Die lebendige Erinnerung – Italo Svevo und Wilhelm Genazino

 

Die lebendige Erinnerung –

Vergangenheitsbewältigung bei Wilhelm Genazino und Italo Svevo

 

Erinnerung als Schritt zum Heilungsprozess, so wird sie dem Leser in „La coscienza di Zeno“ präsentiert. Im Rahmen der Psychoanalyse ist der Protagonist angehalten, seine Autobiographie zu schreiben, um die Erinnerung aufzufrischen und so eine Gesamtvision von sich selbst zu erhalten. Die Erinnerung soll Zeno, dem „malato immaginario“1 [Übers. d. Verf.: eingebildeten Kranken], als Instrument der Selbstfindung und der Selbstheilung dienen. Diese ambitionierte Zielsetzung problematisiert allerdings von Vorneherein den Charakter der Erinnerung selbst: Ist diese etwas Statisches, etwas Unveränderbares, das die Vergangenheit mit Objektivität und somit in ihren realen Ausmaßen darstellt? Oder ist sie nicht vielmehr subjektiv, wandelbar, ja, oft sogar von Tag zu Tag verschieden? Kann sie also überhaupt als ‚Fakt’ bezeichnet werden, der Aufschluss über das Wesen einer Person (Figur) geben kann? Zeno selbst gibt innerhalb seiner (fingierten) Autobiographie zu, seine Erinnerungen umgebaut und funktionalisiert zu haben und nun nicht mehr entscheiden zu können, was an ihnen wahr und was erfunden ist:

 

„Eppure in gran parte quelle storielle erano vere. Non so più dire in quanta parte perchè avendole raccontate a tante altre donne prima che alle figlie del Malfenti, esse, senza ch’io lo volessi, si alterarono per divenire più espressive.“2

 

[Übers. d. Verf.: „Und doch waren diese kleinen Geschichten großteils wahr. Ich kann nicht mehr sagen, inwieweit, denn da ich sie vor den Töchtern des Malfenti schon so vielen anderen Frauen erzählt habe, haben sie sich, ohne dass ich es gewollt hätte, verändert, um mehr Ausdruckskraft zu bekommen.“]

 

Die Vergangenheit als reale Größe verliert somit ihre Gültigkeit: Sie existiert schließlich nur im Bewusstsein des Individuums und dort jeweils individuell und nach den jeweiligen Dispositionen verändert. Selbst das Individuum, das diese Vergangenheit in erster Person durchlebt hat, kann nicht mehr zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Die erinnerten Ereignisse sind nicht statisch, sie verändern sich bei jedem Erinnerungsprozess und passen sich der aktuellen Situation und Disposition des Individuums an. Zeno stellt diesen Prozess als etwas Unbewusstes dar, das er nicht beeinflusst, sondern das unwillkürlich geschieht: Im Prozess des Erzählens verändert sich die Erinnerung, sie wird zu einer Geschichte. Nicht mehr das Erinnern steht im Vordergrund, sondern das Erzählen, das heißt: die Wirkung auf die Zuhörer. In der Erzählung verselbstständigt sich das Sprechen, die Worte übernehmen die Kontrolle und die Geschichte selbst, und ihre Wirkung, wird wichtiger als die wahrheitsgetreue Wiedergabe der Ereignisse:

 

„Io amavo la sua parola semplice, io, che come aprivo la bocca svisavo cose o persone perchè altrimenti mi sarebbe sembrato inutile di parlare. Senz’essere un oratore, avevo la malattia della parola. La parola doveva essere un avvenimento a sé per me e perciò non poteva essere imprigionata da nessun altro avvenimento.”3

 

[Übers. d. Verf.: Ich liebte ihre einfache Ausdrucksweise, ich, der ich, wenn ich nur den Mund aufmachte, Dinge und Personen entstellte, da es mir ansonsten unnütz erschienen wäre, zu sprechen. Ohne ein Redner zu sein hatte ich die Krankheit des Wortes. Das Wort selbst musste für mich ein Ereignis sein und deshalb konnte es nicht durch andere Ereignisse in Beschlag genommen werden.]

