Die Integrationsdebatte als Ablenkungsmanöver

Von Markus Weber

Die Integrationsdebatte als AblenkungsmanöverIn Deutschland haben wir viel weniger ein Integrations-, denn ein soziales Problem. Nicht Herkunft oder Religion, vielmehr ist die soziale Spaltung die Ursache der meisten gesellschaftlichen Missstände. Die derzeitige Integrationsdebatte ist in erster Linie eine reine Show, die von diesen realen Problemen ablenken soll. Auch die derzeit stark ins öffentliche Interesse geratenen Fehler der Bundesregierung stehen auf diese Weise nicht mehr im Mittelpunkt. Doch indem immer stärker Politiker aus bürgerlichen Parteien auf rechte Parolen setzen, werden ausländerfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung noch weiter gefördert - und sie sind schon jetzt erschreckend verbreitet. Dadurch könnten vielleicht auch Kräfte des rechten Randes einen Aufschwung erfahren.

Ein paar Fakten zu "deutschenfeindlicher Gewalt" und kriminellen Muslimen

Sind integrationsunwillige Ausländer, ist deutschenfeindliche Gewalt tatsächlich das dringendste Problem in Deutschland? Gerne, aber dabei unvollständig bis falsch zitiert wurde in den vergangenen Wochen eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Angeblich, so die mediale Darstellung, besage diese, dass zwischen Religiosität und Gewaltbereitschaft ein signifikanter Zusammenhang bestünde - eine falsche Darstellung. Auch eine deutlich genauere und wissenschaftlich sauberere Studie der EU stellt fest, dass zwischen Religiösität und Jugendgewalt kein Zusammenhang besteht. Eher verantworlich seien persönlich erfahrene Diskriminierung, gesellschaftliche Ausgrenzung sowie das engere persönliche Umfeld. Die KFN-Studie besagt außerdem, so Direktor Christian Pfeiffer, dass es keine generelle Deutschenfeindlichkeit gebe und dass die vermeintliche Deutschenfeindlichkeit vermutlich vor allem mit Enttäuschung über mangelnde Integration zu tun habe.

Die Bundesregierung aber gibt sich alle Mühe, Linksextremismus, Islamismus und "deutschenfeindliche Gewalt" durch muslimische Jugendliche als größte und konkreteste Bedrohung Deutschlands darzustellen. Dazu zunächst ein paar aktuelle Fakten: Die Bundesregierung, speziell Familienministerin Schröder, will nicht nur Opfer rechtsextremistischer, sondern auch linksextremistischer oder islamistischer Gewalt unterstützen und hat ihre Programme entsprechend ausgeweitet. Wie sieht es bisher aus? Nun, von Opfern rechtsextremer Straftaten liegen bisher 71 Anträge vor - von Opfern linksextremistischer oder islamistischer Gewalt kein Einziger. Dieselbe Kristina Schröder erzählt ja nun gerne an jeder Ecke, dass sie schon mal als "deutsche Schlampe" beschimpft worden sei. Was - laut Schröders eigenen Angaben - wirklich hinter dieser Geschichte steckt, kann man beim Politblogger lesen, der auch alles Nötige dazu sagt.

Gute und schlechte Ausländer

Wie soll die immer wieder zitierte deutsche Leitkultur aussehen? Haben, sagen wir beispielsweise, Berlin-Kreuzberg und Fulda so viel gemeinsam, dass man wirklich davon sprechen kann? Und spielen Religion oder Herkunft wirklich eine größere Rolle als der soziale Status? Hat der türkische Fließbandarbeiter mehr mit seinem deutschen Kollegen oder mit dem türkischen Arzt gemeinsam? Diese Fragen sind für die meisten Deutschen, selbst für die mit eindeutig rechten Einstellungen, recht leicht zu beantworten. "Aber!", heißt es dann, "der türkische Dönermann mag ja nett sein, aber - in Berlin, da sieht das doch ganz anders aus! An den Schulen dort! Das steht doch jeden Tag so in der Bild-Zeitung!" Es gibt für diese Leute dann meistens "gute" Ausländer und "schlechte" Ausländer. Die "Guten", dass sind die, die UNS, die den "Geburtsdeutschen", nützlich sind, die hier arbeiten, um unseren Wohlstand zu mehren. Die anderen, die nur kommen, um die Sozialhilfe abzustauben, kennt man dann nicht persönlich. Wie denn auch, machen sie doch nur eine kleine Minderheit aus.

