Die Krise

von Markus Michalek

Am Tag danach begann die Krise. Weniger mit einem Knall, wie es sich für eine Krise vielleicht gehört hätte, eher mit einem leisen „Plopp“. Leise genug, um es zu überhören, wenn man nicht genau darauf achtete.

Weder nahm Hagen M. den Staub in seiner Wohnung wahr, noch wie sich in den letzten Tagen die Post immer mehr in seinem Briefkasten angesammelt hatte; mittlerweile quoll er über, neu hinzugekommene Briefe, eine Wochenzeitung im Abo und Werbezettelchen. Aber auch ausgewachsene Werbesendungen, fein säuberlich in Plastik eingetütet, ebenso wie die wöchentliche, frei zugestellte TV-Zeitung quetschten sich in den schmalen Schlitz, krallten sich an dessen Rand fest, versuchten krampfhaft, nicht kopfüber zu Boden zu segeln. Hagen nahm das alles einfach nicht wahr. Sicher, er wusste, wann Tag war, wann Nacht. Er wusste, wann er das Läuten des Radioweckers beenden musste, um sein Tagwerk zu beginnen. Er wusste, wann die Milch im Kühlschrank abgelaufen war, wann es an der Zeit war, Pfandflaschen zurückzubringen, wann es an der Zeit war, Freunde zu treffen. Er wusste, wie oft in der Woche er bei Claudia, seiner Lebensabschnittspartnerin, über Nacht zu bleiben hatte. Der Entschluss, auf eine gemeinsame Wohnung zu verzichten, die Beziehung aber dennoch aufrechtzuerhalten, war in gegenseitigem Einvernehmen erfolgt, auch wenn Claudia ab und an immer noch bemängelte, eine derartige Getrenntheit sei ihrem Alter nicht mehr angebracht, aber schließlich hatten sie sich eben geeinigt und in den letzten vier Jahren lieferte dieses Thema keinen Anlass mehr für Streitereien.

Die anderen Dinge, den übervollen Briefkasten etwa, oder die Staubschicht, die sich erst fein, dann dicker über sein Fenster, von dort aus über das Fensterbrett und schließlich den Boden gezogen hatte, nahm Hagen allerdings nicht wahr. Er wunderte sich nicht über die Spuren im Staub, die von Tag zu Tag zunahmen und in den Umrissen seinen Füßen, oder der Form seiner Schuhe ähnelten.

Hagen M. war dennoch ein gewissenhafter Mann. Als Techniker angestellt auf der mittleren Ebene einer führenden Telefongesellschaft, arbeitete er Tag für Tag daran, die Kommunikation zwischen den Menschen zu verbessern. Er wusste um die Wichtigkeit seiner Arbeit. War Kommunikation doch alles; hieß es in den zahlreichen Meetings, an denen er bislang teilgenommen hatte, doch immer, Wir kommunizieren Menschen – wir machen Menschen glücklich! Hagen hatte immer genickt und eifrig applaudiert, wenn das Management, in seinem Fall bestand das Management aus Anne T., einer jungen, ambitionierten Frau mit äußerst schicken Businesskostümen, in den Meetings an diesen Punkt gelangte. Und abgesehen davon kündigte dieser Punkt für gewöhnlich das Ende eines jeden Meetings an.

Hagen M. war nur noch wenige Tage von seinem nächsten Geburtstag entfernt, als die Krise begann und weil sie mit einem leisen „Plopp“ und nicht mit einem lauten Knall begann, weil die Krise sein Lebensprinzip übernommen hatte, ja gestohlen hatte, wollte er zuerst nicht wahrhaben, wie sie begann, obwohl er sich selbst für einen gewissenhaften Mann gehalten hatte, dem nur wenig entging.

Der Frühling hatte zögerlich begonnen, bis in den Mai hinein war immer wieder Schnee gefallen. Nicht der dicke Schnee des Winters, eher kleinere Flocken, die Hagen und seinen Mitmenschen zu einer anderen Jahreszeit eher willkommen geheißen hätten – jetzt ergaben sie nur noch einen grauen Brei auf den Straßen, der schnell schmolz, wenn er nicht über Nacht anfror. Die Krise hatte schon längst begonnen, als Hagen an einem Montagmorgen unvermittelt ein Gefühl verspürte, das ihn in seiner Neuheit, seiner Frische und seiner Unvorhersehbarkeit derart überraschte, dass er innehielt, einfach stehenblieb. Er hatte ziemlich genau die Hälfte seines Fußwegs zur nächsten U-Bahnstation erreicht, als er seine Jacke enger um sich zog, einem anderen Passanten auswich, einen Fuß vor den anderen setzte und ein leises „Plopp“ hörte. Er sah nach unten und entdeckte, dass er eine Plastiktüte zertreten hatte. Sie lag auf einem kleinen Schneehaufen, den jemand kurz zuvor dort zusammengeschippt und festgedrückt hatte. Hagen M. hielt inne. Er fröstelte, bemerkte wie sein Puls anschwoll, wie er heftiger zu atmen begann und betrachtete zuerst verwundert, dann mit zunehmendem Entsetzen die Schwaden kalter Luft, die er aus sich herausatmete.

