Die hölzerne Hochzeit: Charley Chase auf Super8

Erstellt am 4. Juli 2012 von Michael

Was hier folgt, ist eine erweiterte und überarbeitete Fassung zweier Charley Chase-Artikel dieses Blogs, vom Juni und vom Dezember 2010, eine Fassung, die ich für die Schmalfilmzeitschrift cine 8-16 verfasst habe und als “Vor-Abdruck” hier veröffentliche.
Der Text enthält Informationen über diesen vergessenen Filmkomödianten und über die Super8-Ausgabe seines Stummfilms His Wooden Wedding.

CHARLEY CHASE
- eine Wiederentdeckung auf Super8

Chaplin, Keaton, Lloyd – das sind unbestritten die “grossen drei” der Stummfilmkomödie. Doch immer wieder ist von einem “vierten Clown” die Rede. Bei einigen Stummfilmenthusiasten gilt Harry Langdon als Anwärter auf diesen Titel. Für andere (u.a. den Autor dieser Zeilen) ist es Charley Chase. Aber… wer war Charley Chase?

Der Name ist heute nur noch ganz wenigen deutschsprachigen Filmfreunden geläufig. In Erinnerung dürfte er aber all jenen sein, die den Laurel & Hardy-Langfilm Sons of the Desert (dt.: Die Wüstensöhne) kennen. Dort hat unser Mann einen unvergesslichen Auftritt als Ollies Schwager, der mit seiner grossen Klappe und seiner kindsköpfigen Art die Besucher des Wüstensöhne-Kongresses nervt.

Unvergessen: Als Ollies Schwager im Laurel & Hardy-Film “Sons of the Desert” ist Chase auch heutigen Kinogängern noch in Erinnerung.

Mit diesem denkwürdigen Auftritt stahl Chase sogar Stan und Ollie kurzzeitig die Show – und das, obwohl er sonst nicht auf den dort verkörperten Rollentyp spezialisiert war.
Älteren Semestern ist Chase zudem vielleicht aus der Serie “Väter der Klamotte” bekannt, welche nicht wenige Episoden aus Chases Tonfilmschaffen ins deutsche Fernsehen brachte.
Super8 oder genauer: die ehemalige US-Schmalfilmfirma Blachawk Films, hilft beim Erinnern oder Neu-Kennenlernen.

Chase – der mit richtigem Namen Charles Parrott hiess – begann wie viele seiner berühmten Kollegen, in wandernden Vaudeville Shows und landete schliesslich in Mack Sennetts Studio, wo er als komischer Nebendarsteller verpflichtet wurde. So taucht er in kürzeren oder längeren Rollen immer wieder in den von Sennett produzierten frühen Kurzfilmen Charlie Chaplins oder Fatty Arbuckles auf. Sein Interesse am Filmhandwerk führte dazu, dass Sennett ihn auch als Regisseur einzusetzen begann – ein “Nebenjob”, den er bis an sein Lebensende weiterverfolgen sollte. Er verliess Sennett und arbeitete als Regisseur an verschiedenen Stummfilmkomödien des Chaplin-Imitators Billy West. Als Regisseur lernte Chase schliesslich Oliver Hardy kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband.

Das Schicksal führte ihn – ebenfalls zunächst als Regisseur – in Hal Roachs Studio, wo er mehrere Einakter mit dem schnauzbärtigen Snub Pollard inszenierte und schliesslich zu Roachs Hauptregisseur avancierte, der die gesamte Filmproduktion des Studios kontrollierte.

Als nun Harold Lloyd, damals schon einer der grössten Stummfilmstars, Hal Roach im Jahr 1923 verliess und ein eigenes Filmstudio gründete, suchte Roach nach einem Ersatz. Er überredete Charles Parrott, in die Lücke zu springen und holte ihn somit zurück vor die Kamera. Er willigte ein, änderte seinen Namen in Charley Chase und drehte eine Reihe von Einaktern, die derart populär waren, dass Roach schon bald Chase-Filme in doppelter Länge anfertigen liess.

