Die #Kerze - mehr als ein romantisierender Lichtspender 1/2

Von Annuntiator
Wie ist es um unsere Seele doch so eigen bestellt! Mit allen Dingen der Welt ergeht es ihr, wie einst dem ersten Menschen, als Gott ihn die Tiere benennen ließ: Nirgends fand sich ein Genosse seines Wesens. Vor allen Dingen fühlt sie: „Ich bin anders.“ Keine Wissenschaft der Welt zerstört ihr Wissen, und keine Niedrigkeit löscht es aus: „Ich bin anders, als alles Übrige in der Welt. Allem fremd, Gott allein verwandt.“ Und doch hat die Seele wiederum eine Verwandtschaft mit allen Dingen. Bei allem fühlt sie sich irgendwie zu Haus. Alles spricht zu ihr, jede Gestalt, jede Bewegung und Gebärde. Und rastlos sucht sie darin ihn Innerstes auszusprechen, es zum Sinnbild ihres eigenen Lebens zu machen. Wo immer sie einer starken Gestalt begegnet, fühlt sie darin etwas vom eigenen Wesen ausgesprochen, fühlt sich an irgend etwas in ihr selbst erinnert.
Ist´s nicht so? Hier liegt der Grund zu allem Gleichnissen. Jedem Ding zu innerst fremd, spricht die Seele zu ihm: „Das bin ich nicht.“ Und wieder allem geheimnisvoll verwandt, empfindet sie Dinge und Geschehnisse als Bilder ihres eigenen Seins.
Das ist ein Gleichnis, schön und stark vor vielen: Die Kerze. Ich sage dir wohl nichts Neues; gewiß hast du es schon oft empfinden.
Sie, wie sie auf dem Leuchter steht. Breit und schwer ruht der Fuß; sicher ragt der Schaft; eng vom Kelch umschlossen und vom weit ausladenden Blatt unterfangen, steigt die Kerze auf. Leise verjüngt sich ihre Gestalt; festgeformt, so hoch sie auch ragt. So steht sie im Raum, schlank, in unberührter Reine, und doch warm getönt ihre Farbe; herausgehoben durch ihre klare Form aus aller Vermischung.
Oben schwebt die Flamme, und darin wandelt die Kerze ihren reinen Leib in warmes, strahlendes Licht.
(Von heiligen Zeichen; Romano Guardini 1927)