Die längste Nacht von Isabel Abedi

Von Paperdreams @xGoldmarie


Es sind nur ein paar Sätze in einem noch unveröffentlichten Manuskript, das Vita im Arbeitszimmer ihres Vaters findet - aber etwas an ihnen verzaubert und verstört die Siebzehnjährige gleichzeitig. Wenig später bricht sie mit ihren Freunden zu einer Fahrt quer durch Europa auf und stößt in Italien durch Zufall auf den Schauplatz des Manuskripts: Viagello, ein malerisches kleines Dorf. Der Ort strahlt für Vita eine merkwürdige Anziehungskraft aus, die noch stärker wird, als ihr der Seiltänzer Luca buchstäblich vor die Füße fällt. Auf den ersten Blick ist Luca für Vita etwas Besonderes, doch etwas an ihm und seiner Familie kann sie nicht fassen. Noch ahnt sie nicht, dass er sie auf eine Reise tief in ihre Erinnerungen führen wird, an deren Ende etwas steht, was einst in Viagello geschah - in jener längsten Nacht.

"WENN ICH DA OBEN BIN, FÜHLE ICH EHER, WAS DAS LEBEN IST. ES GIBT SCHLIMMERE ABGRÜNDE ALS DEN TOD, IN DIE ES DICH STÜRZEN KANN." SEITE 75


Es fängt als Roadtrip an, wird zum Geheimnis, ist zwischenzeitlich ein halber Thriller und mutiert schlussendlich zum Entwicklungs- und Familienroman. Eigentlich typisch Isabel Abedi, denn in ihren Büchern gibt es prinzipiell immer viele unterschiedliche Handlungsstränge und Genreeinschläge, die die Geschichten stets lebendig und facettenreich machen. Man bekommt meistens etwas ganz anderes, als man es erwarten würde und genau das macht ihre Bücher so lesenswert. "Die längste Nacht" reiht sich in dieses Schema ein, hat mich trotz einiger Abzüge von sich überzeugen können und besticht durch eine so dichte Atmosphäre, dass man sie beinahe schneiden könnte (aber dazu später mehr!). Das Buch spielt größtenteils mit und in der Vergangenheit und Erinnerungen und ist vielmehr eine Suche nach Antworten, sodass man die meiste Zeit des Romans herauszufinden versucht, was in der Vergangenheit geschehen ist. Dieses Rätselraten sorgt für einen konstanten Spannungsbogen, der dann und wann beinahe thrillerähnliche Ausmaße annimmt, und einen faszinierenden, wie vielfältigen Plot, dem man sich kaum entziehen kann.

Isabel Abedis Stärke liegt eindeutig darin, Atmosphäre zu erzeugen und das Setting so gekonnt zu beschreiben, dass man meinen könnte, man wäre mittendrin. Mit einem sehr bildhaften und detailreichen, aber niemals langatmigen Schreibstil, beschreibt sie italienische Landschaften, mulmige Emotionen und das Gefühl, unterwegs zu sein und manchmal glaubt man wirklich, die italienische Hitze auf der Haut zu spüren. Wo es ein wenig hapert, ist hingegen die Charakterzeichnung der Protagonistin, die in dem Strudel aus Erinnerungen und Vergangenheit, in der Luft bleibt und es nicht wirklich schafft, sich von dem Plot als eigenständige Figur zu lösen. Zu sehr steckt sie in der Rolle der ahnungslosen Übermittlerin zwischen Vergangenheit und Gegenwart, als das man die wirkliche Vita kennenlernen könnte. Das sorgt dann und wann dafür, dass sie blass und eindimensional wirkt, obwohl sie einiges an Potenzial gehabt hätte. Hochgradig gestört hat es mich nicht, aber es hätte der Geschichte definitiv den letzten Schliff gegeben, wenn man sich mehr mit Vita hätte identifzieren können.

Das Geheimnis, um das sich die ganze Geschichte dreht, ist insgesamt zwar atmosphärisch und spannend erzählt, doch die Auflösung war nach dem ganzen Trubel beinahe etwas enttäuschend - zumindest stellenweise, denn in manchen Dingen schafft Abedi es eben doch, den Leser zu überraschen. Einige Dinge waren mir dann aber doch zu plump und wurden im Laufe der Geschichte und gerade zum Ende hin nur wenig verarbeitet, sodass ich mit dem Schluss nicht völlig befriedigt war. Insgesamt bekommt man mit "Die längste Nacht" jedoch eine atmosphärisch dichte Geschichte, die mit einigen Genreeinschlägen sehr vielfältig und spannend ist. Eingebettet in italienisches Flair und mit dem Gefühl, unterwegs zu sein, erschafft Abedi ein faszinierendes Szenario, das zu unterhalten weiß und für einige spannende Lesestunden sorgt.