Die Kandidaten 2016: Ben Carson

Neben Donald Trump führt gerade ein weiterer Außenseiter die Umfragen für die republikanischen primaries an: Ben Carson. Gegenüber dem schillernden Immobilienmogul könnte Carson kaum unterschiedlicher sein. Aus ärmsten Verhältnissen stammend, arbeitete sich der Afroamerikaner im Selbststudium bis nach Harvard vor, wurde Neurochirurg und einer der profiliertesten Experten auf seinem Gebiet. Seine Lebensgeschichte "Gifted Hands" ist ein Bestseller und eine Inspirationsquelle für seine Fans. Carson selbst hat eine sehr ruhige, fast einschläfernde Art. Er kann nicht gerade große Reden schwingen. Verglichen mit Trumps lauter Angeberei sieht er beinahe bescheiden aus, und entsprechend geprägt ist auch das Narrativ der Berichterstattung. Carson gilt als intellektueller Außenseiter, der leise und sanft spricht und sich selbst sehr zurücknimmt. Dieses Bild dürfte nicht wenig zu seinen Umfrageerfolgen beigetragen haben, ist jedoch alles andere als zutreffend.
Carson betrat die politische Bühne relativ spät. Zum ersten Mal geriet er 2013 in das Scheinwerferlicht einer bundesweiten Aufmerksamkeit, als er beim National Prayer Breakfast in Anwesenheit Obamas eine harsche Kritik der "political correctness" abgab und sich mit stark sozialkonservativen Positionen in die Herzen der republikanischen Partei sprach. Seine starke Religiosität (er ist Mitglied der Seventh-Day-Adventists, einer religiösen Splittergruppe, die eine sehr wörtliche Auslegung der Bibel praktiziert), seine erzkonservativen Ansichten (etwa die Feindschaft zur Homoehe) und seine konservativen innenpolitischen Positionen (etwa die Ablehnung von Obamacare oder der Legalisierung von Cannabis) haben ihn zu einem glaubwürdigen Vertreter von republikanischen value voters gemacht (mehr dazu siehe hier). Entsprechend wurden nach seiner Rede auch schon Stimmen laut, die seine Kandidatur für die Präsidentschaft forderten. Sein Rücktritt von allen medizinischen Funktionen erlaubte es ihm, sich künftig auf seine politische Karriere zu konzentrieren, die er mit seinen Büchern "One Nation" und "A More Perfect Union" unterfütterte.
Während seine Positionen auf dem Gebiet der sozialkonservativen Positionen relativ klar sind, sind sie besonders auf dem ökonomisch-fiskalischen Feld sowie in der Außenpolitik deutlich nebulöser. Carson sprach sich etwa für eine Flat-Tax und gegen ein progressives Steuersystem aus, während er auf außenpolitischem Gebiet hauptsächlich die übliche Unterstützung von Israel und Gegnerschaft zum Iran ausgibt, ohne allzu konkret zu werden. Unklar war lange Zeit auch seine Position zum Waffenbesitz: während er vor seiner Kandidatur noch Aussagen machte, die sich als Befürwortung von Waffenregulierung deuten ließen, hat er seither erklärt, sich nur unklar ausgedrückt zu haben: Während die vielen Opfer von Schusswaffen schrecklich seinen, sei es nicht so schrecklich wie die Bevölkerung wehrlos gegenüber möglichen Tyrannen zu lassen. Damit befindet sich Carson auch auf diesem Gebiet inzwischen klar im republikanischen Mainstream.
Bevor ich mich einer tiefergehenden Analyse von Carsons Positionen, Stil und Erfolg zuwende, möchte ich einen Disclaimer voranstellen. Ich empfinde Ben Carson als den mit Abstand moralisch abstoßendsten Kandidaten der republikanischen primaries, noch vor Trump. Ich hoffe die Gründe hierfür im Folgenden deutlich zu machen, möchte aber nicht versuchen die Illusion aufzubauen, ihn mit demselben Abstand betrachten zu können wie etwa Marco Rubio.
Eine erste Auffälligkeit bei Carson, die noch weit über Trumps offensives Ignorieren politischer Gegebenheiten hinausgeht, ist seine völlige Realitätsferne und offensichtliche Unwissenheit auf vielen Gebieten. Für einen Präsidentschaftskandidaten sind Carsons Wissenslücken wahrlich alarmierend. So ist ihm offensichtlich nicht klar, wie der Mechanismus des debt ceiling funktioniert, was jedem halbwegs informierten Zeitungsleser spätestens seit, nun, 2013 bekannt sein müsste. Gefragt, wie seine Haushaltspolitik aussehen würde, war als einzige konkrete Aussage zu entlocken, dass er alle Budgets unterschiedlos um 3% bis 4% kürzen würde. Warum das völlig irrsinnig ist, hat Jordan Weissman hier erklärt. Auch die Funktionsweise der Geldpolitik oder die grundlegende Problematik von wirtschaftlicher Ungleichheit entgehen ihm völlig. Der Steuersatz seiner Flat-Tax (10%) beruht nicht auf irgendwelchen ökonomischen Überlegungen oder Berechnungen, sondern stammt aus der Bibel. Das ist kaum weiter als Herman Cain 2012, dessen 9-9-9-Steuertarif 2012 wohl direkt aus dem Computerspiel SimCity übernommen wurde.