 

Was für die Geschichten, die Zeno den Frauen erzählt, gilt, lässt sich auch auf den gesamten Roman übertragen: Zeno ‚erzählt’ in schriftlicher Form seine Erinnerungen, die dadurch zu Geschichten, also zu konstruierten, auf Wirkung ausgerichteten Texten werden. In der Tat gesteht der Erzähler gegen Ende des Romans selbst ein, wie sehr die Vergangenheit durch die Erzählung, durch die Versprachlichung entstellt wird: „Una confessione in iscritto è sempre menzognera.”4 [Übers. d. Verf.: Ein schriftliches Geständnis ist immer gelogen.] Der Erzähler verliert durch diese Diagnose stark an Vertrauenswürdigkeit, scheinen seine Erzählungen doch eher darauf ausgelegt, sich vor sich selbst und dem Leser zu rechtfertigen und zu zeigen, dass er „puro“5 [Übers. d. Verf.: rein] ist. Immer wieder unterbricht der Erzähler zu diesem Zweck die Handlung mit Selbstanalysen: Er versucht, seine Gedanken, Gefühle und Handlungen zu erklären und, vor allem, analysierend zu verstehen. Ganz deutlich und an einigen Stellen auch explizit manifestiert sich das Bewusstsein des Erzählers, dass sein Text Objekt der eingehenden Analyse des Psychoanalytikers Doktor S. sein wird und versucht, diese Analyse vorherzusehen beziehungsweise vorwegzunehmen. Diese stark ausgeprägte Konzentration auf den Endzweck des Textes verstärkt seine Konstruiertheit: Auch der gesamte Text zielt, wie Zenos ‚Geschichten’, hauptsächlich auf Wirkung ab.

Einen ähnlichen Umgang mit der Erinnerung zeigt Genazinos Protagonist des Romans „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“. Auch hier handelt es sich um verschriftlichte, in Worte gekleidete und somit zumindest bis zu einem gewissen Grad konstruierte Erzählung von Erinnerungen: W. teilt seinen Freunden Bruchstücke seiner Erinnerungen in Briefen mit, um diese vor dem Vergessen zu retten:

 

„Auch ich halte es für möglich, daß wir eines Tages ohne Erinnerung sein und vielleicht auch noch behaupten werden, wir hätten nichts erlebt und etwas Schönes schon gar nicht. Diese mögliche Leere ängstigt mich, und ich möchte mich vor ihr schützen.“6

 

Das Verschwinden der Erinnerung kommt für W. einer Bedeutungslosigkeit, einer „Leere“ gleich, der er entkommen möchte. Der Rückblick auf Erlebtes füllt also auf irgendeine Weise ein Loch, vielleicht indem er die Identitätsstiftung erst möglich macht: Er ermöglicht den Kontakt zu einem vergangenen ‚Ich’, ein Gefühl von Kontinuität also. Dieses vergangene ‚Ich’ aber ist, genau wie die Geschichten Zenos, nicht statisch, nicht erstarrt. Es handelt sich nicht um das reale ‚Ich’ aus der Vergangenheit, sondern um die Sicht, die das gegenwärtige ‚Ich’ auf das vergangene hat. W. scheint sich sehr wohl der Tatsache bewusst zu sein, dass er durch diese Wandelbarkeit der Erinnerung nicht immer kohärent wirkt: „[...] habe ich den Anspruch aufgegeben, in allen meinen Mitteilungen wiedererkennbar zu sein.“7 Dieser Satz scheint auf den ersten Blick gegen die These der identitätsstiftenden Wirkung der Erinnerung zu sprechen, doch besteht auf der anderen Seite nicht jede wirklich individuelle Identität auch aus Widersprüchen? Zu diesen Widersprüchen und zu der Unmöglichkeit einer totalen Kongruenz und Kohärenz mit sich selbst möchte W. sich bekennen. Ein Individuum unterliegt vielen Entwicklungs- und Wandlungsprozessen und diese Prozesse spiegeln sich auch in der Erinnerung wieder: Das Bild von der Vergangenheit verändert sich durch die Entwicklung des Individuums: Nimmt dieses eine neue Sichtweise, einen neuen Standpunkt, eine neue Gemütslage ein, verändert sich die Erinnerung. Auch bei Genazino haben wir es also mit einer subjektiven, wandelbaren Vergangenheit zu tun. W. macht, ähnlich wie Zeno, sowohl bewusst als auch unbewusst Gebrauch von der Subjektivität der Vergangenheit. Die bewusste Umwandlung der Vergangenheit manifestiert sich beispielsweise im Umgang mit der Erinnerung an den letzten Tag seiner Mutter:

