Die letzte “Begegnung” – nur Erzeuger oder doch Papa?

Frl.Null.Zwo hat am 12. Januar einen traurigen, sehr bewegenden Blog-Artikel zum Thema Abschied, Tod und Trauer geschrieben.

Ich habe diesen mehrmals gelesen und spürte selbst auch eine gewisse Traurigkeit und Erinnerung. Zunächst bedanke ich mich bei Frl.Null.Zwo für den offenen und sicherlich nicht einfachen Artikel, der mich zum Nachdenken angeregt hat. Ich wünsche Dir vieleiel Kraft in der schwierigen Zeit und den richtigen Umgang mit dem Thema sowie Menschen, die für Dich da sind.

In meiner Kindheit ist vieles nicht so gelaufen wie es sich für eine Heile-Welt-Familie gehört. Allerdings habe ich selbst wenig eigene Erinnerungen daran, sondern immer wieder tauchen nur Bruchstücke aus Erzählungen auf, die ich mit eigener Phantasie zu einer kompletten Vergangenheit ergänzt habe, so wie ich es mir im Nachhinein vorstelle. Einiges habe ich bereits in meinem Artikel “Was Du nie erleben sollst” erwähnt, möchte aber dieses Mal an einer anderen Stelle fortsetzen.

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”© Dieter Schütz / pixelio.de”

Es war ein ganz normaler chaotischer Dienstagnachmittag, weil mein Mann und ich gerade auf dem Sprung waren zu einer unserer Klausuren im berufsbegleitenden Fernstudium, das ich zwischenzeitlich guten Gewissens an den Nagel gehängt habe, weil es nichts für mich war. Mein Mann hat es inzwischen erfolgreich abgeschlossen, wofür ich ihn bewundere und wovor ich großen Respekt habe. Sowas neben Vollzeit-Job und Kind durchzuziehen ist nicht mal so mit links getan.

Kurz vor der Abfahrt klingelte mein Handy und eine nicht abgespeicherte Telefonnummer wurde im Display angezeigt. Ich dachte an eine Firma, die mir etwas verkaufen wollen, ging aber trotzdem dran. “Hallo, hier ist xyz. Du kennst mich sicher nicht mehr, aber ich bin der Schwager Deines Papas. Dein Papa ist am Wochenende gestorben und heute tot in seinem Haus gefunden worden. Du bist die älteste Tochter und damit nächste Verwandte und musst Dich jetzt um alles kümmern.”

Energie!

”© Stefanie Salzer-Deckert / pixelio.de” 

Durch meinen Kopf schossen auf einmal 1000 Gedanken wie Blitze. Der erste Gedanke, den ich auch aussprach war: “Ich hab damit nichts zu tun, wir hatten keinen Kontakt und er hat sich nie um mich gekümmert.” Das Telefonat war dann schnell beendet mit dem Hinweis, dass ich mich melden kann, wenn ich es mir anders überlege. Als wir dann von der Klausur zurückkehrten, rief ich den Schwager noch einmal an und fragte ihn noch einige Dinge, die mir wichtig vorkamen und wir verabredeten uns für das kommende Wochenende, damit ich zumindest einmal in das Haus, mein Elternhaus, in dem ich die ersten 2,5 Jahre meines Lebens verbracht habe, gehen konnte. Ich wusste, dass es keinen Kontakt zwischen den Geschwistern gab, seit ihre Mutter, meine Oma, verstorben ist. Sie hatten meinem Vater, der in seinem Elternhaus auch nach dem Tod der Mutter weiterhin wohnte, sogar Steine in den Weg gelegt, sodass er Schwierigkeiten hatte. Nach einigem Überlegen war ich mir also sicher, dass er sicherlich nicht gewollt hat, dass seine Geschwister sich darum kümmern und für ihn die Beerdigung organisieren.

Es vergingen die Tage und Nächte bis zum Besuch im Haus am Wochenende, in denen ich träumte, mich fragte, was richtig und falsch ist und in denen auch viele Erinnerungen und Erzählungen durch meinen Kopf schwirrten.

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”© Mamis Blog”

Inzwischen hatte der Schwager sich um den Bestatter gekümmert und eine Feuerbestattung beauftragt, da diese günstiger als eine Erdbestattung sei. Ich hatte mir keine Gedanken gemacht, was mir lieber gewesen sei, aber da ich nicht wusste, ob und wie viel Geld überhaupt da ist, um die Beerdigung zu zahlen, war mir eine günstige Variante erstmal auch lieber. Allerdings konnte ich daran auch erkennen, dass es ihm in erster Linie um´s Geld ging, da es eins der ersten Argumente war, die er erwähnte, dass die Feuerbestattung günstiger sei.