Hagen M. verspürte Sehnsucht. Später, als er in seinem Bürostuhl saß und am Rechner seine Symptome des morgigen Zwischenfalls in die Suchmaschine eingab, wusste er nach wenigen Klicks und der Lektüre eines ersten Absatzes, woran er litt. Sehnsucht. Er sprach dieses Wort leise aus und dachte daran, wie sehr er in seinem vorigen Leben zufrieden gewesen war. Jetzt, wo er sich erinnerte, fiel ihm kein Moment mit einer ähnlichen Empfindung wie der heutige Morgen ein. Er sagte leise, „ich habe Sehnsucht“ und ein Kollege, der nur zwei Meter entfernt ebenfalls am Rechner saß, blickte irritiert auf; fragte, was er, Hagen, denn gerade gesagt habe. Hagen M. schüttelte den Kopf, wiederholte im Stillen seine Worte, nur um überrascht zu erkennen, dass es bei diesem Satz blieb: „Ich habe Sehnsucht.“

Er starrte auf seinen Bildschirm und zwang sich, weiter zu lesen. Dort stand, dass es unmöglich wäre, das Objekt der Sehnsucht zu erreichen. Unendlich – unmöglich. Hagen M. schluckte. Dass das Scheitern daran einen Todeswunsch auslösen könne. Hagen M. verspürte Angst. Wonach sehne ich mich eigentlich, fragte er sich, wonach nur, denn wenn durch seine Sehnsucht vielleicht sein Tod ausgelöst werden würde, wollte er wenigstens wissen, wofür er sterben werde.

„Unsinn“, sagte er schließlich lauter und der Kollege, der links von ihm konzentriert am Rechner saß, lehnte sich zurück und fragte, was denn Unsinn wäre? Ohne zu Andreas L. hinüberzusehen, der wie Hagen einen Großteil seines Arbeitslebens für die Telefongesellschaft aufgebracht hatte – auf deren Fahnen der Slogan, „wir kommunizieren Menschen, wir machen Menschen glücklich!“ stand – antwortete er: „Nichts. Nichts ist Unsinn“, worauf hin der Kollege nuschelte, sich derartiges in Zukunft am Arbeitsplatz zu verbitten – es sei jetzt das zweite Mal, dass eine solche Äußerung Hagens ihn aus seiner Konzentration gerissen hätte. Hagen entschuldigte sich bei ihm. Nur um anschließend mit zusammengepressten Lippen mehrmals zu murmeln, „Unsinn, Unsinn, Unsinn!“, allerdings achtete er darauf, dass sich das Summen, das seinen Mund nun verließ, nicht bis zu Andreas L. ausbreitete. Ein kurzer, prüfender Blick zur Seite zeigte den Kollegen, der wieder in seiner üblichen konzentrierten Haltung, den oberen Teil des Rückens leicht gekrümmt – den unteren kerzengerade, vor dem Bildschirm saß. Hagen entließ ein weiteres Summen aus seinem zusammengepressten Mund und las weiter. Der Rest des Artikels befasste sich mit der Frage nach Sinn. Hagen zögerte. Musste Sehnsucht denn wirklich einen Sinn haben? Bis Mittag las er vier weitere Artikel zum Thema und summte dabei vor sich hin, blieb mit diesem Geräusch aber in einer Frequenz unterhalb jenes Brummens, das von den Computern erzeugt wurde. Andreas L. beschwerte sich nicht weiter bei ihm.

In der Mittagspause schlich er sich auf eine der zahlreichen Toiletten. Er wählte den elften Stock. Da die Kantine im vierten lag, hielt Hagen es für sehr unwahrscheinlich, dass ihm hier jemand begegnen würde. Sein Spiegelbild schien ihm nicht anders als die Jahre zuvor. Sicher, es hatte Änderungen gegeben. An den Stirnecken zogen sich die Haare immer weiter zurück. Um den Mund herum betrachtete er Spuren seines bisherigen Lebens, ebenso wie an den Augen und auf der Stirn. Falten. Das gehörte nun mal dazu. Auch der Grauschimmer seiner seitlichen Kopfhaare erstaunte ihn nicht. Die Änderungen waren schleichend geschehen, er wusste, dass er sie nie wirklich entdeckt hatte, eher registriert – wie er eben einen Fehler im Kommunikationssystem registrierte und ihn anschließend bereinigte. An seinem Äußeren fand er, hatte es nie etwas gegeben, dass bereinigt hätte werden müssen. Aber heute Morgen; dieses leichte Aufploppen der Plastiktüte, der emotionale Ausbruch, der ihn immer noch beschäftigte – was genau verbarg sich denn hinter seiner Sehnsucht? – beunruhigte ihn mehr, als die tiefen und weniger tiefen Falten in seinem Gesicht. Alles in allem fand er dennoch, dass er sich ziemlich gut über die Jahre gehalten hatte. Und Claudia bewies das. Er sah auf die Uhr.

