Kapitel 4
Dereks Blick haftete festgefroren an der Treppe; er konnte sich nicht losreißen. Er nahm gar nicht wahr, wie er an der Tätowierung kratzte, seine Nägel in die Haut grub, bis es blutete. Sein Kopf fühlte sich wie unter Wasser getaucht; Liam flüsterte auf ihn ein, aber seine Stimme murmelte nur fern an der Oberfläche.
„Was hast du gesagt?“ Langsam kehrten seine Sinne zurück. Liam riss ihn an der Schulter zu sich herum.
„Sie vernichten uns“, sagte er. Das heisere Keuchen seiner Lungen meißelte den Satz in Stein. „Sie zwingen uns zu springen. Dann verarbeiten sie uns zu Fleisch.“
Derek wollte widersprechen; sein Kopf konnte diese Worte nicht akzeptieren, da zerschnitten die Sägen die Stille. Das Geräusch der Maschine hallte durch die Kathedrale. Der Nächste wurde zur Treppe geführt. Derek schluckte fest. Dann sah er zu den Wachen.
„Aber sie machen gar nichts“, sagte er. „Sie stehen nur da.“
„Gehirnwäsche,“ erwiderte Liam. „Es ist der Priester. Er muss ihnen einreden zu springen.“ Er schaute zu der Figur im dunklen Gewand, die am Ende der Stufen wartete. Kindlicher Trotz glitzerte in seinen Pupillen. „Ich werde da nicht hoch gehen“, sagte er schließlich. Derek drehte sich wieder zu ihm um.
„Was hast du vor?“
„Rennen“, antwortete Liam. Derek sah zurück zu den Gestalten in den schwarzen Mänteln. Eine von ihnen patrouillierte entlang der Schlange. Den Karabiner in der Hand kam sie mit schweren Schritten näher.
„Aber was ist mit den Wachen?“
„Lieber lass ich mich erschießen“, sagte Liam. „Zusammen haben wir gute Chancen. Komm. Auf mein Zeichen rennen wir los.“
Derek blieb keine Zeit zu protestieren. Die Wache erreichte sie gleich. Plötzlich packte Liam die Frau, die hinter ihm in der Reihe kauerte, und schubste sie vor die Wache.
„Los!“ schrie er und rannte so schnell ihn seine Füße trugen. Derek zögerte einen Augenblick; er sah rüber zu der Frau – dann rannte er Liam hinterher. Seine Beine bewegten sich wie von selbst. Mechanisch trugen sie ihn über den Boden. Liam lief links, Derek rechts von der Schlange. In seinen Augenwinkeln verschwammen die kahlen Köpfe zu einem hektischen Film, in dem zwischendurch Liams Gestalt aufblitzte.
Derek spürte nur den Luftzug der Kugel; das hallende Donnern des Schusses hörte er nicht. Köpfe duckten sich in Panik und die Wachen hatten freies Schussfeld. Anlegen, feuern, nachladen. Der zweite Schuss ging nur knapp an ihm vorbei und schlug in die Säule hinter ihm.
Derek machte sich so klein er konnte. Er zog den Kopf ein und schlug Haken um ein paar Säulen. Eine dritte Kugel pfiff haarscharf an seinem Bein vorbei. Auf der anderen Seite keuchte Liam wie ein kranker Ochse. Er wurde langsamer. Schweiß lief in Flüssen an ihm herunter.
„Halt durch!“ rief Derek ihm zu. Am Ende der Kathedrale leuchtete das Wüstenlicht durch die gewaltigen Gitterstäbe.
„Wir sind gleich am Tor!“ Er schaute wieder rüber, aber konnte Liam nicht mehr sehen. Sofort hielt er an. Ein paar Meter hinter ihm lag Liam am Boden; ein Kugel großes Loch klaffte in seinem Bein, aus dem dunkles Blut strömte.
„Steh auf!“ brüllte Derek durch die Hallen. „Mach schon, steh auf!“ Da fletschte die Dunkelheit ihre Zähne. Drei Hunde krochen aus den Schatten zwischen den Säulen hervor. Ihre Krallen klackten auf dem Steinboden. Knurrend, die Köpfe gesenkt, mit angelegten Ohren, näherten sie sich Liam.
„Steh auf!“ Er versuchte verzweifelt sich aufzurichten, schaffte es nicht, denn seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr. Panisch krallte er sich in den Stein und zog sich über den Boden. Derek wollte sich gerade einen Weg zu ihm bahnen, da sprangen die Hunde los. In einem Herzschlag hatten sie ihre Zähne in seinem Hals gegraben und zerrissen ihn wie ein totes Reh.
Zu spät. Weiter. Rennen. Nicht stehen bleiben. Hinter Derek hatten die Wachen nachgeladen und legten zum Feuern an. Eine Kugel schwirrte weit an ihm vorbei, eine zweite verfehlte knapp seinen Hals. Die dritte traf ihn am Arm. Er strauchelte. Heißes Blei floss durch seine rechte Körperhälfte, zog ihn nach unten. Mit jedem Schritt tropfte das Loch. Seine Kräfte schwanden. Nur noch wenige Meter bis zum Tor. Etwas Glück und er konnte sich vielleicht zwischen den Gitterstäben durchquetschen, raus in die Wüste, weg von der Maschine…
Der Gewehrkolben traf ihn wie ein Betonklotz im Gesicht; der Schlag riss ihn zu Boden. Die Wache tauchte aus dem Nichts auf, nagelte ihn mit dem Stiefel auf der Brust am Boden fest. Er versuchte noch vergeblich sich zu befreien – dann verlor er das Bewusstsein.