Als ich an dem Haus ankam, war vieles sehr vertraut, einiges ungewohnt, aber nicht ganz ohne Erinnerungen. Besonders interessant war, dass ich doch einiges wieder erkannte, was ganz weit verdrängt, aber doch vorhanden, war – und sei es nur von Fotos. Faszinierend und gleichzeitig erschreckend fand ich, dass wichtige Unterlagen, Geld, das er für einen Verein verwaltete, und Fotos, die seine nächsten Vertrauten zeigten und die er sich vermutlich noch einmal angeschaut hat, ordentlich sortiert auf dem Tisch standen – neben einer angefangenen Flasche Bier.

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”© birgitH / pixelio.de”

Ja, Alkohol hat eine nicht unbeachtliche Rolle gespielt in seinem Leben, was mir natürlich nicht gefallen hat. Allerdings konnte ich seine Hintergründe dafür in gewisser Weise akzeptieren, wenn ich auch wenig Verständnis und sogar etwas Angst vor seinem Alkoholkonsum hatte. In meinem Artikel “Was Du nie erleben sollst”, den ich an meine Tochter richte und über meine Erlebnisse berichte, könnt Ihr lesen, was ich aus meiner Kindheit wusste bzw. erzählt bekommen habe und was ich auf jeden Fall anders machen möchte. 

Je mehr ich in dem Haus sah, umso mehr spürte ich, dass es richtig ist, dass ich mich darum kümmerte. Besonders überrascht und irgendwie auch gefreut hat mich, dass ich ein Kinderfoto von mir an seiner Pinwand im Schlafzimmer gesehen habe. Ich war also offensichtlich immer präsent in seinem Leben, auch wenn er es mir wenig gezeigt hat. Wahrscheinlich fehlte ihm der Mut, immer wieder Kontakt aufzunehmen, weil ich oft gesagt habe, dass ich das nicht möchte. Die letzte Begegnung fand 1994 beim Jugendamt statt, wo er mir als erstes 50 DM gab. Das kam bei mir an, als wolle er mich kaufen und habe mich deshalb wieder abgewandt. Vielleicht hatte er es aber nur gut gemeint und es war seine Art, mir zu zeigen, dass ich ihm etwas bedeute. Dass mir regelmäßiger und ehrlicher Wille wichtiger waren, konnte er ja nicht wissen, weil er mich genauso wenig kannte wie ich ihn. Sehr oft bin ich – als ich in der Nähe war – an seinem Haus vorbei gefahren und habe mir immer gedacht: “Irgendwann wirst Du reingehen und hallo sagen; dann, wenn der richtige Zeitpunkt da ist.” Als ich 19 Jahre alt war, hat er es noch einmal probiert, indem er mich zu seinem 50. Geburtstag eingeladen hat. Ich habe abgesagt, weil ich nicht wollte, dass er auf dieser großen Feier mit seiner großen Tochter prahlt, für die er bis dahin nie etwas getan hat. Allerdings hätte ich einem Treffen zu zweit auch nicht zugestimmt – aus Unsicherheit und Angst, denn ich wusste nie, wann er getrunken hat und wie er dann reagiert. Leider wusste ich ja nur viel Negatives über ihn, wie Streit-Situationen zwischen ihm und meiner Mutter aussahen und was er danach noch alles probiert hat, um sie zurück zu bekommen.

Ich sagte dem Schwager also, dass ich mich darum kümmern werde und nahm 2 Kartons voll Ordner mit, um Unterlagen durchzuschauen, die mir wichtig erschienen. Es kam eine Menge Schreibkram und Schriftverkehr auf mich zu. Allerdings spürte ich, dass der Zeitpunkt “irgendwann” genau jetzt gekommen war. Es schien die richtige Gelegenheit zu sein, um mich mit meiner Vergangenheit und Herkunft zu beschäftigen. Was von ihm hat mich geprägt? Gibt es Ähnlichkeiten und wenn ja, welche? Wie hat er gelebt und was war ihm wichtig? War er glücklich? Mit wem hat er seine Zeit verbracht?

