Jeden Tag sah Johanna vom Balkon aus Schwärme von Zugvögeln am Himmel. Sie flogen zum Überwintern in den Süden. Was für eine Lebenskunst! Johanna hatte Lust, ihnen nach zufliegen: Das würde ihre erste Winterreise, aber eine Reise in die Wärme, nicht eine durch Eis und Schnee, wie bei Schubert.
Welch Zufall! Nicht nur die von Schmerzen geplagte Katrine von Hutten folgte den Zugvögeln – bei meiner letzten Lanzarote-Reise ging es mir genauso. Am Vortag in der Oktobermitte waren die Kraniche eindrucksvoll über dem Rhein-Main-Gebiet aufgebrochen, sodann ich, direkt hinterher im Metallvogel. Und ein echter Überraschungsfund, das literarische Kleinod Die Klippe begleitete meine Zeit, die auch ich, wie die Dichterin, oft im Angesicht des Risco von Famara verbrachte.
Als Katrine von Huttens stark autobiographisch geprägte Protagonistin Johanna das erste Mal nach Famara auf Lanzarote reist, sind ihre Tage bereits von den Schmerzen der Erkrankung an Multipler Sklerose gezeichnet. Die „Eiskrankheit“, zu deren Linderung sie Wärme so nötig hat, auch der Wunsch, sich Verbergen zu können vor den Menschen, locken sie an den nordwestlichen Zipfel der Insel. Ihr Bezugspunkt wird jedoch mehr und mehr der Risco, der sich den Elementen mit so überwältigend schöner Majestät entgegenstellt.
Wer hier nicht glücklich sein konnte, der war auf die falsche Welt gekommen. Die Wellen türmten sich langsam auf, bekamen spitze, dunkle Kämme, überschlugen sich schließlich, und weiße Gischt lief schäumend auf den Strand.
Das Nordprofil des Risco stieg von hier aus wie eine Parabel zum Himmel auf. Das Zusammenspiel dieser langgezogenen, steil aufgetürmten Klippe, die aussah wie eine kurz vor dem Überschlag versteinerte Woge, und der geruhsam heranbrandenden Wellen, war das Schönste, was sie sich vorstellen konnte. Und sie brauchte es sich nicht einmal vorzustellen: Es war schon da. Keine Generalprobe war nötig. Seit undenklicher Zeit eine ewige Premiere.
Auf die falsche Welt gekommen fühlt sich die im Roman zu Johanna gewordene Schmerzgeplagte dann bisweilen doch, und im Angesicht des Naturschauspiels kämpft sie um fragile Momente des Glücks, mit dem Mittel des Schreibens gegen die gleichwohl vorhandene Todessehnsucht an. Dabei schenkt sie uns Katrine von Hutten wunderbare Miniaturen, den Elementen und langsamen Tagen abgetrotzt, in einer Sprache, die mal lyrisch tanzt, mal präzise und kompromisslos reflektiert. Das Verlorene, die Einsamkeit, mischen sich mit versöhnlichen Alltagsbeobachtungen und immer wieder dem Staunen über die Farben der vulkanischen Welt.
Wer das erste mal auf Lanzarote angekommen ist, erschrickt zunächst vielleicht kurz über die karge Mondlandschaft, diesen „Steinhaufen“ am eher kalten Meer – und dann wächst für viele doch sehr schnell die Faszination einer Landschaft, die in jedem Licht ein neues, aufregendes Gesicht bekommt.
Ab nachmittags um fünf wurde das Licht bis zum Sonnenuntergang immer schöner, immer goldener. Immer plastischer zeigte die gegenüber liegende Klippe ihre farbenreiche Gestalt.
Auch ich war morgens und abends häufig staunend hier unterwegs und fand und finde hernach auf meinen Fotos das Beschriebene wieder. Die Falten wie eines Elefantenrücken zur Landseite der Klippe hin, und dann ihr kupferfarbenes Erstrahlen mit der Abendröte, war sie jemals „schwarz“?
