Die Vajrakilaya-Tantras bilden eines der 18 Hauptsysteme des Mahayoga, das früh in der Tradition der Älteren Überlieferung (ynga ‘gyur rnying ma) der Lehren des buddhistischen Tantra in Tibet etabliert wurde. Weiters ist Vajrakilaya eine der acht Hauptgottheiten (yidam) für die persönliche spirituelle Transformation (sgrub pa bka‘ brgyad), wobei dieser Yidam speziell mit der erleuchteten Aktivität verbunden ist. In der Praxis hat Vajrakilaya die am meisten lebendige spirituelle Tradition und ist die beliebteste unter all den tantrischen Gottheiten der Nyingmas. Tatsächlich wird oft gesagt, dass Vajrakilaya der Yidam aller Ningmpapas ist. Viele tantrische Linien von Vajrakilaya werden noch immer bewahrt. Jede Generation von Lehrern setzt fort, sowohl durch die Zeichen der spirituellen Verwirklichung als auch in den erleuchteten Eigenschaften des Meisters, ihre Verwirklichung zu zeigen, indem sie anderen mitfühlend helfen, ihre Hindernisse zu beseitigen und auf dem spirituellen Pfad voranzuschreiten.
Wie Kyabje Dudjom Rinpoche – Guru Padmasambhavas Inkarnation – im vollständigen Ritualhandbuch zum Namchak Putri schrieb: „(Vajrakilayas) höchste und gewöhnliche Siddhis (Verwirklichungen) werden sehr leicht erlangt und die Macht (seines) Mitgefühls ist, verglichen mit den anderen Yidams, besonders rasch. Daher ist (er) sicherlich die einzigartige geheime Herzensgottheit von all den verwirklichten Vidyadharas (Weisheitshaltern) von Indien und Tibet.“ (Gesammelte Werke, Band Tha; Seite 80).
Vajrakilaya ist eine zornvolle Form von Vajrasattva, der reinen Vajra-Natur der Erleuchtung. In diesem Symbolik wird das Mitgefühl der Buddhas kraftvoll ausgedrückt, um auf mächtige Weise die fest verwurzelte Unwissenheit und die emotionalen Störungen, die die Hindernisse verursachen, die günstige Bedingungen überlagern und das Heraufdämmern der Verwirklichung verhindern, an der der Wurzel ausgerissen. Somit ist der Phurba oder Phurbu das Symbol des Mitgefühls, der Ritualdolch, der in die Hindernisse und die feindlichen Kräfte der Verkörperung der Unwissenheit gestoßen wird und ihr Bewusstsein in die Buddha-Felder übertragen wird. In den oftmals wiederholten Worten der Wurzelverse des Kilaya, „durchtrennt der Vajra-Zorn allen Haß“ (rdo je khros pas zhe sdang gcod). Das negativste und am meisten zerstörende emotionale Gift von Hass und Aggression wird gänzlich besiegt und durch den mitfühlenden erleuchteten Zorn der Gottheit, die unsere eigene reine innere Natur ist, unbefleckt von den Wirren der emotionalen Störungen, verwandelt. Daher ist diese Praxis einfach sehr wirksam im Unterwerfen aller Störungen von Ärger, Täuschung, Eifersucht, Stolz, Leidenschaft usw. Ebenso wie dies ein Pfad für die spirituelle Entwicklung ist, ist die Praxis des Vajrakilaya wirkungsvoll im Befrieden von gesellschaftlichen Konflikten und Störungen, und ebenso bei der Reparatur der Brüche in den tantrischen Samayas wie z.B. in den Beziehung in der Gemeinschaft der Dharma-Praktizierenden.
Neben den besonderen spirituellen Eigenschaften dieser Gottheit fand Vajrakilaya in der Nyingma-Praxis eine weite Verbreitung, da er berühmt dafür ist, die erwähle Gottheit von Padmasambhava, dem „kostbaren Lehrer“ – Guru Rinpoche – zu sein, der als der Gründer der Älteren Überlieferung in Tibet angesehen wird. In einer Übertragungslinie der tantrischen Hauptgottheiten übertrug die Khandro Lekyi Wangmo (las kyi dbang mo) – die Königin der Aktivität – auch bekannt als Dewä Khorlo (Kreis der Glückseligkeit) die acht Sadhana-Zyklen an die acht Vidyadharas (Wissenshalter). Sie war eine Schülerin der Gottheit Vajrakumara, dem jugendlichen Vajra, der Vajrakilaya selbst ist. Bei dieser Gelegenheit erhielt Guru Rinpoche an der Sitavana-Leichenstätte speziell die Übertragung von Vajrakilaya und nach dem Erhalt der Ermächtigung gab ihm Khandro Wangmo den Namen Padmasambhava. Er sagte auch, die Vajrakilaya-Lehren bei anderen Gelegenheiten von anderen Quellen erhalten zu haben.