Es ist tatsächlich so: Je weniger man in bestimmten Regionen Kontakt mit Ausländern und Deutschen mit Migrationshintergrund hat, desto mehr stimmt man ausländerfeindlichen Parolen zu. Hat man mehr mit ihnen zu tun, wird offenbar vielen klar, dass es meist nur Vorurteile sind. Das ist nur ein Ergebnis der in den letzten Wochen viel zitierten neuen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland.

Rechte Einstellungen in Deutschland

Die Integrationsdebatte als Ablenkungsmanöver

Diese zeigt insgesamt eine Zustimmungsrate von 25% zu Aussagen mit ausländerfeindlichen Inhalten, gegenüber 20% im Jahr 2008. Es gibt teils sehr hohe Zustimmungsraten zu antidemokratischen, chauvinistischen, nationalsozialistischen, rassistischen, sozialdarwinistischen, antisemitischen und antiislamischen Aussagen. Über ein geschlossen rechtsextremes Weltbild verfügen 8,6%. Auch die Ergebnisse bei einzelnen Fragestellungen sind erschreckend. Beispielsweise finden 34,3% zutreffend, dass Ausländer nur hierher kommen, um den Sozialstaat auszunutzen. 35,6% meinen, dass Deutschland durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet sei. 31,7% meinen, dass bei knappen Arbeitsplätzen "Ausländer wieder in ihre Heimat" geschickt werden sollten. 13,2% wünschen sich einen "Führer" der Deutschland "zum Wohl aller mit starker Hand regiert". 23,6% stimmten der Auffassung zu, dass Deutschland "eine einzige starke Partei braucht, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert". 37,6% wünschen sich Mut zu einem starken Nationalgefühl. 58,4% stimmten der Aussage zu, dass "die Religionsausübung für Muslime in Deutschland erheblich eingeschränkt" werden sollte. 55,4% konnten "gut verstehen, dass manchen Leuten Araber unangenehm sind". Dem Satz "Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß" stimmen 17,2 Prozent der Befragten zu. 15,2% stimmen dem Satz "Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen" zu.

Vom Rechtspopulismus zum Rassismus und Sozialdarwinismus

Die Studie beruht dabei auf Daten aus April 2010 - also noch vor der Debatte um Sarrazin. Heute lägen die Werte zweifelsohne noch höher. In den letzten Monaten hat sich in Deutschland eine deutliche Verschiebung ergeben, hin zu rassistischen, biologistischen Konnotationen. Nicht mehr nur ausländerfeindliche Stammtischparolen, sondern geschlossen rechtsextreme, rassistische und sozialdarwinistische Sichtweisen halten immer mehr Einzug. Nicht nur eine vermeindliche "Andersartigkeit" fremder Kulturen dient als Legitimation für Ausländerfeindlichkeit, nein, das ganze Wesen des "Nicht-Ariers", denn so muss man es dieser Argumentation nach ausdrücken, soll anders sein - bis hin dazu, dass man von genetischen Defekten spricht. Thilo Sarrazin hat die Eugenik und den Sozialdarwinismus wieder hoffähig gemacht, bis in die Leitartikel der großen Zeitungen. Unterstützend kommt die Mär von der vollständigen genetischen Prädisposition des menschlichen Wesens hinzu, die von den Medien so fleißig den weniger Gebildeten eingetrichtert wird. Der "Muselmane", der "Orientale", der "Neger" kann nun mal nicht anders, es "liegt ihm im Blut", dass er fauler, gewalttätiger und auch dümmer ist als der christlich-"arische" Übermensch. Unterschiede zu den Ansichten der 30er und 40er Jahre bestehen höchstens noch in der Konsequenz der Forderungen aus diesem kruden Weltbild. So wollen die heutigen Vertreter - derzeit - "nur", dass die"genetisch Minderwertigen" sich nicht mehr fortpflanzen - bei dem Gedanken daran, was die nächste Forderung sein wird, kann einem tatsächlich übel werden.