 

„Liebe Anna, würdest du mich bitte, wenn nötig, an den letzten Satz meiner Mutter erinnern? [...] Plötzlich öffnete sie die Augen und sagte gegen die Decke: Warum werden wir nicht beschenkt?“8

 

„Als meine Mutter starb, erfand ich einen letzten Satz für sie. Sie lag tagelang ohnmächtig im Bett und sagte nichts mehr. [...] Es war für mich der bis heute unerträglichste Anblick.“9

 

In diesen Abschnitten kommt eine klare Zielsetzung zum Ausdruck. W. verändert aktiv und willkürlich seine Erinnerung: Der „unerträglichste Anblick“ wird zu der Vision einer Mutter, die im Sterben Einsichten in die Lebensrealität gewinnt und ausdrückt. W. macht aus seiner schwachen, hilflosen, bettlägerigen Mutter ein Wesen, das mit seiner Weisheit trotz der unerträglichen Situation bewundernswert erscheint. Wie Zeno funktionalisiert in diesem Abschnitt auch W. seine Erinnerung mit einer ganz bestimmten Zielsetzung: Zeno, um Eindruck zu schinden, W., um besser mit der Vergangenheit umgehen zu können. Zeno allerdings gibt vor, dass es sich um einen unwillkürlichen, quasi automatischen Prozess handele, während W. ganz klar angibt, den Satz der Mutter erfunden zu haben. Im Gegensatz zu Zeno beschäftigt W. sich sehr viel eingehender und ausdrücklicher mit der Natur der Erinnerung. Die Feststellung, dass diese wandelbar ist, ist für W. nicht nur eine Beobachtung, sondern auch und vor allem eine Überzeugung, die er in der Diskussion mit seinem Freund Werner vehement verteidigt:

 

„Im Grunde habe ich mich nur von der Idee getrennt, daß eine in allen Punkten wahrheitsgetreue Erinnerung ethischer und nützlicher ist als eine umgebaute. [...] Dabei muss sich niemand anstrengen, Erinnerungen umzuordnen oder neu zu erfinden. Es genügt, das innere Fortsprechen der Ereignisse ernst zu nehmen und ihm zu folgen. Dieses nicht zu beschwichtigende innere Weiterreden bringt den Umbau der Erinnerungen von selber hervor. Ich denke, eine umgebaute Erinnerung ist nichts weiter als ein Versteck, vielleicht das Beste, was es für uns gibt, weil sich sein Ort im Bewußtsein verbirgt, unauffindbar.“10

 

