I saw a man – Owen Sheers
Jeder Mensch hat diese Erfahrung gemacht: Nur ein kurzer Moment kann eine Kettenreaktion auslösen und das gesamte Leben von Grund auf durcheinanderwerfen. Schuld muss dabei nicht unbedingt einen selbst treffen. Protagonist in I saw a man Michael Turner erlebt solch einen Moment gleich mehrmals in nur wenigen Jahren. Der Schriftsteller verliert seine Frau Caroline, als sie bei Dreharbeiten in Pakistan Ziel einer amerikanischen Drohe, die eine Rakete abschießt, wird.
Ihr gemeinsames Leben in Wales lässt Michael hinter sich und versucht, in London seine Trauer um seine Frau zu verarbeiten und neu anzufangen. Der ruhige, in sich gekehrte Mann freundet sich schnell mit der lebhaften und aufgedrehten Nachbarsfamilie Nelson an. Auf den ersten Blick scheinen die Menschen nichts gemeinsam zu haben, doch schnell zeigt sich, wie verbunden Michael der Mutter Samantha und dem Vater Josh ist. Auch zu ihren Töchtern hat er eine onkelhafte Beziehung.
Doch der Vorfall, der erneut Michaels und das der Familie aus der Bahn werfen soll, ereignet sich schon bald. Michael betritt das Haus der Nelson, obwohl sich allem Anschein nach niemand darin befindet. Hier steigt der Roman auch ein. Man weiß noch nichts über Michaels Geschichte und das Leben der Nelson. Sofort fragt man sich, was dieser fremde Mann im Haus der Nachbarn zu suchen hat. Wieso geht er nicht und sieht sich im Haus um? Was hat er vor? Doch es geht noch nicht weiter im Roman.
Spannend mit wenigen Abstrichen
In Rückblenden erfährt man zunächst, wer Michael Turner eigentlich ist: Ein erfolgreicher Journalist und Schriftsteller, der in Caroline, eine Fernsehjournalistin, die die ganze Welt bereiste, verliebt war und nun versucht, mit der Leere, die sie hinterlässt, zurechtzukommen. In weiteren Rückblenden geht es darum, wie er Halt bei der Familie Nelson findet und sie bei ihm. Josh ist ein Workoholic, Samantha eine gelangweilte Hausfrau, ihre Ehe zerbröckelt. Die Freundschaft zu Michael verschafft beiden für eine kurze Zeit mehr Zufriedenheit.
Eine weitere Rückblende handelt vom Amerikaner Daniel McCullen, der die Drohne in Pakistan steuerte und nun von Schuldgefühlen geplagt wird, weil er für den Tod von Caroline verantwortlich ist. Diese weitere, moralisch aufgeladene Ebene hätte es nicht im Roman gebraucht. Vielmehr trägt sie dazu bei, McCullens Tat zu verklären, zieht den Roman in die Länge, statt ihm Tempo zu verschaffen.
Während der Rückblenden kehrt man immer wieder zurück in die Anfangsszene, die sich nur sehr langsam entwickelt. Michael ist immer noch im Haus der Nelsons. Das Bild über ihn ändert sich jedoch: Er stellt keine Bedrohung mehr da, sondern ist ein Freund, der wohl etwas Ungewöhnliches im Haus der Nachbarn bemerkt hat. Bis er die Schuld eines Vorfalls auf sich nehmen muss.
Schuld und Lügen
Owen Sheers’ Roman I saw a man handelt von Verlust, Schuld, Geheimnissen und Lügen. Alle drei Männer im Roman machen sich auf unterschiedliche Weise schuldig und gehen anders mit ihrer Schuld um. Ist es besser ein Geheimnis und damit die Schuld für sich zu behalten, oder zu beichten, um die Last auf die Schultern anderer zu laden?
Es ist nicht nur das Thema, das den Roman so lesenswert macht, sondern auch der Aufbau und der Perspektivwechsel. Trotz Abstriche in den McCullen-Szenen schaffen die Rückblenden Spannung, die durch das langsame Erzähltempo und Voranschreiten der Einstiegsszene verstärkt wird. Weil so viel in den Rückblenden über die Figuren im Roman preisgegeben wird, verändern sich die Sympathien für die Figuren ebenso schnell wie der Wechsel der Szenen: Für Michael, den man zunächst als Bedrohung wahrnimmt, empfindet man plötzlich Mitleid, das jedoch nach dem Vorfall im Haus der Nelsons in ein merkwürdiges Befremden umschlägt. All das macht I saw a man zu einem klug aufgebauten Roman, der von der ersten Seite an mitreißt.
Owen Sheers: I saw a man. Aus dem Englischen von Thomas Mohr. Deutsche Verlags-Anstalt. 300 Seiten. 19,99 Euro.
Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Das sagt der Kaffeehaussitzer.