Die Kinder sollen es beim Lernen leichter haben – ein RANT

Statt wirkliche Leistungen einzufordern, werden Bildungsstandards aufgeweicht und virtuelle Leistungen gemessen. Beispielsweise werden, um bei PISA gut abzuschneiden, Lehr- und Arbeitsbücher auf PISA-taugliche Inhalte und Fragenkataloge ausgerichtet. […] Oder es werden […], um nicht die Schule schließen zu müssen oder um nicht “Opfer” elterlicher Klagewut zu werden, systematisch Leistungsstandards gesenkt, die Notengebung frisiert und auf diese Weise die Übertrittsquoten auf höhere Schulen künstlich gesteigert.

(Quelle: »Der schiefe Turm von PISA« – Telepolis)

Ich frage mich manchmal ernsthaft, wie wir überhaupt groß werden konnten. Wie konnten wir nur Kindergarten, Schule, Ausbildung unbeschadet überleben?

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Im Kindergarten waren wir zwanzig Kinder in unserer Gruppe. Zwanzig! Mit zwei Erzieherinnen. Wir haben uns weder gegenseitig umgebracht, noch sind wir im Kindergarten verwahrlost. Die Tage waren klar strukturiert. Es gab pädagogische Einheiten, freies Spielen, Singen, draußen Spielen (im Sommer, wie im Winter). Alle mussten zur gleichen Zeit Mittagsschlaf machen.

Und ich wurde regelmäßig ermahnt, da ich keinen Mittagsschlaf mehr gemacht hab. Also lag ich eine Stunde da und hab die Decke angestarrt. Heute lächle ich darüber.

Die Rollen im Kindergarten waren klar verteilt. Dort die Erwachsenen, wir hier die Kinder. Wenn unsere Eltern uns an der Tür abgegeben haben, hörte ihre Erziehung auf und es begann die Erziehung im Kindergarten. Und unsere Kindergärtnerinnen waren Erzieherinnen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie waren nicht unsere Kumpels. Und wir nicht auf Augenhöhe mit ihnen. Unsere Eltern wären nicht im Traum auf die Idee gekommen, sich in die Erziehung des Kindergartens einzumischen, gar die Fähigkeiten der Kindergärtnerinnen in Frage zu stellen.

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In der Grundschule hatten wir vom ersten Tag an Frontalunterricht. Der Lehrer stand vorn. Wir saßen ruhig auf unseren Plätzen, haben zugehört, später mitgeschrieben. Wenn wir was zu sagen hatten, haben wir uns gemeldet. Gesprochen haben wir, wenn wir dazu aufgefordert wurden. Haben wir getuschelt wurden wir ermahnt. Gruppenarbeit war hin und wieder auch Teil des Unterrichts. Freies Arbeiten gab es nicht.

Immer mehr Schüler in Deutschland lernen keine Schreibschrift mehr. Stattdessen wird ihnen eine neue Grundschrift beigebracht, die der Druckschrift ähnelt.

(Quelle: Schreibschrift stirbt aus – faz)

Schreiben lernten wir in Schreibschrift. Und Orthographie war vom ersten Tag an Bestandteil des Unterrichts. Und auch ohne, dass uns jemand gesondert Druckbuchstaben beigebracht hätte, konnten wir Bücher lesen. Verrückt. Später modifizierten wir unsere Schrift eigenständig und entwickelten so unsere Handschriften.

Die Orientierungsarbeiten waren für uns keine kleine Prüfung. Sie waren anders als die üblichen Klassenarbeiten. Aber keiner meiner Mitschüler oder ich waren sonderlich gestresst davon. Auch mussten wir nicht wochenlang zuhause sitzen und auf die Orientierungsarbeiten pauken – oder schlimmer noch Nachmittage in der Nachhilfe verbringen. Niemand verlangte von uns – entgegen unserer Fähigkeiten – wir müssten unbedingt aufs Gymnasium gehen. Niemand erklärte uns »Gymnasium oder Hartz IV«.

Empfahl der Lehrer am Ende der Grundschule die künftige Schulform, dann wurde diese Beurteilung von den Eltern nur in Ausnahmen und in Rücksprache mit dem Lehrer übergangen. Und niemand schickte einen zur Hauptschule empfohlenen auf ein Gymnasium.

