„Die kleinere Sünde“ von Wolfgang Bergmann

Von Madication

Einen günstigeren Zeitpunkt für diese Buchveröffentlichung hätte es kaum geben können: Just als sich Mitte März die bis heute aktuelle Kirchenkrise einem ersten Höhepunkt näherte – der dringenden Frage, ob vielleicht sogar der heutige Papst Fälle von priesterlichem Kindesmissbrauch gedeckt hat –, kam Wolfgang Bergmanns Romanerstling Die kleinere Sünde heraus. Ein Glücksfall für den Autor und seinen Verlag, denn so etwas lässt sich schlecht planen, wenn man die Vorlaufzeiten einer ordentlichen Buchproduktion bedenkt. Der Hinweis auf dem Buchumschlag, dass die vorliegende Handlung „frei erfunden“ sei, „soweit sie nicht auf Tatsachen beruht“, kann allerdings nicht von der Vermutung eines Schlüsselromans ablenken, in dem – einmal mehr, einmal weniger offensichtlich – in reale Skandale verwickelte Personen beschrieben sind. „Im Grunde sind Bücher etwas für den Nachlass“, heißt es in diesem Sinn bereits auf der ersten Seite, „du machst dir nur Schwierigkeiten, wenn du publizierst, solange du lebst. Alle, die du kennst, werden versuchen, sich wiederzufinden.“

Da gibt es etwa „den Sexual-Onkel für die bunten Seiten am Wochenende“, bei dem man an Krone-Lady Gerti Senger denken mag; und hinter dem zentralen, traurigen Bösewicht, einem ehemaligen „skurille[n] Religionslehrer“, inzwischen Erzbischof und Kardinal, ist unbedingt Hans Hermann Groër zu vermuten, der, mit massiven Missbrauchsvorwürfen konfrontiert, nicht zuletzt durch sein Schweigen schon vor 15 Jahren einen Aufstand der österreichischen Katholiken in Kauf nahm. Auch der Name „Kummermund“, mit dem der fiktive Kardinal aufgrund seiner Physiognomie von den früheren Schülern bedacht worden ist, und der massive Schutzwall, welchen die Kirche in dem Roman für ihren guten Hirten auffährt, lassen an die vergangenen, so realen Geschehnisse denken.

Im Mittelpunkt der Handlung steht jedoch Norbert Kranzl, Journalist und Absolvent des Knabenseminars, in dem „Kummermund“ sein Unwesen trieb und sich an mehreren Schützlingen vergangen hat. Als Redakteur für die Chronik-Seiten vom Tagesgeschehen unterfordert und von zwanghaft-originellen Recherchen im Rotlichtmilieu genervt, reagiert Kranzl besonders sensibel, als ein ehemaliger Mitschüler – der „Sexual-Onkel“ – beim Klassentreffen vom erzwungenen fleischlichen Kontakt mit der Vertrauensperson erzählt.

Der Aufdecker findet weitere Betroffene, häuft Beweismaterial an, doch kurz bevor seine Geschichte veröffentlicht wird, zieht der Kronzeuge seine Aussage zurück. Frustriert bastelt Kranzl eine fiktive Rahmenhandlung – einen Krimi –, in die er das Material einarbeitet, und löst damit ein gesellschaftliches Erdbeben aus, da die Kirche wie gewohnt reagiert: Sie versucht zu vertuschen und Diskussionen abzudrehen. In der Folge wird der Journalist und Neo-Schriftsteller, der sich nebenbei mit massiven privaten Problemen konfrontiert sieht, selbst zum Gejagten.

Es sei an dieser Stelle nicht viel mehr von der Handlung verraten, aber eins ist gewiss: Bergmann – als Absolvent der Theologie und durch seine frühere Tätigkeit als Kommunikationsdirektor der Erzdiözese Wien ein Kenner der Materie –, legt mit Die kleinere Sünde einen Kirchen-Thriller vor, der sich vor den Bestsellern eines Dan Brown nicht zu verstecken braucht. Zwar kann es der vorliegende 180-Seiter nicht mit den fetten Wälzern des amerikanischen Esoterik- und Verschwörungs-Romanciers aufnehmen; was jedoch Stil, Witz, Charakteren, Spannung und Plausibilität (!) betrifft, hat Bergmann die Nase vorn.

Nicht zuletzt die theologisch-philosophischen Diskussionen, die aus dem E-Mail-Verkehr Kranzls mit einem in Rom sitzenden Bischof entstehen, machen dieses Buch lesenswert. Große Themen wie die Erbsünde, das schwierige Verhältnis zwischen Christen und Juden, die Menschwerdung und Dreifaltigkeit Gottes sowie der Zölibat werden facettenreich abgehandelt. Kein Jahrhundertbuch, aber ein hintergründiger Roman mit überraschenden Wendungen. Kurz gesagt: Eine empfehlenswerte Urlaubslektüre für tief- wie für ungläubige Leser gleichermaßen – und wohl noch längere Zeit brandaktuell.

Czernin Verlag, Wien 2010

184 Seiten / 19,80 Euro