Ab Mitte der 20er Jahre avancierte Charley Chase zum unbestrittenen Starkomiker bei Hal Roach und schuf, zusammen mit seinem Stamm-Regisseur Leo McCarey, feine Film-Miniaturen, Komödien der Irrungen, die aufgrund ihres hohen gestalterischen Niveaus zum Besten zählen, was die Kurzfilmproduktion in der Stummfilmzeit hervorbrachte. Chase selber hatte hohen gestalterischen Anteil an seinen Werken, was zu einem unverwechselbaren Chase-Stil führte.
Genau wie die “grossen drei” war er massgeblich an der Produktion, der Regie, dem Look und dem Inhalt seiner Komödien beteiligt, und kann somit als “auteur” bezeichnet werden. Produzent Hal Roach liess seinen Leuten ja bekantlich weitgehend freie Hand, was sich bei den talentierteren von ihnen (zu denen auch Stan Laurel zählte) positiv auf die Filme auswirkte.

Werbung für Kinobetreiber aus Charleys erfolgreicher Stummfilm-Zeit

Als Regisseur Leo McCarey zu Beginn der Tonfilmzeit von der „Chase-Abteilung“ abgezogen und dem immens an Popularität zulegenden Duo Laurel & Hardy zugeteilt wurde, drehte Chase mit anderen Regisseuren weiter: Mit Warren Doane, James W. Horne und mit seinem Bruder James Parrott. Parrott und Horne, die beide auch zahlreiche Laurel & Hardy-Tonfilme inszeniert hatten, konnten weniger gut mit Chases spezifischer Art von Humor umgehen, welcher der “sophisticated Comedy” Hollywoods näher stand als dem ausgelassenen Slapstick Laurel & Hardys, und so fielen Chases erste Tonfilme qualitativ deutlich hinter seine Stummfilme zurück.
Erst als Chase begann, seine Filme selbst zu inszenieren (unter seinem richtigen Namen, Charles Parrott), ging es zumindest qualitativ wieder deutlich aufwärts.

Doch dann kam der Abstieg. Er zog sich über vier Jahre hin und endete mit dem Tod des Komikers.
1937 entliess Roach Chase nach einem missglückten Langfilmprojekt (mehr davon in einem späteren Artikel). Er kam darauf bei Columbia unter, wo er weitere Kurzkomödien drehte und bei einigen der besten Filmen mit den “Three Stooges” Regie führte, wieder als Charles Parrott.
1940 starb er, wie sein Bruder ein Jahr zuvor und wie sein Vater, an Herzversagen. Er wurde 46 Jahre alt.

Heute sind Charley Chase und seine Filme praktisch vergessen. Es gibt einiges Weniges von ihm in den USA auf DVD, ausschliesslich Stummfilme. Sein gesamtes Tonfilmschaffen bleibt heute weiterhin im Dunkeln.

Doch es gab die Firma Blackhawk, und die hatte Zugang zu Hal Roachs Archiv. In den Sechziger- und Siebzigerjahren brachte sie eine stattliche Anzahl von Chase-Zweiaktern (Ton- und Stummfilme) für den Heimkinomarkt in den Verkauf und holte so den vergessenen „vierten Clown“ zumindest in Amerika wieder ins Bewusstsein der Filmfreunde zurück. Wer Chases Filme heute studieren will, kommt also um die Schmalfilme der Firma Blackhawk nicht herum.

Die Braut mit dem Holzbein

Chases besten Komödien sind kleine Kurzfilm-Juwelen, die es mit den Werken seiner bekannteren Kollegen von anno dazumal locker aufnehmen können. Zu seinen besten stummen Werken gehört unbestreitbar His Wooden Wedding, ein Kurzfilm, aus dessen Inhalt man problemlos einen Abendfüller machen könnte.