Die langsamen, schwierigen Tage auf Lanzarote führen Johanna auch immer wieder mal zu einem Ort, dessen literaturaffines Talent ganz überraschend ist. Den kleinen, wilden supermercado von Otilia. Als ich einstmals auf Lanzarote selbst mich erzählerisch probierte – ohne allzuweit zu kommen – da war dieser Laden auch ein Fixpunkt. Vielleicht ist es der Name, vielleicht die Zeitentrücktheit – erstes Haus am Platze für kleine Einkäufe bei geringer Auswahl und einer Otilia höchstselbst, eindeutig meist mürrisch wirkend.
Sie ließ verfaulte Apfelsinen seelenruhig liegen, sortierte sie nie aus: die kaufte ja doch niemand!
Sich unter Menschen zu bewegen ist so nötig für die Einsame – auch Besuch kommt hier und da und nach wie vor weckt sie männliches Begehren mit der schmalen Gestalt der einstigen Tänzerin. Und doch wird ihr die Normalität der anderen von Winterreise zu Winterreise schwerer. Eingebettet in eine so besondere Landschaft, wird sie immer wieder und bis an den Rand des Unerträgliche zurückgeworfen auf die schneidende des eigenen Körpers.
Selbst wenn das Schmerzland sich wie andere Länder kartographieren ließe – wer wäre an einer solchen Karte interessiert? Sie wäre der beste Ladenhüter: Touristen fuhren nicht in dieses Land, und die Verbannten, die dort leben mussten, hätten alle Hände voll zu tun, um nicht zu versinken in Verbitterung und Selbstmitleid.
Als die Verzweiflung überhand nimmt, wagt Johanna ein aberwitzig wirkendes Abenteuer. Sie erklimmt den Risco, will es mit ihm aufnehmen, ganz gleich, was passiert. Erst mit dem Auto auf waghalsigen Pfaden, dann dem geschundenen Leib die letzten Meter abtrotzend.
Über immer schmaler und steiniger werdende Pisten fuhr sie oberhalb von Teguise von hinten auf den langgezogenen Rücken des Risco zu. Kam nicht weiter, musste wenden. Fand endlch einen Pfad mit tiefen Spurrinnen, der nach Westen führte, wo sie hinwollte.
Aus Schuberts Winterreise begleiten die Winterreisende die Zeilen:
Einen Weiser steh ich sehen
Unverrückt vor meinem Blick
Eine Straße muss ich gehen,
die noch keiner ging zurück.
Sie kam zurück. Und Johanna im Text überwand die Lockung, sich von der Klippe zu stürzen. Die Autorin Katrine von Hutten, deren Erfahrungen so stark mit denen der literarischen Figur verwoben scheinen, starb 2013, ausgerechnet in Frankfurt am Main. Mir war sie damals noch gänzlich unbekannt, obwohl sie 1969 bereits für ihr lyrisches Schaffen den Leonce-und-Lena-Preis erhielt. Ihre Kunst blühte nur noch im Verborgenen in den späteren Jahre, aber es gilt sie neu zu entdecken!
Dies ist keine ganz einfache Urlaubslektüre vielleicht, in ihrer Zartheit, auch darin, mitzuerleben, wie die Sprache zum Mittel des Überlebens wird, aber ein wunderbarer Begleiter auf Lanzarote, einer Insel, die auch nicht immer leicht zu nehmen ist und nicht nur Einfaches in sich birgt.
Eigentlich machen alle dasselbe: sie leben so gut sie können, jeder auf seine Art, die Morgenröte mit eingeschlossen, die in diesem Augenblick den Himmel im Osten über dem noch scherenschnittartig schwarz daliegenden Risco zu einem roten Feuerbrand entzündete! Guten Morgen, junger Tag!
- Katrine von Hutten: Die Klippe. Drei Winterreisen/Roman.
invoco-verlag: Homburg, 2007. 16,80€