Die Kathedrale des Verschwendeten Fleisches: Kapitel 5

Kapitel 5

Er erwachte mit dem Gefühl von frostigem Stahl im Gesicht. Die Kanten der Metallstufen bohrten sich in seine Wangen und sein Schädel brummte wie ein Wespennest. Leise platschte ein Tropfen Blut von seiner Stirn auf den Boden, auf dem er lag.

Zögerlich warf er einen Blick über die Schulter hinter sich. Zwei Wachen, brutale Statuen in der unergründlichen Dunkelheit ihrer Masken, versperrten ihm mit angelegten Gewehren den Weg. Derek seufzte. Er sah ihnen an, dass sie ihn wenn nötig tragen würden. Wenn es sein musste, warfen sie ihn über die Schulter und schleppten ihn die Treppe hoch.

Mit dem schmutzigen Handrücken wischte er sich das Blut von der Stirn; seine Platzwunde brannte, doch das kümmerte ihn nicht mehr. Es hatte keinen Zweck. Für Widerstand war er zu schwach. Es war zu spät. Er könnte sich gegen sie werfen, noch einmal versuchen zu fliehen, aber es hatte wenig Sinn. Die Hunde würden ihn genau wie Liam zerfetzen. Alles, was ihm jetzt noch blieb, war bis zum Ende zu gehen und zu sehen was passierte.

Zitternd wie ein alter Mann zog er sich hoch, stützte sich auf dem Geländer ab und erklomm die ersten Treppenstufen. Heißes Blei schwamm in seinen Beinen. Jeder Schritt war eine Qual, aber er zwang sich vorwärts. Auf halber Höhe hielt er inne. Er drehte sich zu den kauernden Erscheinungen um, die in der Halle froren und atmete tief ein. Dann richtete er die Augen wieder vorwärts und erklomm mit zusammengebissenen Zähnen den Rest der Treppe.

Am Ende wartete der Priester auf ihn. Sein kahler Schädel und die dürre Statur, in dem altertümlichen Gewand mit dem weißen Kragen, wirkten surreal an diesem Ort. Er stand vor dem Abgrund, der nur wenige Zentimeter neben ihm aufklaffte, wie ein Torwächter. Ein Geruch von Weihrauch haftete an ihm, durchzogen vom beißenden Gestank der Angst. Menschen waren vor ihm in den Tod gesprungen; dennoch lag ein milder, ungerührter Ausdruck in seinem Gesicht. Seine Hände waren über einer zerfledderten Bibel gefaltet, als bereite er sich auf die Sonntagspredigt vor.

„Hallo, Derek“, sagte der Priester. Wie er seinen Namen aussprach, ließ Derek auf einmal alle Hoffnung aus den Gliedern fahren.

„Weißt du, wo du hier bist?“ Erschöpft lehnte er an der Balustrade, suchte ihren Halt und glotzte hohl auf das Lächeln des Predigers. Als er schließlich antwortete, befreite ihn die Gewissheit seiner Worte.

„In der Hölle“. Der Priester nickte.

„Das ist wahr. In der Hölle.“

Die Hände um das Geländer geschlungen sank er auf die Knie.

„Aber warum bin ich hier?“ fragte er atemlos. „Ich kann mich an nichts erinnern.“ Der Priester nickte wieder.

„So geht es allen. Niemand kann sich an etwas erinnern – das gehört dazu.“ In einer ruhigen Geste, wie ein weiser Großvater, deutete er auf den Abgrund, der jenseits der Treppe klaffte.

„Wirf einen Blick nach unten. Dann wirst du sehen.“ Vorsichtig und mit großer Anstrengung zog sich Derek über das rostige Gitter und schob seinen Kopf über das Ende der Treppe.

Unter ihm tat sich der Schlund der Maschine auf. Von hier oben ging es kilometerweit in die Tiefe. Tausend Sägen, zum Schneiden von Fleisch gemacht, ragten im Inneren des Trichters hervor. An kräftigen Haken verfingen sich die Körper, damit sie nicht unbearbeitet durchrutschen konnten. Im Zentrum, da wo der Trichter im dunklen Hals verschwand, drehte sich eine mächtige Schraube, die die Reste nach unten sog und die zerteilten Körper zu einer zähflüssigen Masse zerrieb.

Der Anblick drohte Derek zu verschlucken. Hypnotisiert starrte er in die Schwärze, die Schatten zwischen den Sägen, den blutigen Spuren der Gewalt, den Resten der zerteilten Opfer. Etwas sog ihn herab, zog ihn nach unten. Es war nicht die Erwartung seines eigenen Schicksals. Da unten lauerte etwas Unbekanntes; etwas Fremdartiges.

