Paradiesvogel in einen Käfig? Wenn du ihn wirklich liebst, schenke ihm die Freiheit.“ Doch der König entgegnete: „Das würde seinen Tod bedeuten. Draußen ist es gefährlich. Sturm und Hagel, Kälte und schnelle Falken würden ihn umbringen. Ich beschütze ihn und nehme ihn überallhin mit. Die Freiheit ist ein kleiner Preis für diese Sicherheit. Außerdem würde er nie mehr zu mir zurückkehren und ich würde ihn für immer verlieren.“ Der Alte schaute den König nachdenklich an und sagte darauf: „Freiheit oder Sicherheit, diese Wahl solltest du ihm überlassen. Lass die Türe des Käfigs offen, so kann er selbst entscheiden. Und wenn er dich auch liebt, wird er immer wieder zu dir zurückkehren.“
„Und?“ fragte ich, „wo ist dabei die letzte Möglichkeit?“
„Es war die letzte Möglichkeit. Der Vogel war am nächsten Morgen tot.“
„Wie vermutlich der entflogene Papagei auch.“
„Ja, aber er wird in Freiheit und in seinem Element sterben, nachdem er noch einmal die Welt gesehen hat.“
Heute habe ich den Papagei nicht mehr rufen gehört. Euer Traumperlentaucher