Eine weiterer Bericht handelt davon, wie Padmasambhava die Texte des Vajrakilaya-Tantras, genannt „Vidyottama la ‘bum sde“ sammelte und durch die Praxis von Vajrakilaya in Yangleshö (Nepal) Verwirklichung erlangte und wie er dann diese Textsammlung in Tibet überlieferte. Diese Schilderung findet sich in vielen Texten und kürzlich wurde dies auch in einem handgeschriebenen Büchlein, das durch moderne Untersuchungen auf das späte 10. Jhdt. datiert wurde, gefunden.
Eine immer wiederkehrende Erzählung in der Literatur über Padmasambhava und Vajrakilaya ist, dass er die Übertragung vom indischen Meister Prabhahasti, zusammen mit Vimalamitra und dem Newari Shilamanu erhalten hat. Jeder von ihnen erlangte sein eigenes Verständnis, was sie dann in einem maßgeblichen Vajrakilaya-Zyklus kombinierten.
Jedoch nicht nur Guru Rinpoche und die Meister Indiens und der Newari sind mit Vajrakilaya besonders verbunden. Khandro Yeshe Tsogyal, berühmt in allen traditionellen Berichten als die tibetischen Hauptschülerin und Gefährtin von Guru Rinpoche, hat Vajrakilaya als ihren Haupt-Yidam genommen und durch diese Praxis in Kurteo, Senge Dzong (Bhutan), Erleuchtung erlangt. Einige der anderen nahen Schüler von Guru Rinpoche sind ebenfalls wegen ihrem Fokus auf Vajrakilaya und durch das Zeigen der Zeichen des meditativen Erfolgs als Ergebnis bekannt.
So bedeutend sind die frühen Vajrakilaya-Traditionen, das in der längsten Ausgabe der Älteren Tantra Sammlung (rNying ma‘i rguyd ‘bum) es ungefähr 70 Vajrakilaya-Texte mit insgesamt 4.000 Seiten gibt. Die Dudjom-Sammlung der historisch übermittelten Lehren (bKa‘ ma) hat 84 Vajrakilaya-Texte mit insgesamt 2.692 Seiten. Die spirituelle Wirksamkeit des frühen mündlichen Erbes mündete auch in Schlüsselpassagen der heiligen tantrischen Liturgien, die durch diese Texte bewahrt und innerhalb der weiterhin lebendigen Tradition der Vajrakilaya-Praxis verbreitet wurden.
Die Schatztexte (gter ma) des Vajrakilaya ergänzen die historisch überlieferten Vajrakilaya-Tantras und Kommentare. gTer mas oder Entdeckungen von Texten stellen eine direkte Verbindung zwischen berühmten Gruppe von Guru Rinpoche und seinen unmittelbaren Schülern mit den Meistern späterer Generationen, die den Text entdeckt haben, her. Der Entdecker wird als eine Wiedergeburt von jemandem aus dem ursprünglichen Kreis der erleuchteten Schüler angesehen, der bestimmt dafür war, sich zu erinnern und die Praxis zu spätererZeit, wenn sie am meisten gebraucht wird, wieder zu entdecken. Fast alle der vielen Meister, die Textentdeckungen gemacht haben, haben auch einen Vajrakilaya-Zyklus entdeckt. Daher hat die Tradition der Schatztexte noch eine weitere Zahl an Texten dazu bekommen. Eine Sammlung von Vajrakilaya-Texten wurde von Zenkar Rinpoche im Jahre 2002 veröffentlicht mit sowohl historisch übermittelten Werken wie auch Schatztexten und diese umfasst über 1.200 Texte in 41 Bänden. Dennoch beinhaltet diese Sammlung nur eine repräsentative Auswahl der gewaltigen Schriften zu Vajrakilaya.
Aus den vielen wunderbaren Überlieferungen zu Varjakilaya ist der Dudjom Namchak Putri (Die Razierkilinge aus Meteoriteisen, die Mara besiegt) eine der längsten und tiefgründigsten. Sie beinhaltet den vollen Segen der Praxislinie. Sie ist eine unmittelbare spirituelle Enthüllung der besonderen Kraft für unsere Zeit. In ihr verbinden sich die heiligen Worte aus den Vajrakilaya-Wurzeltantras mit Schlüsselteilen der Hauptlinien von Vajrakilaya und der erleuchteten Wissenschaft der Vajrakilaya-Kommentare.
