Es war Liebe auf den ersten Blick. Zu Luises Kummer leider nur einseitig. Auch ein Heiratsantrag ihres Jugendfreundes Bastian kann sie nicht trösten ...
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Luise parkte ihren Wagen in der Tiefgarage und lehnte mit geschlossenen Augen ihren Kopf zurück. Sie war todmüde und gleichzeitig waren ihre Nerven zum Zerreissen angespannt. In der Immobilienagentur, in der sie arbeitete, war heute der Teufel losgewesen. Schwierige Kunden, arrogante Hausbesitzer, geplatzte Termine ... Sie liebte ihren Job. Gegen die gewöhnliche Hektik war auch nichts einzuwenden, sie mochte es, wenn es rund ging, aber an Tagen wie diesem, wenn nichts richtig lief, träumte sie von einem Achtstundentag in irgendeinem ruhigen Büro.
Es klopfte leise ans geschlossene Fenster. Als sie aufsah, beugte sich ein Mann zu ihr hinunter, den sie noch nie gesehen hatte.
"Geht es Ihnen gut? Kann ich Ihnen helfen?" Seine Stimme war angenehm tief und klang besorgt.
Hastig stieg sie aus, warf die Tür zu und lächelte etwas verlegen: "Danke, es ist nichts. Ich fühle mich nur geschlaucht von meinem Arbeitstag."
Sofort nahm sein Gesicht nur noch einen höflichen Ausdruck an: "Entschuldigen Sie, ich hätte Sie also lieber in Ruhe lassen sollen." Er zögerte kurz und fügte dann hinzu: "Aber jetzt kann ich mich auch gleich vorstellen: Ich heisse Carl Eberts und bin gestern hier ins Haus gezogen."
"Ach, dann sind Sie also mein neuer Nachbar. Ich heisse Luise. Luise Grothe." Spontan streckte sie ihm die Hand hin.
Gemeinsam gingen sie zum Fahrstuhl, der ausnahmsweise unten hielt. Und irgendwann auf der Fahrt in den sechsten Stock passierte es. Luise sah ihn aufmerksamer an. Der Mann mochte etwa dreissig sein, er war hochgewachsen und breitschultrig, hatte ein sensibles und trotzdem sehr männlich wirkendes Gesicht. Nun sah auch er sie an. Seine Augen waren sehr blau, und obwohl er immer noch eher zurückhaltend dreinschaute, durchfuhr es Luise heiss von Kopf bis Fuss. So ist das also, dachte sie fassungslos, wenn man sich auf den ersten Blick verliebt. Eine völlig verrückte Sache. Und scheinbar absolut einseitig. Jedenfalls sah ihr Gegenüber nicht so aus, als wäre ihm etwas Ähnliches widerfahren.
Oben verabschiedete er sich mit einem kurzen Kopfnicken von ihr, und sie schloss mit immer noch weichen Knien ihre Wohnungstür auf. Im selben Augenblick trillerte ihr Handy.
Es war Bastian: "Hallo Luise, ich wollte dir nur sagen, dass du bitte noch nicht essen sollst. Ich komme und bringe alles mit!"
Er legte auf, ehe sie antworten konnte, hatte nicht einmal gefragt, ob es ihr passte. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Obwohl sie sich immer freute, Bastian zu sehen, wäre sie heute tatsächlich lieber allein gewesen, hätte sich gern in einem warmen Schaumbad entspannt und es sich nachher mit einem Tablett in der Sofaecke bequem gemacht, um von Carl Eberts zu träumen ...
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Bastian kam zehn Minuten später, wie angekündigt mit einer grossen Tüte. Nachdem er Luise herzlich auf beide Wangen geküsst hatte, befahl er liebevoll-streng: "Setz dich aufs Sofa und ruh dich aus. Du siehst aus, als hättest du es nötig."
Sie gehorchte lächelnd. Bastian und sie kannten sich seit ihrer Schulzeit. Er war der beste Freund, den sie sich vorstellen konnte, der Bruder, den sie nicht hatte. Sie beschloss, ihm nachher von ihrem neuen Nachbarn zu erzählen, und von dem, was ihr passiert war. Aber erst einmal sah sie träge zu, wie er ihnen beiden einen Drink mixte.
Das Glas in der Hand, bewunderte sie seine geschickte Art, den runden Tisch festlich mit ihrem besten Geschirr, den Kristallgläsern und dem dreiarmigen Leuchter zu decken. Anschliessend verschwand er in der Küche, kam mit drei hübsch angerichteten Platten zurück. Nachdem er noch einen Korb mit verschiedenen Brotsorten und den Edelstahlkübel mit einer Champagnerflasche geholt hatte, zündete er die Kerzen an, betrachtete kritisch sein Werk und verbeugte sich in ihre Richtung: "Madame, es ist serviert!"