Diese sozialdarwinistische Ideologie beinhaltet aber auch die angebliche Minderwertigkeit der gesamten unteren Bevölkerungsschicht. Doch das sagen deren ideologische Vorreiter nicht so oft - braucht man doch den Zorn und die Stimmen eben dieser Schichten, die man selbst so unglaublich verachtet. Diese sind diejeinigen, die in unserem System zu kurz kommen, die von ihm unten gehalten werden, arm und ohne Chancen und ohne Einfluss auf das gesamtgesellschaftliche Geschehen. Ihre - berechtigte - Wut wird nun umgelenkt auf die, die sicherlich für ihre Lage am wenigsten können, auf Ausländer, auf Migranten, und auf Deutsche, die vielleicht schon Generationen hier leben, deren Vorfahren aber irgendwann einmal zugewandert sind. Die wirklichen Probleme in Deutschland sind nicht die religiösen oder kulturellen Unterschiede, es sind die sozialen. Und vor allem davon soll die aktuelle "Integrationsdebatte" ablenken. Mit den intergationsunwilligen Ausländern ist der Sündenbock gefunden: Sie sind die, die für die Probleme Deutschlands die Verantwortung tragen. Sie schaden der "Volksgemeinschaft".

"Wer der deutschen Wirtschaft schadet, muss bekämpft werden!" oder: Autoritäre Persönlichkeit 2.0

Hier kommen wir zu einem sehr interessanten Punkt der FES-Studie. In ihr wird das Konzept der Autoritären Persönlichkeit (unter anderem von Adorno entwickelt) erweitert. Die Identifikation mit Macht und Stärke erfolge heute über die deutsche Wirtschaft, so dass Interessen des Wirtschaftsstandortes mit den eigenen gleichgesetzt werden und man sich der derzeitigen wirtschaftlichen, also der neoliberalen, Ordnung, als der höchsten Autorität unterwirft. Die als gemeinsames, nationales Interesse formulierte ökonomische Rationalität ist dabei zur dominanten Argumentationsfigur geworden, die alle Bereiche des individuellen und persönlichen Lebens erfasst. Für Kenner der Kritischen Theorie ist das im Kern nichts neues, doch in den letzten Jahren hat sich diese Entwicklung sicherlich drastisch verschärft, indem die internationale Standortkonkurrenz im Rahmen der Globalisierung der Weltwirtschaft zum dominierenden Argumentationsmuster geworden ist. Dieser müsse man alles andere unterordnen. Die Solidarität mit gesellschaftlich schwächeren Schichten wird dabei immer mehr unterbunden, da diese, wie es die neoliberale Ideologie predigt, dem Wirtschaftsstandort schadeten. Ihnen werden sogar direkte Aggressionen entgegengebracht. Die Hetze gegen sozial Schwache und Hartz-IV-Empfänger - mit Bezeichnungen wie "Faulenzer", "Sozialschmarotzer" bis hin zu "Parasiten" -, die deutsche Politiker und Medien seit Jahren betreiben, ist nur ein Phänomen. Bis tief in den Charakter der Menschen hat der Egoismus seinen Siegeszug gehalten. Und es ist nicht nur die Oberschicht, die sich diese Persönlichkeitsstrukturen und zutiefst antisolidarischen Verhaltensweisen angeeignet hat.