Ein Kranz aus Augen öffnete sich und glotzte ihn an. Sie betrachteten ihn und Dereks Stirn explodierte. Vor seinem Inneren Auge zerbarst ein Spiegel in Millionen Splitter. Eine unsichtbare Hand zog an den Nähten seiner Synapsen – nur wurden sie wieder zusammen geknotet, statt auseinander gerissen. Bilder aus tausend und einem Lebensbild setzten sich zu einem grauen Kaleidoskop zusammen. Der Schnelldurchlauf eines vergessenen Lebens, die Idee einer Vergangenheit – zerschlagen und wieder geklebt. Da waren Geburt, Eltern und das erste Weihnachtsgeschenk, mit dem kleinen Derek im Kindersitz am Kopf des Tisches; der erste Schultag, die Pubertät und die erste Freundin; eine Couch, viele Freunde und ein bewegtes Leben. Eine Collage aus wichtigen Momenten und alltäglichen Kleinigkeiten, die einen zum Menschen machen.

Dann stolperte der Film in eine normale Geschwindigkeit. Die Szene wurde langsamer, das bernsteinfarbene Gefühl der jüngsten Vergangenheit legte sich wie ein Filter über die Bilder. Derek sah einen Mann, mit Haaren bis zu den Schultern, gekleidet in Jeans und eine selbstgestrickte Wolljacke, und erkannte verwundert, dass er das war.

Es war mitten in der Nacht; das Bier noch in der Hand winkte er seinen Freunden zum Abschied und stolperte über den Vorgarten in Richtung seines Autos. Die Szene sprang und plötzlich sah Derek sich selbst, wie er am Steuer seines alten Cabrios saß, die Flasche zwischen den Knien, eine Zigarette im Mundwinkel, eine Hand am Lenker, mit der anderen suchte er blind nach einer CD. Verzweifelt hielt er Ausschau nach der richtigen Ausfahrt aus dem Vorort.

Wieder machte der Film einen Sprung und Derek sah die gelbe Ampel am Ende der Straße. Statt langsamer zu werden drückte er auf das Gas und wurde schneller; die Ampel konnte er noch schaffen. Das Licht sprang auf Rot. Von rechts kam der Kombi. Es ging zu schnell um noch zu reagieren. Das Bier kippte über seine Hose, die Zigarette fiel ihm aus dem Mund, als sein Kühler das andere Auto in der Mitte zerriss. Es war ein Familienwagen: Ein Kombi, beige, für bis zu drei Kinder geeignet. Der Vater starb sofort; die Mutter schlug mit dem Kopf auf das Armaturenbrett, wo ihr Schädel zerschellte und blutige Splitter zurückließ. Dereks Gedanken waren nicht schnell genug um zu fassen, was gerade passierte. Als letztes sah er den kleinen Jungen im Kindersitz auf der Rückbank. Die Splitter der Windschutzscheibe schnitten durch ihn durch, wie durch Butter.

„Du hast dir das Genick gebrochen, als du im Straßengraben gegen einen Baum gefahren bist“, erklärte der Priester, als Derek wieder zu sich kam. Er brauchte eine Sekunde sich zu erholen. Er klammerte seine Finger in das Gitter, um nicht herunterzufallen.

„Deshalb bin ich hier“, keuchte er. „Ich habe diese Familie auf dem Gewissen. Der Junge…“ Ein dicker Kloß im Hals würgte seine Worte ab. Tränen tropften von seinem Kinn, fielen durch das Gitter hindurch und zerschellten geräuschlos im eisernen Tiefe unter ihm.

„Dieser kleine Junge…“, stammelte er, „ich bin schuld…ich habe sie…“

„Getötet“, beendete der Prediger seinen Satz. „Ja, das ist wahr.“ Er machte eine Pause.

„Aber das ist nicht der Grund warum du hier bist.“ Derek drehte seinen Kopf und sah ihn fassungslos an.

„Was? Wieso dann? Was ist schlimmer, als eine ganze Familie zu töten?“ Das Lächeln des Priesters wurde unmerklich breiter.

„Alles, was davor passiert ist.“

In den Pupillen des Priesters sah Derek sich selbst, wie er zusammengesunken auf der obersten Stufe kniete.

