“Die Jagd” von Thomas Vinterberg

© Wild Bunch/Central / Mads Mikkelsen mit Thomas Bo Larsen

© Wild Bunch/Central / Mads Mikkelsen mit Thomas Bo Larsen

Niemand würde vermutlich dem dänischen Schauspieler Mads Mikkelsen seine Kinder anvertrauen, zumindest nicht wenn dieser sich in einer seiner zahlreichen Rollen als finsterer Bösewicht zur Schau stellt. Weder Le Chiffre in „James Bond: Casino Royale“ scheint der perfekte Aufsichtsverantwortliche für eine Horde von Kindergartenkinder zu sein, noch Dr. Hannibal Lecter, durch Anthony Hopkins in „Das Schweigen der Lämmer“ zu einer der berühmtesten Filmfiguren geworden, von Mikkelsen in der Anfang April startenden NBC-Fernsehserie „Hannibal“ verkörpert. Man kann es also einen Geniestreich nennen, wenn der in Kopenhagen geborene Regisseur Thomas Vinterberg Mikkelsen nun als harmlosen Kindergärtner inszeniert, der durch die Beschuldigung des sexuellen Missbrauchs an einem Kind von einer ganzen Gemeinde als Ausgestoßener behandelt wird. Ein Spiel mit Mikkelsens bisherigen Auftritten als brutaler Killer, nordischer Krieger, James Bond-Bösewicht. Man traut dem gutmütigen Dorfmenschen nicht über den Weg, auch wenn er denn die Wahrheit spricht.

2012 auf dem Filmfestival in Cannes als bester Darsteller ausgezeichnet, verkörpert Mikkelsen in „Die Jagd“ den 40 Jahre alten Lucas, der just geschieden mit einer neuen Freundin, einem neuen Job und einer neu entstehenden Beziehung zu seinem Sohn Marcus sein Leben wieder in geordnete Bahnen lenkt. Bis eine zufällige, willkürliche Lüge sich wie ein Virus verbreitet und Lucas bei seinen Mitmenschen, bei Kollegen wie Freunden, in Ungnade stürzt. Es entfaltet sich ein kollektiver Zustand der Hysterie, eine Menschenjagd beginnt, der Lucas einsam entgegen zu treten versucht. Es ist wirklich etwas ungewöhnlich, von Anfang bis Ende, einen von Hollywoods Lieblingsschurken in der Rolle eines durchschnittlichen Mannes zu sehen, der nach der Schließung seiner Schule den Beruf des Lehrers an den Nagel gehangen hat um als Kindergärtner den pädagogischen Lebensweg fortzusetzen. Von seiner Frau geschieden, erzählt man sich in dem kleinen namenlosen Dorf, in dem „Die Jagd“ spielt, dass es sich bei Lucas um einen merkwürdigen Kauz handelt, der seine Zeit gerne allein verbringt. Das erscheint dann aber auch nur in der Erzählung suspekt, zeugt viel mehr von dem Charakter der Gemeinde, die sich offenbar so allerhand Dinge übereinander erzählt, mit denen der Zuschauer dann aber nicht weiter belästigt wird. Vinterberg macht aus Mikkelsen einen freundlichen, zuvorkommenden und hilfsbereiten Mann, zumindest erscheint das in den ersten Minuten so. Die Skepsis möchte niemals weichen, auch wenn sie gänzlich unbegründet ist – es ist eben Mads Mikkelsen.

Mads Mikkelsen

Mads Mikkelsen

Freunden wir uns mit dem Gedanken an: Hier ist er der Gute, der beste Kumpel von Theo (Thomas Bo Larsen), der eine kleine Tochter namens Klara hat, die er ständig aus den Augen verliert. Mal muss Lucas sie allein vor einem Supermarkt stehend aufgreifen, dann wieder sieht er sie vorm Haus ihrer Eltern sitzen, wo sie nicht so recht weiß, wie sie zum Kindergarten kommen soll, wo Mama und Papa doch gerade streiten. Liebevoll kümmert sich Lucas um das Mädchen, bringt sie nach Hause oder begleitet sie zum Kindergarten. Würde man Mikkelsens Lucas hier etwas Böses anhängen wollen, etwas dass das Filmbild eventuell vor dem Zuschauer verschleiert, ein entsprechender Handlungsaufbau würde sich finden lassen. Die Liebenswürdigkeit schlägt drastisch um, als Klara ihrem Lieblingskindergärtner ein selbst gebasteltes Herz schenkt, dieser das aber als unnötige Geste ansieht, vielleicht sogar etwas prekär. Klara fühlt sich gekränkt und erzählt der Leiterin des Kindergartens mit kindlicher Unbarmherzigkeit, dass sie den Penis von Lucas gesehen habe. In der Mimik von Klara-Darstellerin Annika Wedderkopp wirkt das unheimlich diabolisch, berechnend böse. Sie mag Mads Mikkelsen, dem Schurken, den Rang ablaufen, zeigt dann später allerdings, dass sie als kleines, sechsjähriges Mädchen eigentlich überhaupt keine Ahnung davon hat, was sie mit ihren Worten in Gang bringt.