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Ich übrigens wurde für die Hauptschule empfohlen. Und meine Eltern vertrauten auf das Urteil des Lehrers. Das nämlich lautete dass ich ein hundefauler Schüler sei und in Anbetracht dessen vermutlich auf der Hauptschule ganz gut aufgehoben sei. Ich könne später durchaus immer noch die mittlere Reife machen. Ja, er hatte verdammt nochmal recht.

Wir waren Hauptschüler. Aber wir waren nicht der Bodensatz der Gesellschaft. Wir waren größtenteils Kinder aus gut situierten, bürgerlichen Familien. Aus normalen Elternhäusern. Bis auf wenige Ausnahmen gingen wir alle später selbstbewusst unseren Weg. Einige – mich eingeschlossen – studierten später. Andere ergriffen handwerkliche Berufe. Wieder andere machten noch die mittlere Reife und lernten einen kaufmännischen Beruf. Für uns war Hauptschule kein berufliches Todesurteil.

Wir hassten die Schule und liebten unsere Freizeit. Und wenn wir Freizeit hatten, hatten wir wahrlich freie Zeit.

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Schulbücher bekamen wir von der Schule geliehen. Wir haben auf diese Bücher aufgepasst. Nichts hineingeschrieben. Sie nicht mutwillig beschädigt oder zerstört. Haben wir doch ein Buch durch unsere Schludrigkeit verloren oder kaputt gemacht, bekamen wir zuhause eine Standpauke und mussten die Bücher von unserem Taschengeld ersetzen.

Wenn wir etwas nicht verstanden oder im Unterricht nicht richtig mitkamen, kümmerten sich die Lehrer um uns. Sie erklärten, sie modifizierten ihre Erklärungen so lange, bis es alle verstanden. Es gab ausreichend Lehrer an unserer Schule. Die Anzahl der Fehlstunden pro Schuljahr konnte man an einer Hand abzählen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, die Leistungsstandards nach unten anzupassen, wenn wir den Schnitt bei einer Klassenarbeit versaut haben.

Haben wir ‘ne sechs geschrieben, war nicht das Schulsystem, die pädagogischen Fähigkeiten unserer Lehrer oder was weiß ich schuld. Sondern wir. Höchstselbst. Weil wir offensichtlich nicht genug gelernt hatten um wenigstens eine vier zu schreiben. Oder nicht rechtzeitig in der Schule oder Zuhause um Hilfe baten.

Zuhause, im Kindergarten wie in der Schule lernten wir uns unterzuordnen. Das hieß nicht, dass die Erwachsenen uns respektlos behandelten. Auch lernten wir vor Erwachsenen Respekt zu haben. Wir lernten, dass die Welt sich nicht um uns dreht. Wir lernten, dass wir immer in irgendeiner Wechselwirkung mit unserer Umwelt stehen. Und wir lernten, das unser Verhalten Konsequenzen hat.

Fanden wir das scheiße? Na klar. Wurden wir deswegen zu unselbständigen, unkritischen, quasi lebensunfähigen Homo Consumens, die ohne Selbstwertgefühl oder Selbstbewusstsein, unreflektiert in einer kommerzialisierten Welt dahinvegetieren? Nein! Wir wurden selbstbewusste, junge Erwachsene. Die wenigen Ausnahmen hatten es schon von zuhause aus schwer. Hätte man sich mehr um diese Ausnahmen kümmern sollen? Sicher!

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Lehrer waren für uns Respektspersonen deren Worte Gewicht hatten. Trafen wir einen Lehrer außerhalb der Schule, haben wir ihn gegrüßt – unaufgefordert und als erste. Auch außerhalb der Schule waren sie unsere Lehrer. Und später, als halbstarke, haben wir die Zigaretten schnell hinterm Rücken verschwinden lassen oder weg geworfen, wenn uns ein Lehrer über den Weg lief. Hätte er uns beim Rauchen oder Biertrinken erwischt, hätten es postwendend unsere Eltern erfahren. Und unsere Eltern hätten unser Verhalten nicht mit »naja, er ist halt schon sehr eigenwillig« versucht zu entschuldigen.