"Ist heute etwas Besonderes los?" fragte sie verwundert. Wortlos rückte er ihr den Stuhl zurecht, wartete, bis sie sass und schenkte Champagner ein.
"Ich komme mir vor wie in einem Dreisterne-Hotel", sagte sie gerührt.
"Kein Wunder, da arbeite ich ja auch", grinste er. Dann wurde er ernst, sah ihr tief in die Augen und hob das Glas: "Ich liebe dich, Luise. Bitte, heirate mich!"
Sie brachte keinen Ton heraus. Mit allem hatte sie gerechnet, nur damit nicht! Sie waren doch immer nur gute Kamaraden gewesen. Wann war auf seiner Seite Liebe daraus geworden?
Er gab ihr ungefragt die Antwort darauf: "Ach, Luise, ich liebe dich seit langem, aber du schienst nur immer einen guten Freund in mir zu sehen. Und jetzt habe ich beschlossen, dich einfach zu fragen. Wie soll ich sonst wissen, ob du vielleicht nicht doch meine Gefühle erwiderst?" Flehend sah er sie an.
Sie dachte, dass Bastian ein wundervoller Ehemann sein würde. Er war lieb, rücksichtsvoll und absolut zuverlässig. Mit ihren 28 Jahren sehnte sie sich danach, eine Familie zu gründen. Gestern hätte sie vielleicht noch geglaubt, seine Liebe erwidern zu können. Sie hätte es für möglich gehalten, dass eine Ehe, die einem ruhigen Hafen glich, sie glücklich machen würde. Heute konnte sie es nicht mehr. Sie war Carl Eberts begegnet. Ihr Herz gehörte ihm, selbst wenn er es vielleicht gar nicht haben wollte.
"Bastian", sagte sie und hoffte, ihm nicht allzu sehr weh zu tun: "Es tut mit schrecklich leid, wirklich, aber ich kann deine Liebe nicht erwidern."
"Es kommt vielleicht etwas zu schnell", meinte er unglücklich und hielt ihr die Platte mit dem Lachs hin, damit sie sich nahm. "Ich bin blöd, derart mit der Tür ins Haus gefallen zu sein. Das musste dich ja erschrecken. Aber ich kann warten, Luise. Vielleicht überlegst du es dir ja noch?"
"Nein", erwiderte sie behutsam. "Ich ... ich habe mich nämlich heute verliebt."
Er wurde ganz blass: "In wen? Ist es ... ernst?"
"Sehr", nickte sie. "Auf meiner Seite, wenigstens. Auf seiner, das weiss ich nicht. Er heisst Carl Eberts und ist mein neuer Nachbar."
"Du liebst ihn und weisst, nicht, ob er deine Gefühle erwidert?"
"Genau", nickte sie.
"Dir geht es also so, wie es mir mit dir ging", seufzte er halb komisch, halb traurig. "Warum ist die Liebe bloss so kompliziert?"
Sie dachte, dass das vielleicht gerade ihren Reiz ausmachte, obwohl es zugegebenerweise sehr schmerzhaft sein konnte. "Sag, Bastian", bat sie leise, "wir bleiben doch Freunde?"
"Selbstverständlich. Du kannst immer auf mich zählen."
"Danke, Bastian", sagte sie warm. "Deine Freundschaft ist mir nämlich sehr wichtig."
"Mach dir keine Sorgen. Tu so, als hätte ich nichts gesagt. Wie findest du den Lachs?"
"Himmlisch", sagte sie und lächelte ihm erleichtert zu.
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Bastian hielt sein Versprechen. Er kam nicht auf sein Liebesgeständnis zurück. Alles blieb scheinbar beim Alten. Was Carl anging, leider auch. Luise begegnete ihm ab und zu im Flur oder in der Tiefgarage. Sie hatte inzwischen herausbekommen, dass er Architekt war und sich vor kurzem selbstständig gemacht hatte. Jedesmal schlug ihr Herz wie verrückt, während tausend Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzten. Ihr Schwarm grüsste jedesmal höflich, schien aber nicht die geringste Ahnung zu haben, welchen Gefühlsaufruhr er in ihr auslöste. Es war zum Verzweifeln, fand Luise. Wie gut verstand sie jetzt Bastian!