Ausländer als Sündenbock

In diese Ideologie passt es, dass Berufspolitiker und Massenmedien immer wieder Aggressionen schüren gegen Gruppen, die dem Leitbild des konkurrenzfähigen Wirtschaftsstandortes Deutschland angeblich schaden. Doch diejenigen Strukturen, Prozesse und Akteure, die tatsächlich dafür sorgen, dass Deutschland seine Wohlstandschancen nicht ausschöpfen kann, bestimmen und beherrschen das bestehende System. Stetig wachsende Gewinnquoten, wachsende Allokation im keine realen Güter produzierenden Finanzsektor, sinkende Binnennachfrage, das wären tatsächliche Probleme, die man angehen sollte. Doch selbstversändlich würde unsere Bundesregierung diese unter keinen denkbaren Umständen angehen. Sie hat ohnehin Deutschlands Lage genügend verschlechtert: Die zutiefst unsinnige Finanz- und Wirtschaftspolitik inklusive deutscher und europäischer Schuldenbremse, die Subventionierung ihrer Klientel, Kopfpauschale, sinkende Sozialleistungen, das Versäumen der Energiewende. Dazu kommen die zahlreichen ganz offensichtlichen Pannen der schwarz-gelben Regierungszeit. Doch seit immer stärker werdenden Protesten, natürlich vor allem seit denen in Stuttgart, merkten sie, dass sie ganz schnell ein Thema brauchten, wo man mal so richtig populistisch die Sau rauslassen und alle anderen Themen aus dem medialen Focus drängen konnte. Also war es mal wieder die Hetze gegen Ausländer, die so oft bei politischem Versagen von konservativ-liberalen Regierungen als Ablenkungsmanöver missbraucht werden.

Die Integrationsdebatte als Ablenkungsmanöver

Horst Seehofer fordert einen Zuwanderungsstopp von Arabern und Türken, Angela Merkel sagt, Multikulti sei gescheitert, Kristina Schröder redet von "deutschenfeindlicher Gewalt". Populisten wie Seehofer bolzen für ein paar kurzfristige Wählerstimmen drauf. Doch Seehofer ist nicht das Hauptproblem: Man kann sich bei dieser Art von Politikern sicher sein, dass in ein paar Monaten wieder ein anderes Thema dran sein wird (so hat ja auch Seehofer erstaunlich viele Rollenwandlungen hinter sich, galt er doch früher durchaus als Exponent des sozialen Flügels der Union, forderte dann aber kürzlich eine härtere Gangart gegen Hartz-IV-Bezieher). Natürlich weiß auch er, dass die Zuwanderung nach Deutschland seit langem zurückgeht und längst mehr Menschen aus Deutschland aus-, als nach Deutschland einwandern - auch Türken. Natürlich hat Christian Wulff in vielen Punkten zu dem Thema recht - nur damit kann man nicht so schön eine Show der empörten Stammtische veranstalten. Ein Spuk, der wohl bald wieder vorbei sein wird.

Die Geister, die man rief

Die Gefahr kann eher darin liegen, was diese Leute mit ihrer opportunistischen, unüberlegten Verbreitung von Vorurteilen anrichten. Die öffentliche Meinung ist gerade bei diesem Thema sehr anfällig für einfache Erklärungsmuster, und die plumpen Parolen, die die Politiker selber in den seltensten Fällen glauben, nehmen viel zu viele für bare Münze. Anders wären die oben zitierten Zustimmungsraten und ihr Anwachsen in den letzten Jahren schwer zu erklären. Außerdem könnte die Verwendung rechter bis teilweise rechtsradikaler Äußerungen und Ansichten durch konservative Politiker eine weitere Gefahr beinhalten: Vielleicht werden sie eines Tages die Geister, die sie riefen, nicht mehr los. Denn es könnte sich zusammenfinden, was bisher oft als grundlegend unterschiedliche Richtungen angesehen wurde, im Kern aber schon immer zusammengehört hat: die "klassischen" deutsche Rechte, die Antisemiten und Rassisten, die neurechten völkischen Bewegungen, bis zu den neokonservativen Islamhassern. Viele deutsche Medien können die Rechtspartei kaum erwarten, viele andere europäische Länder und auch Umfragen in Deutschland legen nahe, dass für diese durchaus Potential da wäre. Eine deutsche Tea-Party etwa wäre eine reale Gefahr für die Bundesrepublik, wie wir sie (noch?) kennen.

Bilder:

kopperschlaeger.net / CC-BY-NC-ND 3.0

Umschlagtitel der FES-Studie

Flickr (Tobias Goldkamp) / CC-BY-NC-SA 2.0


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