Niederstetten im heutigen Mai-Tauber-Kreis, im fränkischen Nordosten von Baden-Württemberg und hat ungefähr 5 200 Einwohner, ein kleiner Marktflecken in dem sich die Bewohner recht gut kennen und auch sehr heimisch fühlen. Nichts Besonderes im ländlichen Raum, doch für die Bewohner ist es etwas besonderes, denn es ist ihre Heimat. In Niederstetten lebten Juden bereits im Mittelalter. Sie waren vom Rintfleisch-Pogrom 1298 betroffen. Die Entstehung der neuzeitlichen Gemeinde geht in die Zeit des 17. Jahrhunderts zurück. Erstmals werden 1647 Juden am Ort genannt. 1748 gab es 15 jüdische Haushaltungen am Ort. Die höchste Zahl jüdischer Einwohner wurde um 1844 mit 217 Personen erreicht. Danach ging sie durch Aus- und Abwanderung zurück, 1910 waren es noch116 Personen. Die jüdische Gemeinde gehörte seit 1832 zum Rabbinatsbezirk Mergentheim. Die jüdischen Handels- und Gewerbebetriebe waren schon im 19. Jahrhundert von großer wirtschaftlicher Bedeutung für die kleine Stadt Niederstetten. Bis um 1933 gehörten zahlreiche Betriebe jüdischen Familien, darunter Fellhandlungen, Handelsgeschäfte für Wein und Landesprodukte, Textilgeschäfte, Metzgereien, Viehhandlungen. Auch eine Diamantenschleiferei für Industriediamanten war vorhanden.
Im März 1933 lebten in Niederstetten etwas weniger als 5 000 Einwohner dort und gut 100 jüdische Mitbürger, die schon seit Generationen dort lebten. Eine Gemeinschaft, die friedlich miteinander lebte, bis zum 25. März…
Am Samstag, den 25. März 1933 trafen in Niederstetten etwa 30 SA-Männer aus Heilbronn ein. Sie brachen in die wenigen jüdischen Häuser der Gegend ein, schleppten die Männer ins Rathaus und schlugen sie brutal zusammen, während die örtlichen Polizisten am Eingang des Gebäudes Wache standen. Die Szene wiederholte ich auch an diesem Morgen im benachbarten Creglingen, dort trieben sie die 18 Männer aus der Synagoge ins Rathaus, misshandelten sie, was zum Tode des 67jährigen Hermann Stern und einige Tage später des 53jährigen Arnold Rosenfeld führte. In Niederstetten wüteten die SA-Männer so, dass sechs jüdische Männer im Krankenhaus behandelt werden mussten, vier von ihnen blieben mit Behinderungen zurück, es waren: Michael Levi, Fritz Neuburger, Max Stern und Leopold Schlossberger. Die Männer marodierten in den Geschäften und die verängstigten Frauen hielten sich versteckt. Die Nachbarn und Kunden der jüdischen Familien, die sich seit Jahrzehnten kannten schlossen die Fenster und ließen alles geschehen ohne dem gewaltvollen Treiben Einhalt zu gebieten. Nachdem die noch in der Niederstettener Synagoge zerschlugen was zu zerschlagen ‚wert’ war, zogen die SA-Männer grölend ab, völlig ungehindert und voller ‚Stolz’ ob ihrer ‚mannhaften’ Taten. In der darauf folgenden Zeit emigrierten ungefähr gut 50 jüdische Menschen aus Niederstetten, vor allen Dingen in die USA.
Die verletzten Menschen blieben zurück, völlig fassungslos was ihnen widerfuhr. Wenn auch die Wunden heilten, doch die mentalen Verletzungen können heute nur erahnt werden. Denn nicht nur körperlich wurden die Juden von Niederstetten aufs grausamste attackiert, nein, es wurde ihr Wohn- und Lebensraum, ihr ganz privater Schutz, verletzt.
Im Sonntagsgottesdienst am Tag darauf wurde Hermann Umfrid, der Pastor der lutherischen Kirche von Niederstetten sehr deutlich. Seine Predigt war sorgfältig formuliert, sie begann mit den üblichen Ausdrücken des Vertrauens auf das neue Regime und einigen Äußerungen zu den nichtchristlichen Mitbürgern, doch dann wandte sich Pastor Umfrid den Geschehnissen des Vortags zu: „Nur die Obrigkeit darf strafen, und alle Obrigkeit hat über sich die Obrigkeit Gottes und darf Strafe nur handhaben gegen die Bösen und nur wenn gerechtes Gericht gesprochen ist. Was gestern in dieser Stadt geschah, das war nicht recht. Helfet alle, dass der Ehrenschild des deutschen Volkes blank sei!“
Nach dieser Predigt begannen die Angriffe gegen den Pastor Umfrid und keine örtliche, regionale oder nationale Institution der Kirche kam ihm zur Hilfe, auch weil er sich weiter gegen die Einschüchterung der Juden von Niederstetten wehrte, so predigte er in diesem Sinne auch unbeirrt weiter. Keiner der Gemeindemitglieder stellte sich an seine Seite, keiner hielt zu ihm. Im Januar 1934 forderte der Kreisleiter Pastor Umfrid auf, sein Amt niederzulegen. Zunehmend gepeinigt von dem Gedanken, dass möglicherweise nicht nur er, sondern auch seine Frau und ihre vier Töchter in ein Konzentrationslager abtransportiert werden würden, beging der Mann Mitte 1934 Selbstmord.
Acht Jahre und acht Monate später, am 28. November 1941 um 14:04 Uhr, verließ der erste Transport von Juden den Bahnhof Niederstetten, sie fuhren über Stuttgart nach Riga zum Lager Jungfernhof. Eine zweite Gruppe bestieg den Zug im April 1942, diese kamen nach Izbica, die dritte und letzte Gruppe verließ Niederstetten im August desselben Jahres und wurde nach Theresienstadt deportiert. Von den deportierten Juden aus Niederstetten überlebten nur drei…Im April 1945 wurde Niederstetten durch Angriffe amerikanischer Jagdbomber und Artilleriebeschuss zur Hälfte zerstört, dabei auch die bereits demolierte Synagoge der Stadt.
Weiterlesen:
➼ 30. Januar 1933 · Beginn des Terrorregimes
➼ Antisemitismus • Versuch einer Definition
Orte des Schreckens der Juden von Niederstetten:
➼ Shoah in Lettland • Das Ghetto von Riga
➼ Shoah in Lettland • Das Konzentrations- und Vernichtungslagerlager Jungfernhof
darüber hinaus über den frühen Terror:
➼ Die Köpenicker Blutwoche • SA Terror 1933
➼ Der Altonaer Blutsonntag • Das Beil von Wandsbek
Bild 1: Karte des heutigen Main-Tauber- Kreis (TBB) · Bild 2: Rathaus von Niederstetten – Quelle Bild 1+2: wikipedia.org · Bild 3: Synagoge von Niederstetten – Quelle: fn.web