Die Internet-Kulturrevolution

 

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Photo: artnow314

In Ägypten und Tunesien ist die Internetgeneration die tragende Kraft bei den Protesten gegen die Potentaten. In Mitteleuropa ist knapp die Hälfte der Menschen schon über mehrere soziale Netzwerke verbunden. Das Wissen der Menschheit steht allen uneingeschränkt zur Verfügung, und auch ich kann endlich meine Tageszeitung lesen, wie jeder andere auch. Und ohne das Internet gäbe es auch kein Wikileaks, und das wäre doch schade, oder nicht?

In diesen Tagen vor 15 Jahren verband ich meinen Computer über ein Modem mit 9600 Kilobit pro Sekunde erstmals mit dem Netz der Netze. Nach einigem Rattern und Piepsen betrat ich das digitale Wunderland und fand mich langsam und mühsam zurecht. Ich fand einen Text mit Querverweisen zu anderen Texten, ich las Nachrichten, und einige Tageszeitungen stellten ihre interessantesten Artikel im Internet aus. Fasziniert kurvte und surfte ich Tag für Tag im Netz herum und war auf der Höhe der Zeit. Und wenige Tage später erhielt ich meine erste elektronische Post und freute mich darüber, wie einfach es war, einem Freund einen Brief zu schreiben. Ich weiß noch, wie lang und ausführlich meine Briefe im ersten Jahr noch waren.

Ich schrieb, als würde ich einen normalen Brief schreiben, durchdacht, verschnörkelt und hoffentlich unterhaltsam. Ich las die Vertragstexte von Dayton, mit denen der Jugoslawienkrieg beendet worden war, und meine Begeisterung für das Netz stieg ins Uferlose. Wenn ich heutzutage morgens aufwache, gehe ich zuerst zum elektronischen Briefkasten. Ob wohl während der Nacht interessante Post gekommen ist? Aber selten ist etwas Spannendes dabei. Kaum einer schreibt ausführlich und interessant. Warum auch, ich tue es ja auch nicht mehr. Meine Mails sind kurz und knapp, ich habe Anderes zu tun. Dann schaue ich auf Twitter nach. Nach anderthalb Jahren verfliegt langsam der Ehrgeiz, alles lesen zu wollen, aber eine Weile brauche ich schon, um interessante Links zu finden, dann die entsprechenden Artikel zu konsumieren und mich auf diese Weise zu bilden. Aber weiß ich morgen noch, was ich heute gelesen habe? Alle paar Minuten schaue ich auf Twitter nach, ich habe ein Facebook-Profil, und auch bei WKW kann man mich finden.

Das Internet hat unsere Zivilisation verändert. Der Journalist Alex Rühle hat ein Buch geschrieben, in dem er seine Erlebnisse während eines halben Jahres Internetabstinenz festgehalten hat. Die Veränderungen sind erschreckend, das kann ich schon sagen, nachdem ich erst ein Viertel des Buches gelesen habe. Dass es keine Telefonzellen mehr gibt, weil alle mittlerweile ein Handy haben, dass die Briefkästen bis auf Behördenbriefe und Werbung leer bleiben, während vor 15 Jahren die Post noch eine “heilige Institution” war, und dass man im Auto, im Zug, im Restaurant, ja beim Liebesspiel nur mal eben schnell ins Netz gucken will, ob es neue Mails gibt, ist heute ganz normal. Unterhält man sich mit Freunden, zieht man sich nur mal eben zurück um seine Mails zu checken. Ständige Erreichbarkeit ist ein Ideal, das jeder, der etwas auf sich hält, erfüllen muss, trotz Familie, und ohne Rücksicht auf Gesundheit und soziale Beziehungen, denn schließlich haben wir ja soziale Netzwerke. Die Mails selbst, die man dann schreibt, sind kurz und knapp, die Texte auf einer Internetseite liest man nur halb oder nur quer.

Und damit beginnt das, was ich als das eigentliche Drama der Kulturrevolution der letzten 15 jahre begreife. Die Quantität des Wissens und des Journalismus haben zugenommen, die Erreichbarkeit ebenfalls. Nur die Qualität nimmt ab, und zwar ständig. Früher tauchte man ein in ausführliche Texte, die ein Thema von vielen Seiten beleuchten. Heute liest man kurze Artikel quer, die ein komplexes Thema auf die Größe eines Schaukastens kleinhacken. Und auch die viel gepriesenen Blogs der Möchtegernjournalisten ändern nichts daran und passen sich dem allgemeinen Trend an. Man will sich ja nur mal eben schnell über was informieren, einen Überblick verschaffen. Mal eben schnell. Und dann verbringt man Stunden in Foren, auf Diskussions-, Spiele- und Werbeseiten, in Onlineshops und Tauschbörsen und natürlich in sozialen Netzwerken. Das Internet, das Hilfsmittel für das reale Leben offline sein sollte, ist Selbstzweck geworden und schränkt das Leben offline ein.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Kollektivgedächtnis der Menschheit. Das Internet vergisst nichts, heißt es. Aber das ist nicht wahr. Es sind die Geschäftsinteressen der privaten Großkonzerne, die zum Beispiel die Tagesschau dazu bringen, ihre seit Jahren gespeicherten Nachrichten zu depublizieren, damit sie keinen Wettbewerbsvorteil gegenüber RTL und Sat 1 hat. Und ein Mensch wie ich sucht nach alten Meldungen, die ihm in seiner Anfangszeit im Internet zur Verfügung standen, um sich zu erinnern, um zu recherchieren, und er kann sie nicht finden. Das Internet vergisst doch etwas. Das Wissen für die Allgemeinheit zu erhalten, ist inzwischen illegal. Wir alle leben heutzutage im Netz, viele leben vom Netz, doch das, was das Internet auf keinen Fall vergessen wird, ist der Schrott, während die Nachrichten, die Geschichte, das Wissen der Menschheit depubliziert werden dürfen. Es ist wie eine Bücherverbrennung, nur schleichender, leiser, unbemerkter. Oh nein: Ich bin nun wahrlich kein Internetmuffel. Dumm genug, das überhaupt sagen zu müssen, dumm genug, dass ich diese Verpflichtung überhaupt in mir spüre. Ich habe ein Blog, erfreue mich jeden Tag an den interessanten Feuilleton-Artikeln, die ich lese, und ich schreibe meine Kommentare für ein Radio, das dank des Interrnets in der ganzen Welt zu hören ist. Egal, wo meine Freunde sind, kann ich sie via Mail und Skype jederzeit erreichen. Der Punkt ist nur, dass ich es zum einen immer seltener tue, und dass zum anderen die große Chance, die im Internet liegt, immer mehr vertan wird. Das kollektive Gedächtnis, das man aus den Büchern ins Internet ausgelagert hat, ist bald nicht mal mehr dort. Aber immerhin ist es unterhaltsam und sehr bunt.

Mein Leben hat sich durch das Internet in den letzten 15 Jahren massiv verändert: Ich wache mit dem Internet auf und schlafe mit ihm ein. Aber eines weiß ich: Wenn ich mit Freunden zusammensitze, wenn ich im Zug oder im Restaurant bin, im Kino oder im Kabarett, bei all diesen Veranstaltungen hat das Internet und das Handy nichts zu suchen. So viel Privatsphäre muss sein!

Aber: Während ich diesen Text geschrieben habe, habe ich drei mal auf Twitter nach neuen Nachrichten geschaut.

Diesen Beitrag habe ich auch, aber längst nicht nur, für Ohrfunk geschrieben. 


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