Die nächsten Wochen waren sowohl mit der Organisation der Beerdigung gut ausgefüllt, als auch mit diversen Gesprächen und Telefonaten von Menschen seines Umfeldes. Jeder erzählte mir ein bisschen und ich war unsicher, was ich glauben konnte und sollte. Denn alle waren auf ihren persönlichen Vorteil bedacht und wollten sich gut darstellen. Das machte es mir nicht leicht. Dennoch hatte ich ein sehr gutes Gespür, wer es wirklich ernst meinte mit meinem Vater – und damit auch mit mir. Und eine sehr schöne Erfahrung war, dass ich mich gut zurecht fand in seinen Unterlagen. Ich hatte offensichtlich seine Sortierung und Ordnung unbewusst übernommen, ohne dass ich diese jemals vorher gesehen hatte. 

Der Zeitpunkt der Beerdigung rückte näher, ich hatte 2 Gespräche mit dem Pfarrer vorher und habe sowohl die Lieder und Lesung selbst ausgewählt als auch die Fürbitten selbst geschrieben und vorgetragen. Das war sozusagen das Letzte, was ich für meinen Vater persönlich tun konnte – wenn auch nicht mehr zu Lebzeiten. Und doch bin ich davon überzeugt, dass es ihm gefallen hätte und er es von “da oben” gesehen hat. Das Thema der meisten Lieder und Fürbitten war Vergebung und Verzeihen. Denn da wir nun auf dieser Welt nicht mehr miteinander reden konnten, konnte ich es nur so hinnehmen wie es ist und vielleicht mein Bild von ihm etwas gerader rücken als es bis dahin war.

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”© www.Rudis-Fotoseite.de / pixelio.de”

Mit diesem Zeitpunkt war es natürlich nicht vorbei, sondern es kamen weitere Behördengänge, Gespräche und das Wälzen von Unterlagen auf mich zu, um das alles zu einem guten Abschluss zu führen. Dabei wurden mir leider auch immer wieder Steine in den Weg gelegt. Trotzdem war es nie aussichtslos und ich war getrieben von einer Kraft und einem Engagement, das mich nach der vollständigen Erledigung stolz gemacht hat und ich bin mir sicher, dass mein Vater das alles gesehen hat und auch stolz auf mich war.

Inzwischen ist das ganze Geschehen drumherum komplett abgehakt für mich, denn ich habe keine Kontakte mehr in sein Umfeld. Trotzdem denke ich natürlich schon immer mal wieder darüber nach, was gewesen wäre, wenn….

- wir uns doch früher getroffen und kennen gelernt hätten

- er nicht so früh gestorben wäre, sondern seine Enkelin persönlich getroffen hätte

- ich das “Irgendwann” nicht so lange vor mir hergeschoben hätte

- wir uns regelmäßig gesehen und ausgetauscht hätten

- auch er mir die Sicht meiner Kindheit aus seiner Perspektive hätte erzählen können

Es ist wie es ist und ich habe ihn in nicht mehr so schlechter Erinnerung, wie es vor seinem Tod war. Demnach war es zwar ein harter Preis dafür, dass er mich durch seinen Tod zu dieser Erkenntnis gebracht hat und doch bin ich froh, dass ich mich auf diesem Wege mit ihm als meinem Papa und meiner Vergangenheit beschäftigen konnte. 

Besonders, wenn ich an seinem Grab stehe, werden diese Gedanken ganz präsent und ich spreche sogar mit ihm. Ich bin dankbar, dass ich durch diese Situation so viel gelernt habe und meine Wurzeln entdecken durfte, von denen ich einen Zweig bis dahin so gut wie gar nicht kannte.

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”© Thomas Max Müller / pixelio.de”

Irgendwann werde ich meinen Kindern von ihrem Opa erzählen, den sie nie kennen lernen konnten. Wie ich das formuliere und was genau sie von ihm erfahren, das weiß ich noch nicht – bis dahin vergeht sicherlich auch noch etwas Zeit. In den Mami-Alben, die ich für beide Kinder geschrieben habe bzw. für die zweite Tochter noch dabei bin, wird er jedenfalls im Stammbaum erwähnt, denn er gehört dazu – sowohl zu meinem als auch zu ihrem Leben.

Danke schön, dass Ihr diesen mir persönlich sehr wichtigen Artikel bis zum Ende gelesen habt. Ich würde mich freuen, wenn Ihr in den Kommentaren hinterlasst, welche vielleicht ähnlichen oder ganz anderen Erfahrungen Ihr mit dem Thema “Tod und Abschied” gemacht habt. Wie vermittelt Ihr dies Euren Kindern, dass auch das zum Leben dazu gehört? 

Eure Mami Renate

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