Die Krise der Kultur und vulgärer Optimismus – “Friedensfähigkeit als Gesinnungsmerkmal” (Teil4)


Einige Gedanken über den “Friedensbegriff” und Albert Schweitzers Erfurchtsethik (in mehreren Teilen)


Entstehung der “Ehrfurchtsethik” Albert Schweitzers.
Motive: “Die Krise der Kultur und vulgärer Optimismus”

Als der erste Weltkrieg einsetzt, muß Schweitzer seine Tätigkeit im Tropenhospital in Lambarene einstellen. Das Elsaß gehört in jener Zeit zu Deutschland, wohingegen Gabun eine französische Kolonie war. Albert Schweitzer war plötzlich Deutscher und galt also jetzt als feindlicher Ausländer. Zunächst durfte er noch seiner Arbeit nachgehen; – allerdings unter Bewachung – später wurde ihm jede Tätigkeit verboten. Da er nun Zeit zur Verfügung hatte, dachte er über ein Problem nach, das ihn seit langem beschäftigte. Gerade dieser Krieg war ein besonderer Hinweis auf den Niedergang der Kultur.

Die Krise der Kultur und vulgärer Optimismus – “Friedensfähigkeit als Gesinnungsmerkmal” (Teil4)

Albert Schweitzer: Niedergang der Kultur und blinder Fortschrittsglaube: “Krieg ist der Gipfel der Inhumanität”

Bald darauf erkannte Schweitzer, daß es wenig Sinn haben mußte, nur über den Niedergang der Kultur zu klagen. Er versuchte, einen Weg zu finden, der es den Menschen ermöglichen sollte, aufgrund von Lebensbejahung Kultur aufzubauen. Die Analyse der Situation zeigte ihm, daß im europäischen Menschen die äußere Aktivität über die innere Orientierung gesiegt hatte, daß der wissenschaftlich technische Fortschritt sich der geistig- sittlichen Kontrolle beinahe vollends entzogen hatte.

“Der Fortschrittsglaube zieht den Wagen; die Ethik braucht vorerst bloß mitzulaufen. Wo aber dann der Wagen immer schwerer und das Gelände immer schwieriger wird und die Ethik auch ihre Kraft miteinsetzen muss versagt sie, weil sie keine eigene Kraft hat. In rückläufige Bewegung kommend, reißt der Wagen den Fortschrittsglauben und die Ethik mit sich den Abhang hinunter.” (1)

Diese Situationsanalyse zeigt einen Sachverhalt auf, der heute allgemein anerkannt wird: Das technische Zeitalter kann die Probleme, die es hat nicht nur technisch lösen. Es müssen auch ethische Antworten auf die ständig wachsende Macht des menschlichen Könnens gefunden werden. (2)  Für Schweitzer ist der Kraftverlust der Ethik der entscheidende Grund im Hinblick auf die Krise der Kultur, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr verstärkt. An den Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts beobachtet er eine “Mentalität des Unfreien”, die keine Kulturideale mehr denken kann, eine Unfähigkeit zur Sammlung und Besinnung, den Verlust der Persönlichkeit zugunsten der “sich stets vollkommender ausbildenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Organisationen.” (3) ”Die Frage, was wir aus unserem Leben machen sollen, ist damit nicht gelöst, daß man uns mit Tätigkeitsdrang in die Welt hinausjagt und uns nicht mehr zur Besinnung kommen läßt”. (4)

Dies zeigt an einem äußeren Beispiel, in welcher Krise sich die Kultur befindet, einer Krise, die an der Daseinsnot der Menschen ablesbar ist. Die inneren Wurzeln der Krise versucht Schweitzer am Verlauf der europäischen Geistesgeschichte zu dokumentieren. “Die Zwecke der Menschheit in logisch überzeugender Weise in die des Unversums hineinzustellen: dies ist das Bestreben, in dem die europäische Philosophie der optimistischen Weltanschauung dient.” (5)