Hier wird deutlich, dass auch W. die Umwandlung der Erinnerung als natürlichen Prozess annimmt, der ganz ohne das Zutun des Individuums selbst stattfindet. Ähnlich wie bei Zeno wird die Vorstellung von einer unwillkürlichen, inneren Wandlung deutlich, die die Erinnerung verändert. W. geht in seiner Reflexion allerdings noch einen Schritt weiter: Er bezeichnet die subjektivierte Erinnerung als ein „Versteck“. Aber wovor will der Protagonist sich an einem so wenig greifbaren „Ort“ verstecken? Ein Versteck bedeutet immer auch Schutz, Rückzug vor etwas: W. schützt sich durch seine Manipulationen vor der Unerträglichkeit der Vergangenheit. Besonders deutlich wird dies natürlich am Beispiel der Erinnerung an die sterbende Mutter, aber aus diesem exemplarischen Ereignis wird nun eine ganze Erinnerungsphilosophie: Erinnerungen müssen sich verändern, um das Individuum nicht zu quälen, um ihm die Möglichkeit zu geben, aus ihnen anstatt Schmerz, Reue und Bedauern Kraft zu schöpfen. Für W. scheint die Erinnerung in ihrer Wandelbarkeit also sehr wohl eine Selbstheilungsfunktion aufzuweisen, aber auf andere Art als sie am Anfang von „La coscienza di Zeno“ propagiert wird: Nicht der analytische, objektive Blick auf die Vergangenheit, sondern das „innere Weiterreden“ der Erinnerung selbst kann schützende, heilende Funktionen haben. Wichtig ist nicht die korrekte Wiedergabe der Ereignisse, sondern die Emotion, die von der Erinnerung wachgerufen wird. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch Zeno im letzten Kapitel seiner Memoiren:

 

„Non solo il dottore ma anch’io avrei desiderato di essere visitato ancora da quelle care immagini della mia gioventù, autentiche o meno, ma che io non avevo avuto bisogno di costruire.”11

 

[Übers. d. Verf.: Nicht nur der Arzt, sondern auch ich wünschte mir, wieder von diesen kostbaren Bildern besucht zu werden, ob sie nun authentisch waren oder nicht, die ich aber nicht habe erfinden müssen.]

Die Authentizität der Erinnerung tritt in den Hintergrund, wichtig sind die Emotionen, die Zeno durch sie erlebt. Indem er während der Sitzungen der Psychoanalyse seinen Erinnerungen freien Lauf lässt, verliert er die Kontrolle über ihre Richtigkeit, aber diese Tatsache verringert keineswegs den Genuss, den er aus ihnen zieht.

In beiden Romanen findet eine sehr differenzierte Auseinandersetzung mit der Natur der Erinnerung und eine Problematisierung derselben statt. Erinnerung erscheint in beiden Romanen als subjektiver Prozess, der sich dem Bewusstsein des Individuums teilweise gänzlich entzieht und letztlich zu einer Umwandlung, einer stetigen Veränderung der Erinnerung führt. Dieser Prozess, den man auch, wie W.’s Freund Werner, als Manipulation oder Lüge bezeichnen könnte, wird aber keineswegs negativ beurteilt, sondern im Gegenteil als natürlich und auch nützlich angesehen. Sowohl W. als auch Zeno machen bewussten Gebrauch von dieser Wandelbarkeit und finden Gefallen an ihr. Der Erinnerung wird also keine objektiv-empirische Funktion zugewiesen, sie wird im Gegenteil in ihrer Subjektivität anerkannt und gewürdigt: Sie ist Teil der innersten Intimität des Individuums.

1 Svevo, Italo: „La coscienza di Zeno. Zenos Gewissen.” Zweisprachige Ausgabe, übers. von Barbara Kleiner, Frankfurt a. M. 2007, S. 462.

2 Ebd., S. 222.

3 Ebd., S. 202.

4 Ebd., S. 1080.

5 Ebd., S. 576.

6 Genazino, Wilhelm: „Das Licht brennt ein Loch in den Tag.“ Reinbek bei Hamburg, 2005, S. 7.

7 Ebd., S. 77.

8 Ebd., S. 23.

9 Ebd., S. 54.

10 Ebd., S. 183f.

11 Svevo, Italo: „La coscienza di Zeno. Zenos Gewissen.” Zweisprachige Ausgabe, übers. von Barbara Kleiner, Frankfurt a. M. 2007, S. 1100.


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