Eines Abends, als sie nach Hause kam, schloss Carl gerade seine Wohnungstür auf. Er war nicht allein. Eine unglaublich attraktive junge Frau begleitete ihn. Er lächelte Luise zu, was er sonst kaum einmal tat, aber sie sagte sich gleich kummervoll, dass sein Lächeln natürlich nicht ihr galt. Er lächelte, weil er glücklich war. Sie grüsste zurück, nickte auch seiner Begleiterin zu und machte sich mit zentnerschwerem Herzen an ihrer eigenen Tür zu schaffen, die sie schnell hinter sich schloss. "Blödes Huhn", schimpfte sie dabei mit sich selbst, "was hast du denn gedacht? Dass ein Mann wie Carl allein ist? Dass er sich ausgerechnet in dich verliebt?"
Verzweifelt starrte sie in den Dielenspiegel. Was hatte sie schon zu bieten, verglichen mit dieser Traumkreatur mit den endlos langen Beinen, den grünen Augen und den kunstvoll gelockten tizianroten Haaren? Es gab Tage, da fand sie sich durchaus hübsch, zumindest apart, aber jetzt kam sie sich vor wie eine graue Maus. Seufzend betrachtete sie ihr glattes blondes Haar, ihre blauen Augen, die ihr viel zu klein vorkamen, im Gegensatz zu ihrem Mund, der entschieden zu gross geraten war. Und dann ihre Nase! Solche Nasen wirkten doch höchstens bei kleinen Mädchen niedlich, dachte sie.
Als es klingelte, war sie richtig erleichtert.
"Ich bin's, Bastian", tönte es aus der Sprechanlage. "Darf ich raufkommen?"
"Aber natürlich!"
Als er gross und solide gebaut vor ihr stand, kam er ihr vor wie ein Fels in der Brandung. Selten war sie so froh gewesen, ihn zu sehen.
"Wie geht's dir?" fragte er munter und küsste sie wie gewohnt auf beide Wangen.
"Gut", log sie. Aus Rücksicht auf Bastian, weil er so gut gelaunt schien, aber auch, weil die Enttäuschung noch zu frisch war und sie noch nicht darüber sprechen konnte. Vielleicht nachher, sie würde sehen ...
"Möchtest du zum Essen bleiben?" fragte sie.
"Was hast du denn da?"
Sie öffnete den Kühlschrank: "Nicht viel", gestand sie kleinlaut. "Ich hatte mal wieder keine Zeit zum Einkaufen."
"Komm, ich lade dich ins Restaurant ein", sagte er.
Sie sassen sich beim Italiener gegenüber. Bastian war plötzlich schweigsam geworden, wirkte bedrückt. Gleichzeitig kam ihr zu Bewusstsein, dass sie ihn schon eine ganze Weile nicht gesehen hatte.
"Es ist doch alles in Ordnung, Bastian?" fragte sie besorgt.
Er nickte und lächelte unwillkürlich: "Sehr gut sogar. Ich weiss nur nicht so recht, wie ich es dir sagen soll. Also Luise, ich ... ich werde heiraten."
Das war nun heute schon der zweite Schock. Und es tat viel weher, als sie gedacht hatte. Weil sie Bastian gerade jetzt so nötig brauchte. Aber sie schämte sich sofort, derart egoistisch zu sein. Sie lächelte ihm zu und antwortete herzlich: "Ich freu mich so für dich. Wer ist es denn? Seit wann kennst du sie? Du musst mir alles erzählen!"
Vor lauter Erleichterung strahlte er jetzt wie ein Honigkuchenpferd: "Sie heisst Anette, und ich habe sie bei Freunden kennengelernt. Einen Monat, nachdem du mir gesagt hast, dass du mich nicht heiraten willst. Dabei hätte ich nie gedacht, dass ich mich in eine andere Frau verlieben könnte! Anette ist im Hotelfach, wie ich. Ach Luise, ich wusste gar nicht, dass man so glücklich sein kann!"
Nachher im Bett überkam sie von neuem der Katzenjammer. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so grässlich gefühlt. Carl war anderweitig verliebt, und jetzt heiratete auch noch Bastian, ihr treuester Freund. Sie fühlte sich einsam, verschmäht, im Stich gelassen. Am liebsten hätte sie sich in den Kissen vergraben und geheult. Aber wieder rief sie sich streng zur Ordnung. Was sollte dieses Selbstmitleid? Wo blieb ihr Stolz? Ihr Mitgefühl? Gönnte sie etwa Bastian und Carl nicht ihr Glück? Es gab Menschen, denen es schlechter ging als ihr. Viel schlechter. Sie musste relativieren. Sie hatte eine hübsche Wohnung, in der sie sich wohl fühlte, eine interessante Arbeit, die sie liebte. War das etwa nichts?