Nach dem vierten Läuten hob sie ab. Sie sprach mit vollem Mund, er wusste, dass sie ebenfalls gerade Mittag machte. Stellte sich vor, wie sie ihm Kollegenzimmer über ihrer Plastikbox saß und den Salat verzehrte, den sie sich für gewöhnlich bereits Morgens zubereitete, zumindest viermal morgens pro Woche, wenn er neben ihr erwachte. Wie sie stilles Wasser direkt aus der Flasche trank, weil sie der Meinung war, dass Kohlensäure schlecht für die Gesundheit wäre und außerdem den Körper in Aufruhr versetzte. Anstatt „Hallo“ oder etwas Ähnliches zur Begrüßung zu sagen, fragte er direkt: „Weißt du was Sehnsucht ist?“ Am anderen Ende der Leitung hörte er sie kauen, das Kauen brach ab, vermutlich schluckte sie gerade, dann sagte sie:
„Hallo Hagen“
„Weißt Du was Sehnsucht ist?“
„Natürlich weiß ich das. Du doch auch! Warum willst du das wissen?“
Hagen schwieg. Ihr „du doch auch!“ ließ in ihm das Gefühl des Morgens wieder hochsteigen, als er mit einem Fuß auf der Plastiktüte, zertreten auf dem Schneehäufchen, seine Jacke fester um sich gezogen hatte und unvermittelt stehen geblieben war.

„Sag mir doch lieber, was Sehnsucht für Dich bedeutet“, bat er sie schließlich. Im Hintergrund hörte er, wie es in Claudias Kollegenzimmer lauter wurde, mehrere Stimmen mischten sich in das Geräusch einer geöffneten Tür, die wieder zufiel, wieder geöffnet wurde, dann sagte jemand „Hallo Claudia, trinken wir noch einen Kaffee zusammen?“, er hörte sie „Moment, ich bin am Telefon“ antworten, hörte, wie jemand „Entschuldigung, ich wollte nicht stören“ sagte. Dann war ihre Stimme wieder direkt in Hagens Ohr. Sie sprach sehr leise, sodass er sich nicht sicher war, ob er sie wirklich verstand. „Sehnsucht ist das Verlangen nach einem Ziel, auf das ich hinarbeite. Wenn ich es erreicht habe, bin ich glücklich“, sagte sie und fügte hinzu, „hör mal Hagen, hier ist grade viel los, ich kann nicht wirklich sprechen und meine Mittagspause ist fast vorbei, können wir später darüber sprechen? Wir sehen uns ja übermorgen Abend, in Ordnung?“ Fast hätte er gefragt, ob sie nicht heute Abend schon Zeit für ihn hätte, aber sie hatten sich ja erst gestern gesehen und so antwortete er nur, „Ja, bis übermorgen“, machte mit seinen Lippen ein Kussgeräusch und legte auf. Er spürte, wie er zu schwitzen begann.

Bis zum Ende seiner Mittagspause schloss er sich in einer der Kabinen ein, wo er die Wand der Toilettentür anstarrte. Er saß kerzengerade auf dem Deckel des Klosetts und versuchte, mit Atemübungen seinen Puls, der mit Beginn des Schwitzens beängstigend an Geschwindigkeit zugenommen hatte, zu regulieren. Gerade als seine Kabine verlassen wollte, betrat jemand den Toilettenraum. Hagen hielt inne, öffnete leise den Deckel zum Klosett, riss mit einigem Lärm ein paar Streifen Klopapier ab, spülte sie hinunter. Jetzt wurde die Kabine neben ihm betreten, Hagen räusperte sich und trat nach draußen, er ließ den Wasserhahn ein paar Sekunden lang laufen, betätigte den Trockner; er verließ die Toilette im elften Stock und schlich sich zurück in sein Büro.

Es fiel ihm schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren und er verließ seinen Arbeitsplatz das erste Mal, seit er bei der Telefongesellschaft begonnen hatte, um eine Stunde und fünfzehn Minuten früher, als es vom Management gewünscht wurde. Ohne zu zögern fuhr er zu Claudias Wohnung. Sie öffnete ihm, erstaunt. „Hör zu, es gibt eine Änderung“, sagte er, „ich muss wirklich wissen, was es mit dieser Sehnsucht auf sich hat.“



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