Schweitzer bemüht sich in einer großangelegten hystorischen Analyse zu erklären, daß das europäische Denken immer versucht hat, ein optimistisches Weltbild zu entwerfen, um daraus zu einer optimistischen Ethik zu gelangen. (6)

Dieses Denken hatte zum Ziel, den Menschen in seinem Handeln einer kosmischen Harmonie, einem kosmischen Sinn zuzuordnen. Die Zuordnung von ethischem Handeln und kosmischer Ordnung war für Schweitzer die ursächliche Begründung des europäischen Tatoptimismusses in folgender Weise : Weil der Sinn des Lebens im Sinn der Welt liegt, bedingt kosmisches Geborgen-
sein optimistisches Handeln.  Diese Begründungskette hat einen leicht einsehbaren Schwachpukt:

Die Krise der Kultur und vulgärer Optimismus – “Friedensfähigkeit als Gesinnungsmerkmal” (Teil4)

Die Sinnkrise ist zwangsläufig wenn die Menschen erkennen, dass ihre Idee vom kosmischen Geborgensein falsch ist.

Wenn die Voraussetzungen des “kosmischen Geborgenseins” sich als falsch herausstellen, kann der Mensch nicht optimistisch handeln, verliert er seine Basis. Für Schweitzer ist diese kosmische Sinn-Orientierung nicht gegeben, woraus sich für ihn der tiefe Grund der Kulturkrise ergibt. Er schreibt:

“Die Aussichtslosigkeit des Unternehmens, den Sinn des Lebens in dem Sinn der Welt zu begreifen, ist zunächst damit gegeben, daß in dem Weltgeschehen keine Zweckmäßigkeit offenbar wird, in die das Wirken der Menschen und der Menschheit irgendwie eingreifen könnte. Auf enem der kleineren unter den Millionen von Gestirnen leben seit einer kurzen Spanne Zeit Menschenwesen. Auf wie lange? Irgend eine Herabsetzung oder Steigerung der Temperatur der Erde, eine Achsenschwankung des Gestirnes, eine Hebung des Meeresspiegels oder eine Änderung in der Zusammensetzung der Atmosphäre kann ihrem Dasein ein Ende setzen. Oder die Erde selber fällt irgendeiner kosmischen Katastrophe zum Opfer. Was wir für die Erde bedeuten, wissen wir nicht. Wieviel weniger dürfen wir uns dann anmaßen, dem unendlichen Universum einen auf uns zielenden oder durch unsere Existenz erklärbaren Sinn beilegen zu wollen!
” Sie (die Natur) ist wunderbar schöpferische und zugleich sinnlos zerstörende Kraft. Ratlos stehen wir ihr gegenüber. Sinnvolles in Sinnlosem, Sinnvolles in Sinnvollem: dies ist das Wesen des Universums.” (7)

Für Albert Schweitzer ist der Mensch nicht das Zentrum des Kosmos. In dieser Form läßt sich auch eine Ethik, die sich auf einen kosmischen Rückhalt beruft, nicht begründen. So kam den Europäern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nach dieser sich unbewußt aufdrängenden Einsicht “der wahre Optimismus unvermerkt abhanden.” (8) Man flüchtet sich in einen Optimismus des Scheins, der Oberflächlichkeit. Schweitzer bezeichnet dies als “vulgären Optimismus”. (9)
Dieser “Scheinoptimismus” ist nichts weiter als eine Verdrängung der Realität, einer Verdrängung hinter welcher Enttäuschung und Pessimismus sich verstecken. Der nur noch zur Schau gestellte Optimismus, der eine Flucht in blinde Geschäftigkeit ermöglicht, entstand aus der Angst und der mangelnden Kraft, die Wirklichkeit mit neuen ethischen Zielen neu zu interpretieren. Diesem “vulgären Optimismus” gesellt sich außerdem noch “blinder Fortschrittsglaube”. Er soll als Ersatzlösung für das ehemalige Eingebettetsein und Geborgensein herhalten.
“In tausendfacher Weise hat sich die Menschheit dazu bringen lassen, das natürliche Verhältnis zur Wirklichkeit aufzugeben und ihr Heil in den Zauberformeln irgendeiner Wirtschafts- und Sozialmagie zu suchen, die die Möglichkeit, aus dem wirtschaftlichen uns sozialen Elend herauszukommen, nur immer in weitere Ferne rückt.” (10)

