Die Krähe Karo entscheidet sich

Von Lukas Röthlisberger @Adekagabwa

An einem nebligen Novembermorgen beschloss der Kolkrabe Karo, sein Leben zu verändern. Er hatte schon lange darüber nachgedacht, was alles anders werden sollte, aber er hatte noch nie wirklich beschlossen, das auch anders zu machen.

Heute kam der Entschluss.

„Mit was soll ich beginnen?“ fragte sich Karo, „Mit dem Kurs für Blaumeisensprache vielleicht oder besser mit dem Aufräumen der Umgebung? Oder mit dem täglichen Joggen oder doch lieber mit dem Bau einer festen Wohnung?“ Karo saß in seinem großen Krähennest oben im Nussbaum und überlegte. „Lange darf ich nicht überlegen,“ sagte er sich, „nein, nicht lange, den ich habe ja heute den Entschluss gefällt, etwas zu tun.“ Und so beschloss er, mit dem letzteren zu beginnen, nämlich der neuen Wohnung. Es schwebte ihm so ein robustes Steinhaus vor, in dem man auch bei Schnee und Kälte gemütlich sitzen kann.

Also flog die Krähe los, um sich zuerst ein Bild von den Möglichkeiten zu machen. Und sie beäugte einige Jungs, die eine Baumhütte bauten und einige Mädchen, die am Waldrand ein Haus aus Zweigen flochten. Weiter flog Karo über eine Waldlichtung, wo einige Männer eine Jagdhütte aus Baumstämmen errichteten und dann über ein Dorf, wo ein Einfamilienhaus gebaut wurde. Dort setzte er sich auf den Kran und guckte zu. Der Kran drehte sich, brachte einen Stahlträger an seinen Platz und drehte sich zurück. Karo setzte sich auf den Stahlträger und schaute sich das Ganze aus der Nähe an. Und dann wurde seine Aufmerksamkeit von der Küche des fertigen Wohnhauses gegenüber in Anspruch genommen. Fast hätte er sich von einem Arbeiter packen lassen, der sich von hinten an ihn herangepirscht hatte. Mit einem lauten Krächzen konnte er noch fliehen. Er nervte sich über den Kerl. Aber die Küche ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Die Wand war gekachelt. Das wollte er auch. Aber wo kriegt er die Kacheln her?

Am Abend sah man bei der Baustelle eine einsame Krähe rumstaken und überall reinäugen. Was die wohl suchte? Offensichtlich fand sie es nicht.

Die Krähe sagte sich am nächsten Morgen „Warum eigentlich nur mit dem Bau der festen Wohnung beginnen, Entscheid ist Entscheid, ich beginne parallel mit dem Joggen.“ Und nun konnte man etwas ganz Außergewöhnliches sehen. Auf dem Waldweg rannte eine Krähe in Turnhosen und mit einer Dachmütze. Wir wissen, wer das war: KARO. Ja Karo hoffte, dass dadurch seine Beine, die ihm sehr dünn erschienen, etwas kräftiger würden, so wie bei einem Filmstar.  Am zweiten Tag rannte die Krähe auf einer anderen Strecke. Die Strecke führte an einer Grube vorbei, wo Bauschutt abgeladen wurde. Und da sah er – er traute seinen Augen kaum – eine ganze Menge Kacheln … die meisten kaputt zwar, aber einige waren auch noch ganz o.k. Karo atmete tief durch seinen schwarzen Schnabel und nun sah man etwas noch Komischeres: eine Krähe in Turnhosen, die eine Kachel schleppte. Und das sah man nun eine ganze Woche jeden Morgen und der Kachelhaufen unter dem Nussbaum wurde immer größer.

In der zweiten Woche ging es nun ums Bauen. Karo flog mit der ersten Kachel hoch zu seinem Nest und versuchte, es zu befestigen. Wie die das wohl gemacht haben, in der Küche dort? Die Kacheln wollten einfach nicht halten. Eine nach der andern fiel wieder runter und zerschlug zu allem Unglück in tausend Stücke. Und am Abend fiel Karo zudem plötzlich auf, dass seine Waden trotz des Joggens keine Muskeln ansetzen wollten. Und so kam es, dass auf dem Nussbaum ein Kolkrabe nicht schlafen konnte. Karo dachte über das Wesen des ENTSCHEIDENS nach. Und plötzlich hatte er eine Superidee. Genau als der Mond wieder zwischen zwei Wolkenfeldern erschien und in der Ferne ein Käuzchen schrie, sagte er sich: “Hei, ich entscheide mich einfach für etwas anderes.”

Und er fällte den Entscheid.

Am nächsten Morgen führte er seinen Entscheid aus: er flog große Kreise über dem Acker und rief den andern Krähen Grüße zu. Dafür hatte er sich entschieden…