Hatten wir etwas ausgefressen, durften wir uns über Strafarbeiten, Nachsitzen oder Gespräche mit unseren Eltern freuen. Und wenn unsere Eltern Wind von dem Blödsinn bekamen, den wir so in der Schule angestellt hatten, durften wir uns dazu erklären. Wurden angehört. Und mussten uns dann ein »Selbst Schuld. Dein Lehrer hat recht und jetzt geh auf Dein Zimmer!« anhören.

Kein Elternteil wäre je auf die Idee gekommen Partei für ihre Kinder zu ergreifen, wo klar die Kinder den Mist gebaut hatten und sie nun die Konsequenzen zu tragen hatten. Kein Elternteil wäre je auf die Idee gekommen, die Schule zu verklagen. So etwas gab es – wenn überhaupt – nur in Ausnahmefällen. Und keiner davon fand in meinem Dunstkreis statt.

Wir fühlten uns von der Schule manchmal ein wenig gestresst, aber nie wirklich überfordert. Stattdessen wuchsen wir an den Aufgaben und an den Ansprüchen, die das System, die unsere Lehrer, die unsere Eltern an uns stellten. Wir wuchsen und wurden besser. Wir wurden selbstbewusste, ganz ordentlich gebildete, selbständige junge Erwachsene, die bereit waren, ihren Platz in der Welt zu suchen und zu finden. Wir hatten ein gesundes Halbwissen, ein vernünftiges Allgemeinwissen und eine gute Allgemeinbildung genossen. Wir haben Goethe gelesen und Gedichte besprochen. Wir haben Gedichte stupide auswendig gelernt. Wir haben Bach und Brahms im Musikunterricht durchgenommen. Und wir haben es gehasst. Und heute bin ich dafür dankbar. Ich liebe Bach! Und Beethoven.

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Der wohl beschissenste Job, den man auf dieser Welt annehmen kann, ist Bildungspolitiker. Zehn Menschen haben fünfzehn verschiedene Meinungen dazu. Jeder argumentiert nur mit Einzelfällen und jeder glaubt im Besitz der allein selig machenden Wahrheit zu sein. Und der Bildungspolitiker muss aus dieser Melange versuchen Veränderungen zum Wohle der Gesellschaft zu erwirken und an alle Kinder denken. Gleichzeitig sitzen dem Bildungspolitiker die Schulbuchverlage im Nacken und wollen den Buchbestand am liebsten viermal im Jahr komplett neu auflegen um ja gut Kasse zu machen. Und dann noch die Lehrer, die sich in ihrer Arbeit allein gelassen fühlen. Denen es an Geld, Unterstützung oder genügend Kollegen mangelt. Oder die Erzieher, deren Arbeit der Gesellschaft offenbar so wenig wert ist, dass diese von ihrem Lohn nicht mal die eigene Familie ernähren können.

Aber, nur weil der Job des Bildungspolitikers beschissen ist, muss man deshalb – und wegen berufsinhärenter Profilneurosen – gleich jeden Tag eine andere Bildungssau durchs pädagogische Dorf treiben? Sollte man sich nicht stattdessen mal zurücklehnen und einfach mal evaluieren, was welche Maßnahme der vergangenen Jahre gebracht und wie verändert hat? Die Schulen fallen teils auseinander. Statt immer neuer Lehrpläne benötigen viele Schulen vor allem mal eine Grundsanierung! PISA, Bologna, G8, G9, Freies Arbeiten, Frontalunterricht, Ganztagsschulen, Gemeinschaftsschulen, etc., etc. Gebt den Schülern und Lehrern doch auch mal eine Atempause.

Was Schüler brauchen sind Strukturen, Orientierung in einer sich schnell ändernden Welt. Sie brauchen Verlässlichkeit. Stattdessen haben fünf verschiedene Schulen im gleichen Schulbezirk fünf verschiedene Konzepte. Und ständig wird daran herumgedoktert. Und was Erzieher und Lehrer brauchen ist Unterstützung und Anerkennung ihrer Arbeit. Von Eltern, von der Gemeinschaft, von der ihnen übergeordneten Politik. Und zur Anerkennung gehört auch eine ausreichende Bezahlung!