Der naturentfremdete Mensch hat alle Maßstäbe verloren. Er hat keine Beziehung zur Wirklichkeit. Das Verhältnis eines solchen Menschen zur Wirklichkeit gleicht dem eines Trinkers, der die Wirklichkeit nicht wahrhaben will und am nächsten Morgen gleich weiter trinkt, um dem Kater zu entgehen. Um dieses Mißverhältnis zu beseitigen, muß eine andere Sicht der Wirklichkeit gegeben werden, muß ein wahrer Optimismus hergestellt werden.
Das kann nur geschehen, in dem von der überholten Ethik der Harmonisierung und Absicherung Abschied genommen wird. Den Menschen muß eine Lebensbejahung ermöglicht werden, die sich an Idealen orientiert. Auf eine anthropozentrische Weltordnung darf man sich nun freilich nicht mehr verlassen. Es muß eine neue Ethik geschaffen werden, die weder auf “vulgärem Optimismus”, noch auf Flucht, aber auch nicht auf Pessimismus oder Resignation beruht.
Diese Ethik sollte den Menschen helfen, wieder Entscheidungen zu treffen, anstatt sich organisieren zu lassen.

Seltsamerweise gab der erste Weltkrieg, der ein äußeres Zeichen des Kulturverfalls war, Schweitzer die Gelegenheit, seine Ethik zu entwerfen. Vergeblich versuchte er über Monate hinweg, eine Antwort darauf zu finden, wie eine Grundlage für eine humane Lebensgestaltung, die durch die Selbstbejahung und die Bejahung fremden Lebens begründet ist, zu realisieren sei.

“Als Schweitzer im September 1915 eine längere Fahrt auf dem Fluß Ogowe unternehmen mußte, stand am dritten Tag seiner Reise plötzlich der Ausdruck “Ehrfurcht vor dem Leben” vor ihm.” (11)

Lesen Sie die einführenden Artikel über Albert Schweitzer, “Friedensfähigkeit als Gesinnungsmerkmal” <Teil1> <Teil2> <Teil3>
Alle Artikel über Albert Schweitzer in der Übersicht finden Sie <hier> aufgelistet

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Quellen – weiterführende Links

(1) Schweitzer, Albert: Gesammelte Werke in fünf Bänden Rudolf Grabs, (Hrsg.) München 1974, Band 2, S. 189/190
(2) vergl. ausführlicher: Lenk, Hans, Herausforderung der Ethik durch technologische Macht; Bittburger Gespräche, Jahrbuch 80/81, München 1981, S. 5-38.
(3) Schweitzer, Albert, Band 2, S. 120/121
(4) Schweitzer, Albert, Band 2, S. 371
(5) Schweitzer, Albert, Band 2, S. 131
(6) vergl. ausführl. Schweitzer, Albert, Band 2, S. 150 – 332.
(7) Schweitzer, Albert, Band 2, S.335
(8) Schweitzer, Albert, Band 2, S.133
(9) Schweitzer, Albert, Band2, S.134
(10) Schweitzer, Albert, Band5,S.505
(11) Brüllmann, Richard. Aus dem Leben und Denken Albert Schweitzers, zusammengestellt in Lambarene im September 1974 , Verlag: Paul Haupt, Stuttgart und Bern, 3. erw. Auflage 1982, Seite 13

Foto1 – Mahnmal: by wobigrafie, www.pixelio.de
Foto2 – Einbahnstraße: by Gert Altmann, www.pixelio.de

Die Grundlage für diese Artikelserie ist das Material des Herausgebers zur Wissenschaftlichen Hausarbeit zum Thema “Friedenserziehung in den Sek.II” an der Justus-Liebig-Universität Gießen, vorgelegt im Fachbereich Religionswissenschaften im Jahr 1986.

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