Natürlich stellen auch andere Kandidaten unmögliche Pläne auf, ob man Jeb Bushs 4%-Wachstums-Plan oder Rubios unbezahlbare Steuerkürzungen hernimmt. Aber bei diesen Kandidaten (und ja, auch bei Trump) hat man wenigstens das Gefühl, dass sie aus politischer Berechnung handeln und wissen, dass es in der Realität des Weißen Hauses anders aussehen wird. Carson weiß aber eindeutig nicht, wovon er spricht. Das macht ihn unter den Kandidaten einzigartig.
Die Probleme mit Carson enden aber nicht hier. Denn seine leise und teils schlicht undeutliche Art zu sprechen, ohne besondere Höhen und Tiefen, erweckt den Eindruck eines fast schon gleichmütig-heiteren Kandidaten, der ähnlich Bernie Sanders auf Seiten der Democrats für einen positiven Wahlkampf ohne den tiefen Griff in die Schmutzkiste auskommt. Nichts könnte ferner von der Wahrheit sein, auch wenn es eine schöne Geschichte ist. Carsons Wortwahl steht der von Trump in nichts nach und ist vielleicht sogar noch schlimmer. So bezeichnete er Obamacare als "die schlimmste Katastrophe für die Amerikaner seit der Sklaverei", erklärte das System der progressiven Besteuerung zum "Sozialismus", benutzt völlig inflationär Hitler- und Nazivergleiche (unter anderem für political correctness, die er mit der SA-Hetze von 1933 gleichsetzt), warnt vor der Erklärung des Ausnahmezustands durch Obama wenn die Republicans die Wahl 2016 verlieren, geht davon aus dass die biblische Apokalypse bald bevorsteht und vieles mehr. Auch seine angebliche Bescheidenheit ist schlichtweg eine Erfindung der Spin-Doktoren. Betrachtet man etwa dieses Interview mit Fox-News oder seine vielzitierten Kommentare zum Massaker in Oregon erkennt man schnell, wie ungeheuer eingebildet Carson ist und wie wenig Gespür er dafür hat, wie seine Worte außerhalb der Filterblase ankommen.
Und genau das ist das Problem. Bisher findet Ben Carson ausschließlich innerhalb der Filterblase statt, quasi in einer Echokammer der republikanischen Radikalen (etwas, das mit Abstrichen auch für Bernie Sanders auf der Linken gilt). Würden seine Äußerungen mit derselben Rigorosität analysiert, geprüft und bewertet werden wie dies bei ernsthaften Kandidaten - Hillary Clinton, Jeb Bush, Marco Rubio et al - der Fall ist, seine Kandidatur wäre dead in the water. Stattdessen aber profitiert Carson davon, eine gute Projektionsfläche abzugeben. Einerseits kontrastiert er schön mit den anderen Kandidaten und kann sich das Mäntelchen des Outsiders umhängen, der, frei von der Korrumpierung des politischen Prozesses, ohne Rücksicht auf political correctness sprechen kann. Dafür besteht offensichtlich großer Bedarf. Gleichzeitig macht es eine Wahl Carsons aber unvorstellbar. Selbst in den primaries dürfte sein Appeal beschränkt sein, denn hinter der ruhigen Fassade steht effektiv ein Extremist mit toxischen und teils menschenverachtenden Positionen.
Ben Carson ist ein Wolf im Schafspelz, oder besser eine Natter. Weil er für so viele seiner giftigen Ideen so lange einen Freischein in den Medien bekommen hat, sind diese Ideen tief in die republikanischen primaries eingesunken. Die Nation debattiert nun ernsthaft, ob die Überlebenschancen im Falle eines Massakers besser sind, wenn man à la Carson den Schützen direkt angreift, und ob dies als Sicherheitspolitik ausreicht. In sämtlichen Medien wurden Argumente vorgebracht, ob der Holocaust erst dadurch möglich gemacht wurde, dass die Juden keine Feuerwaffen hatten. Nicht nur wird damit verhindert, dass über ernsthafte Lösungen gesprochen wird. Irgendetwas von dem Irrsinn bleibt immer auch hängen. Der unvermeidliche Niedergang Carsons in den Umfragen kann daher gar nicht schnell genug kommen. Noch mehr als Trump verkörpert er alles, was faul ist im demokratischen Prozess der USA, was an giftigen und ekligen ideologischen Unterströmungen durch die Gesellschaft läuft.

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