Die längste Nacht

Von Politropolis @sattler59

Kurz bevor der Schrei der Entlastung aus dem Resonanzkörper eines völlig überreizten Kollektivs erschallt, treffen bereits die nächsten Appelle ein. Waren es über die letzten Wochen die Aufforderungen, alles, was Sinn und alles, was keinen Sinn macht auf jeden Fall noch erledigen zu müssen, so sind es jetzt die Mahnungen zum Einhalten und Verharren in Stille. Ja, wer soll denn mit einem derartigen Tohuwabohu der psychischen und physischen Anspannung und Entspannung überhaupt noch klar kommen? Es ist, so scheint es, als wäre die kulturelle Vorgabe durch ihre Paarung mit dem Konsumismus zu einer idiotensicheren Anleitung zum Irrewerden gediehen.

Eine Umarmung wäre mir manchmal lieber – Foto: © S.v.Gehren / pixelio.de

Erst wird die Leistung über das mögliche Maß gesteigert, dann wird eine Energiezufuhr in Form opulenter Essen organisiert, die geruhsam mit einer kontinuierlichen Überdosis beschrieben werden kann und dann wird eine Ruhe verordnet, die nicht nur nach der gewaltigen Anspannung, sondern auch gar nicht mehr eingehalten werden kann. Der homo sapiens des digitalen Zeitalters hat es generell nicht mehr mit der kontemplativen Ruhe. Er beherrscht sie schlichtweg nicht mehr.
Wenn nichts piept, blinkt oder summt, dann fühlt er sich abgetrennt vom Weltgeschehen und laboriert an einem ganz anderen Trauma.

Ja, werden viele sagen, die Kritik an dem, was hierzulande unter Weihnachten figuriert ist so alt wie das Fest selbst und die Verfälschung der Botschaft durch die wirtschaftlichen Begleitumstände einer verfleißigten Gesellschaft mussten schon immer kritisch gesehen werden. Stimmt, aber darum geht es nicht. Vielleicht sollten wir die archaischen Botschaften, die zu diesem Feste anstehen noch einmal freilegen und die religiös darüber gezogene Legende beiseite lassen. Ganz im Sinne strukturalistischer Deutung könnten wir dann zu Sichtweisen kommen, die dazu geeignet sind, positiv weiterentwickelt zu werden.

Heute ist der kürzeste Tag des Jahres, oder anders herum, es ist die längste Nacht. Die Natur hat gemäß ihrer alles in den Schatten stellenden Dominanz wie jedes Jahr unter Beweis gestellt, dass sie bestimmten Regeln folgt. Der Mensch der Moderne in seiner psychopathologischen Selbstherrlichkeit macht daraus genau das Gegenteil. Statt sich in der Nische der Nacht Gedanken über die eigene Nichtigkeit in einem viel bedeutenderem Ganzen zu machen, bläht er sich und sein Geschehen auf, als sei das Schauspiel reversibel. Ist es aber nicht, und deshalb führt der Hype vor Weihnachten auch nie zu einer wie auch immer gearteten Befriedigung. Denn trotz aller Versuche, dieses eine Mal alles in der Griff zu bekommen und zu dominieren, muss er schon im Januar wieder feststellen, dass seine Welt so profan wie vorher weiter geht.

Alles bleibt so wie es ist und der Versuch, der Natur die Macht zu entreißen entpuppt sich als Illusion. Die Geschichte mit dem Christkind, die sich der Abendländer bei diesem dreisten Unterfangen auch noch selbst erzählt, macht die Sache nur noch erbärmlicher. Der Mensch mit seinem Denken wird nunmal nicht zum Gott, da kann er machen, was er will. Was bleibt, nach dem Putsch gegen den großen Plan, das sind schlechte Blutwerte, Übergewicht und wahrscheinlich auch noch eine Beziehungskrise. Wie heroisch! Wäre es da nicht angebrachter, in Demut die Besonderheit dieser Zeit zu genießen, die langen Nächte zu nutzen, um sich mit dem Sinn des Lebens auseinanderzusetzen anstatt unter artifizieller Beleuchtung und Beschallung durch schlechte Musik grelle Pakete durch die Nacht zu schleppen, um sie Menschen vor die Füße zu werfen, denen ein Händedruck oder eine Umarmung wesentlich lieber wäre? Dem Prothesengott geht es schlecht in diesen Tagen, er starrt verstörter denn je in die lange Nacht.

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Foto: © S.v.Gehren / pixelio.de