Kyabje Dudjom Rinpoche, der der größter Tertön unserer Zeit ist, erhielt das Shokser (gelbe Schriftrollen, auf denen ein Tertön die Entdeckungen schreibt) in seiner Kindheit. Im Alter von 19 Jahren schrieb er Kommentare zu Dzogchen. Er erhielt seine eigenen Geist-Schätze einschließlich der Zyklen zu den drei Wurzeln des Vajrayana – dem Guru, der Yidam-Gottheit und der Dakini. Kyabje Dudjom Rinpoches Entdeckungen sind weithin bekannt auf die Tiefe ihrer Bedeutung und ihrer zusammengefassten Formulierungen. Mit einer Linie direkt von Guru Rinpoche her, enthalten sie enormen Konsekration und Segenswünsche. Sie sind umfassend im Wirkungsbereich mit vollständigen Zyklen sowohl der männlichen wie auch der weiblichen Aspekte der tantrischen Tradition. Gleichzeitig sind sie kurz und bündig, indem sie die wesentlichsten Punkte der riesigen vielbändigen Sammlungen der Vajrayana-Lehren zusammenfassen.
Kyabje Dudjom Rinpoche praktizierte intensiv den Vajrakilaya von Heruka Dudjom Lingpa und meisterte diesen. Und im Zuge dessen hatte er seine eigene Vajrakilaya-Entdeckung. Weiters meisterte Kyabje Dudjom Rinpoche viele andere Offenbarungen der Nyingma-Tradition und wurde ebenfalls ein bekannter Gelehrter des Erbes der Schriften und Kommentare. Als gewähltes Oberhaupt der Nyingma-Schule in der Zeit der größten Krise des tibetischen Buddhismus im 20. Jhdt., übernahm Kyabje Dudjom Rinpoche die Verantwortung für das Erhalten, Bearbeiten und Entwickeln der Nyingma-Schriften und des Korpus der Praxistexte. Diese Arbeit beinhaltete das Bearbeiten und das Verfassen neuer Texte für viele der Haupttraditionen von Vajrakilaya. Im Zusammenstellen des Dudjom Namchak Putri und im Verfassen seiner eigenen Beiträge dazu, bezog sich Kyabje Dudjom Rinpoche auf seine gewaltige erleuchtete Gelehrtheit und Praxiserfahrung in den Vajrakilaya-Traditionen, ebenso auch auf seine eigene Weisheit und die Vision der ursprünglichen Schatzenthüllungen. Kyabje Dudjom Rinpoche verfasste über zwei Textbände zum Namchak Putri, die ganzen Bände Tha und Da seiner gesammelten Werke, ebenso ein Teil des Bandes Za.
Der Dudjom Namchak Putri beinhaltet besonders ausführliche Belehrungen zu den vier Arten des Durchstechens mit Phurba (phur bu thal ‘byin bzhi), die die zusammengefasste Essenz aller Vajrakilaya-Überlieferungen sind. Der „Phurba des reinen Weisheitsgewahrseins“ (rig pa ye shes kyi phur bu) wird ausdrücklich in der Dzogchen-Sektion der Sammlung dargelegt. Der „Erschienene Phurba des Mitgefühls“ (thugs rje sprul pa‘i phur bu) wird im Ritualhandbuch und seinen langen Kommentaren. Kyabje Dudjom Rinpoche ist ausgesprochen bekannt für seine ausführliche Behandlung der Erzeugungsstufe in dieser Praxis. Der „Phurba des geheimen Bodhicitta“ (gsang ba byang sems phur bu) erstreckt sich in seiner gesamten Länge auf den Yoga der subtilen Kanäle und Energien (rtsa rlung). Diese drei Arten des Durchstoßens mit dem Phurba sind alle auf das Hauptritual (stod las) zum Erlangen der Erleuchtung gerichtet. Das letzte Durchstoßen mit dem „symbolischen materiellen Phurba“ (mtshan ma rdzas kyi phur bu) ist auf die Befreiung der feindlichen Kräfte und Hindernisse gerichtet und findet sich sehr detailliert im Abschnitt des Ergänzungsrituals (smad las) der Sammlung.
Diese Darstellung stammt ursprünglich vom Kloster Jangsa Dechen Chöling aus Kalimpong (2010). Freundlicherweise von Cathy Cantwell zur Verfügung gestellt.
Vom Ngak‘chang Rangdrol Dorje im Jahr des Eisen-Hasen ins Deutsche übersetzt.