Bildungspolitiker ist auch deswegen ein beschissener Job, weil man von Glück sprechen kann, wenn man die Früchte der eigenen Arbeit noch vorm Rentenalter begutachten kann. Änderungen im Schulbereich benötigen vor allem Zeit bis sie Früchte tragen. Da gehen auch mal zehn Jahre ins Land, bis man überhaupt bewerten kann, ob eine Reform den erwünschten Effekt brachte oder nicht. Man kann eine Schulreform nicht innerhalb einer Legislaturperiode einführen und anschließend evaluieren! Das scheint aber keinen mehr zu interessieren. Alle wollen nur noch Ergebnisse – am liebsten gestern.

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Dieser RANT will nicht als ein »die gute, alte Zeit« oder ein »früher war alles besser«. verstanden werden. Frei nach Jochen Malmsheimer – nichts war früher besser. Aber manches war gut so wie es war. Natürlich hat sich die Welt geändert. Natürlich hat sich die Gesellschaft verändert. Natürlich muss Bildungspolitik, muss Gesellschaftspolitik diesen Änderungen Rechnung tragen. Natürlich muss man die Schule fit für die Zukunft in einer sich extrem schnell ändernden Welt machen. Aber muss man deswegen gleich alles, was für viele Generationen von Schülern gut war, über den Haufen werfen und als antiquiert diffamieren?

Und sicher ist es gut, wenn man zum Wohle unserer Kinder die Auswüchse des heutigen Systems bekämpft – den extremen Stress, den schon Grundschüler heute erleben, den Zwang unbedingt Abitur machen zu müssen. Aber es Kindern einfach nur leichter machen, die Leistungsstandards senken, Sitzenbleiben abschaffen, die Schreibschrift abschaffen, weniger auswendig lernen oder noch mehr freies Lernen, sind nicht die allein selig machenden Antworten und teils gar kontraproduktiv und genau nicht das, was unsere Kinder brauchen. Bildungspolitischer Aktionismus schadet denen, die wir eigentlich fit machen müssen für die Zukunft.

Sicher ist die pädagogische Forschung heute weiter als vor dreißig Jahren. Natürlich wissen wir heute mehr über kindliche Psyche, über die kindlichen Reifungsprozesse. Und es ist auch löblich, wenn sich so viele Menschen Gedanken darüber machen, wie lernen für unsere Kinder spannend sein kann. Aber Spannung, pure Lustbefriedigung um zu Lernen ist nicht die einzige Aufgabe der Schule. Frustrationstoleranz, das Aushalten von Arbeiten, die auch mal keinen Spaß machen, das wachsen an hohen Ansprüchen sind genauso wichtig. Denn so ist das Leben! Wer das beizeiten nicht lernt, wird es später im Beruf verdammt schwer haben. Und dazu unterhalte man sich mal mit Ausbildern in Betrieben über die heutige Generation von Auszubildenden.

Lehrer und Erzieher sind aus meiner Sicht erstmal Profis auf ihrem Gebiet. Ich hab wenig Gründe, an der professionellen Beurteilung eines ausgebildeten Pädagogen zu zweifeln. Ich weiß es nicht besser, denn ich bin ausgebildeter Informatiker und nicht Pädagoge. Ich hab erstmal keinen Grund, am Interesse der Erzieher und Lehrer am Lernerfolg der ihnen unterstellten Kinder zu zweifeln. Ich muss ihnen vertrauen. Ich muss mit ihnen – zum Wohle meiner Tochter – ein Team bilden. Niemand gewinnt, wenn Eltern sich mit den Lehrern um Konzepte, Ansichten streiten, statt an einem Strang zu ziehen. Niemand gewinnt daraus etwas, aber die Kinder verlieren.

Finnland will nun 2016 die Schreibschrift abschaffen, die Schüler sollen dann nur noch Druckbuchstaben lernen und vor allem Tippen am Computer. Die Pisa-Sieger stellen sich damit der zunehmenden Digitalisierung. […] Aber durch Deutschland geht ein Aufschrei als ob der Untergang der ganzen humanistischen Bildung bevorstünde. Davon (dass Kinder nur noch auf der Tastatur tippen lernen sollen. Anm. d. V.) ist aber gar nicht die Rede, sondern die Kinder sollen es beim Schreiben lernen lediglich leichter haben.

Was ist daran eigentlich verkehrt?

(Quelle: blog.stern.de)

Ich finde daran so ziemlich alles verkehrt.


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