Nun beginnt das Leid, das Vinterberg nicht nur auf Mikkelsens Lucas projiziert, sondern den Zuschauer mitfühlen lässt. Ganz gleich mit welchem Rollenbild der Hauptdarsteller verbunden wird, hier interpretieren wir einen unschuldigen Mann in seinen Lucas. Der Zuschauer erlebt mit, woher Klara die Lüge hat, wie sie ihre Fantasie dazu benutzt sich ihre Geschichte aufzubauen. Man erkennt schon früh die Motive, die ihr vorgehalten werden und aus denen sie sich ihr Hirngespinst zusammen bastelt. Mit diesem Wissen wird man nun in die Geschichte geworfen, fühlt sich bei jeder Anschuldigung in der Lage die Situation aufzuklären, kann nur leider nicht handeln. Ein grausames Gefühl, mit dem man am liebsten Faust schwingend aufstehen und jedem dieser Unfug redenden Dorfbewohnern die Meinung sagen möchte.

Annika Wedderkopp

Annika Wedderkopp

Denn die kleine Klara ist schon bald wieder ein Unschuldslamm, gibt zu, nur eine kleine, dumme Geschichte erzählt zu haben. Aber an dieser Stelle hört schon niemand mehr auf sie. Die eigene Mutter versucht ihr zu erklären, dass kleine Kinder solch böse Geschichten oftmals zu verdrängen versuchen. Sie wird mit Fragen gelöchert, die Lucas schon im Vorfeld für schuldig befinden: „Hat er dir hier, im Kindergarten, seinen Penis gezeigt?“, „Was hat Lucas mit dir gemacht?“, es wird nicht locker gelassen, bis das kleine Kind nur noch wortlos mit dem Kopf nicken muss um den Kindergärtner eine große Schuld aufzuladen. Das irrationale Handeln dieser Menschen brennt sich tief in das eigene Bewusstsein, es schmerzt mit anzusehen, wie jegliche Logik aus der Denke dieser Menschen entschwindet, sie sich in einer Situation, in der sie mit absolut klaren Kopf Entscheidungen treffen müssten, maßlosen Anschuldigungen hingeben.

Immer wieder klingen die Worte im eigenen Kopf wieder: „Mama, ich habe doch nur etwas Dummes erzählt. Es ist nicht wahr.“. An dieser Stelle sollte zu Tragen kommen, was vorher noch alle propagierten: Kinder lügen nicht. Viel wahrer erscheint in diesem Moment: Eltern hören nicht zu. „Die Jagd“ zeigt nicht nur wie schnell sich eine Gruppe in gemeinschaftlicher Hysterie verlieren kann, wie langjährig bekannte Menschen einfach verstoßen werden können ohne sie zu Wort kommen zu lassen, wie schnell über jemanden geurteilt wird, aber auch wie sehr Zurechnungsfähigkeit und Menschenkenntnis aussetzen, wenn die pure Wut den menschlichen Geist übernimmt. Immer mehr spitzt Thomas Vinterberg die Lage zu, am pädagogischen Handeln eines jeden Erwachsenen darf immer weiter gezweifelt werden. Und damit gelingt dem Regisseur etwas, dass das Kino nur sehr selten erreicht. Als Zuschauer fühlt man sich ebenso aufgewühlt wie die Filmfiguren, Hass für die Dummheit der Menschen, Mitgefühl für den armen Mann, der unter diesen Umständen zu leiden hat. Ein wenig Angst schwingt dann aber bis zum Ende auch noch mit, wenn Lucas die kleine Klara noch einmal auf den Armen hält. Dann bleibt der skeptische Blick, man findet sich inmitten der Dorfbewohner wieder, fragt sie kurz, ob da nicht vielleicht doch etwas gewesen ist, was die Filmbilder uns verschwiegen haben. Gut, dass der Film dieses Gefühl nicht einfach so stehen lässt.

 


JGD.PL_adapt_RZ.indd

“Die Jagd“


wallpaper-1019588
1500 Kalorien am Tag – Ihr Plan fürs Abnehmen!
wallpaper-1019588
1500 Kalorien am Tag – Ihr Plan fürs Abnehmen!
wallpaper-1019588
Wenn das Neue lockt: Shiny New Object Syndrome im Online-Business
wallpaper-1019588
KiVVON: Der Game-Changer für Content-Creators