„Ich verstehe nicht“, stammelte er. Statt ihm zu antworten, wiederholte der Priester mit einem Lächeln seine Geste und deutete in den Abgrund. Auf Knien zog sich Derek über den Rand und spähte in das Dunkel. Die Schatten drehten sich im Wirbel, die Augen öffneten sich und der Schmerz hinter seiner Stirn erwachte wieder zum Leben. Der Film ging von vorne los – doch diesmal langsamer. Er konnte jedes Detail erkennen:

Im Kindergarten sah sich Derek, wie er auf den Wänden Porträts der Kinderfrau malte und signierte; seine Mutter, wie sie seine ersten Bilder stolz mit einem Magneten an den Kühlschrank heftete und wie Derek mit dicken Backen glücklich strahlte. Die Schulzeit, in der er gelangweilt in der letzten Reihe saß und Seite um Seite mit Bildern bekritzelte; wie er seiner ersten Freundin einen selbstgemalten Comic schenkte; wie er vergaß zu lernen. Die Pubertät und die Streiterein mit den Eltern; die schlechten Zeugnisse, die Joints und seine verriegelte Zimmertür; die Wochenenden auf Partys, die Mädchen; der Streit mit seinem Vater und das Gespräch über Perspektiven. Dann der Rausschmiss von der Schule wegen Drogen; ein paar halbfertige Zeichnungen; ein gebrochenes Herz und viele Partys. Irgendwann die Suche nach ein Ausbildung; Vorstellungsgespräche, die er verschläft, Termine, um die er sich nicht kümmert, Verabredungen, die er nicht einhält; der Streit mit seinen Eltern und die Frage, warum er denn nichts aus sich und seinem Talent macht; der Rausschmiss von zu Hause; die erste eigene Wohnung, ganz alleine. Zum Schluss die heruntergekommene Bude; die leeren Leinwände, zerbrochenen Bleistifte; ein paar Frauen, die kommen und gehen; die bequeme Couch, in der er zu versinken droht; die Drogen auf dem Wohnzimmertisch; die Party; das Auto; der Unfall; der Junge; der Tod.

Langsam zog sich Derek über die Kante zurück. Einen ewig langen Herzschlag blieb er auf dem kalten Metall liegen und rührte sich nicht. Es schien, als sei er an Ort und Stelle gestorben, aber dann bewegte er sich doch und stand vorsichtig auf.

„Ich verstehe“, sagte er, woraufhin der Priester ihn fragend ansah.

„Ich bin nicht wegen der Familie hier, oder? – sondern wegen mir selbst.“ Schwankend drehte Derek sich zur surrealen Erscheinung des Geistlichen hin, dessen Lächeln unmerklich größer wurde.

Schließlich wandte er sich herum und zeigte mit dem Finger auf die elenden Figuren, die am Treppenabsatz warteten und verwirrt zu ihnen hoch glotzten.

„Wir sind alle aus ähnlichen Gründen hier. Wir haben die gleichen Verbrechen begangen, nicht wahr?“ Der Priester konnte sein Grinsen nicht verstecken.

„Wir sind Abfall. Kompost. Faule Masse, die durch den Fleischwolf gedreht wird, um den letzten Tropfen herauszuquetschen.“ Die Mundwinkel des Klerikers zuckten nervös vor Anspannung. Derek streckte die Arme aus, erfasste die ganze Halle mit einer Geste.

„Das hier“, sagte er, „ist die Kathedrale des verschwendeten Fleisches – der Ort, wo Talent hingeht um zu sterben.“ Der Priester lachte laut aus.

„Jetzt hast du verstanden!“

Derek humpelte zum Ende der Treppe. Seine blutigen Zehen ragten über den Rand , bereit zu springen. Da fiel ihm die Tätowierung an seinem Arm ein.

„Wofür sind die Zahlen?“ Jetzt grinste der Priester mit vollem Gesicht.

„Das fragst du jedes Mal.“ Derek nickte. Dann sprang er.

Mitten in der Wüste, eine Schlange aus Menschen. Gelbes Ödland erstreckte sich meilenweit in alle Richtungen. Da gab es keinen Baum, keine Berge – nur etwas ausgebleichtes Gras in den Rissen im Boden. Anfang und Ende der Schlange verschwanden hinter dem Horizont. Die Sonne knallte auf die kahlen Köpfe der kranken Gestalten. Dumpfer Schmerz pochte durch Dereks Glieder. Sein Fleisch, seine Muskeln brannten wund, als wäre er gerade aus einem Fleischwolf gekrochen. Er konnte sich an nichts erinnern. Da juckte ihn etwas am Arm. Verständnislos, mit hohlem Blick, starrte er auf die Zahl, die darin eintätowiert war: 5431.


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