Sie lud Bastian und seine Anette gleich am übernächsten Tag zum Essen ein, und es wurde ein fröhlicher Abend. Sie fand die hübsche junge Frau auf Anhieb sympathisch und freute sich für die beiden, die sichtlich sehr verliebt waren. Sie hatte gefürchtet, einen Freund zu verlieren, statt dessen hatte sie eine neue Freundin dazugewonnen.
Eine Woche später traf sie Carl in der Tiefgarage. Als sie zusammen im Fahrstuhl hochfuhren, fasste sie sich ein Herz: "Ich habe neulich Ihre Freundin bewundert. Sie könnte ein Top-Model sein, so gut sieht sie aus."
"Iris?" Er sah sie nachdenklich an, und sie fühlte, wie sie puterrot wurde.
"Wir waren zwei Jahre befreundet", brach es plötzlich aus ihm heraus. "Ich habe sie vergöttert, aber sie hat mich eines anderen Mannes wegen verlassen. Ein halbes Jahr bin ich in unserer gemeinsamen Wohnung geblieben, in der Hoffnung, dass sie zurückkommen würde. Eine halbleere Wohnung - Iris hatte ihre Sachen mitgenommen - ist etwas entsetzlich deprimierendes. Haben Sie das einmal mitgemacht? Entschuldigen Sie, natürlich wünsche ich es Ihnen nicht. Dann bin ich hierhergezogen. Als Sie Iris gesehen haben, hatten wir uns zufällig in der Stadt getroffen. Iris wollte unbedingt mitkommen, um meine neue Wohnung kennenzulernen." Er schwieg abrupt.
"Und?" hakte sie leise nach. Sicher hatten sie sich wieder versöhnt. Sie wollte es ihm wenigstens wünschen.
"Ach, ich langweile Sie doch bestimmt ...", sein Gesicht hatte sich wieder verschlossen.
"Aber nein", protestierte sie, "ganz bestimmt nicht. Erzählen Sie bitte weiter." Aber dann dachte sie bedrückt, dass er sie vielleicht neugierig fand und fügte hastig hinzu: "Natürlich nur, wenn Sie möchten."
Sie standen jetzt oben im Flur, aber er konnte sich offensichtlich nicht entschliessen, in seine Wohnung zu gehen. Zögernd meinte er: "Ich weiss nicht, warum es so gut tut, mir gerade bei Ihnen alles von der Seele zu reden. Also, Iris wollte zu mir zurückkommen, mit ihrem neuen Freund war nämlich alles schiefgegangen. Sie weinte. Noch vor einem halben Jahr wäre ich vor Mitleid und Liebe geschmolzen, aber irgend etwas hatte sich verändert. Plötzlich spürte ich genau, dass sie ihre Tränen nur als Druckmittel einsetzte. Als ich es ihr sagte, ist sie wütend geworden. Sie hat mich einen herzlosen Mistkerl geschimpft und versucht, mich mit meiner Lieblingsvase zu treffen. Dann ist sie gegangen."
Luise nahm ihren ganzen Mut zusammen: "Möchten Sie nicht zu einem Aperitif hereinkommen?"
Er zögerte, folgte ihr aber dann doch in ihre Wohnung.
"Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Zumal Sie doch einen Freund haben."
"Welchen Freund?" fragte sie, dann ging ihr ein Licht auf: "Sie meinen Bastian! Er ist ein sehr guter Freund, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Wir kennen uns seit ewigen Zeiten. Übrigens heiratet er bald."
Endlich ging ein Lächeln über Carls Gesicht. In völlig verändertem Ton sagte er: "Mir fällt ein Felsbrocken vom Herzen. Sie müssen mich für wahnsinnig begriffsstutzig halten, aber erst als ich Iris wiedersah, ist mir klargeworden, wie anders Sie sind. Sie sind so erfrischend natürlich, so ungekünstelt und herzlich. Und trotzdem schön. Ich ..."
Seine Augen waren so blau wie der Sommerhimmel, als er schloss: "Luise, ich glaube, ich habe mich in Sie verliebt."
Das Glück, das sie überflutete, verschlug ihr schier die Sprache.
"Sagen Sie doch etwas", bat er. "Vielleicht finden Sie mich lächerlich?"
Ihn lächerlich finden? Wenn er wüsste! Weil sie immer noch einen ganz ungewohnten Kloss im Hals hatte, sah sie nur zärtlich zu ihrem Traummann auf, und er brauchte sich nur ein wenig zu bücken, damit ihre Lippen sich zum schönsten Kuss ihres Lebens trafen ...
ENDE