Die folgende Rezension bezieht sich auf die von Blackhawk Films Ende der 70er-Jahre herausgegebene Super8-Version des Films, der in einer stummen und einer mit Begleitmusik unterlegten Fassung erhältlich war und mit etwas Glück im Internet gebraucht erworben werden kann. Die stumme Fassung taucht immer mal wieder bei eBay auf, während die Tonversion äusserst schwer zu finden ist. Mehr dazu am Schluss. Wenden wir uns zunächst dem Inhalt zu:

Charley heiratet Katherine – eine High-Society-Hochzeit, wie sie im Buche steht – wäre da nicht Charleys “Freund”, der dem Publikum ziemlich bald als eifersüchtiger ehemaliger Nebenbuhler vorgestellt wird.
Dieser Freund macht Charley kurz vor dem Betreten des Traualtars glauben, die Braut hätte ein Holzbein. Ein paar Handgriffe und ein dummer Zufall überzeugen Charley vom Wahrheitsgehalt dieses Hinweises – in heller Panik sucht er das Weite. Der Nebenbuhler will noch mehr; unter dem Vorwand, das Familienerbstück zu Charley zurückzubringen, luchst er Katherine den Ring mit dem wertvollen Diamanten ab, den Charley seiner Angebeteten einst geschenkt hatte.
Im Bemühen, den Ring einzustecken, wird er vom inzwischen sturzbetrunkenen Charley überrascht und kann das Schmuckstück gerade noch in der Hutkrempe verstecken – allerdings erwischt er dabei Charleys Hut. Charley hat eine Seereise gebucht, um über sein Leid hinwegzukommen, schnappt sich seinen Hut und schlingert in Richtung Hafen – im Schlepptau: der Nebenbuhler.

Mittlerweile hat der Vater der Baut den fatalen Holzbein-Irrtum aufgedeckt und hastet Charley mit Katherine hinterher.
Von da an läuft die Geschichte auf zwei Schienen weiter: Die eine zeigt das Hasch-mich-Spiel um den im Hut versteckten Ring, die andere die Verfolgung Charleys durch die Braut und ihren Vater.

Es klingt unglaublich, aber trotz der scheinbar voll beladenen Handlungsebene finden Chase und Regisseur McCarey immer noch Zeit, eine Vielzahl wunderbarer Kabinettstückchen einzubauen, charmante Szenen, die das Charisma dieses und vieler anderer Chase-Filme ausmachen. Hier ist es u.a. eine Sequenz, in welcher Charley enteckt, dass über Bord geschmissene Hüte vom Fahrtwind wie ein Bumerang zurückgeblasen werden. Dabei wird nicht nur das komische Potential dieser Idee ausgeschöpft, sie stellt am Schluss den Bezug zur Haupthandlung wieder her, denn natürlich fliegt neben der Mütze des Kapitäns auch der Zylinder mit dem Ring über Bord, was für weitere Verwicklungen sorgt, in welche die damals bekannte Komödiantin Gale Henry als liebeshungrige alte Jungfer eingebunden wird.

His Wooden Wedding ist, wie die meisten Filme Chases keine reine Slapstick-Komödie, sondern kann als früher Verteter der Screwball-Comedy bezeichnet werden. Sie spielt im Upper-Class-Milieu, und der Ursprung der Komik ist ein im Grunde normaler Zeitgenosse, der plötzlich vor unvorhersehbare und absurde Widrigkeiten gestellt wird, die er meistern muss. Und nicht nur in diesem Film wird dabei von einer vollkommen absurden Voraussetzung ausgegangen. Welcher Bräutigem entdeckt erst am Tag der Hochzeit, dass seine Braut ein Holzbein hat? Die Kunst des Charley Chase besteht unter anderem darin, dem Publikum solche Unglaubwürdigkeiten zu verkaufen, indem nonchalant und mit komischem Understatement darüber hinweggegangen wird (ein herrlich zweideutiger Zwischentitel lautet etwa: “Stop! I’ve been engaged to a girl with a wooden leg – I must break it off!” – “Halt! Mein Gelübde gilt einem Mädchen mit Holzbein. Ich muss es brechen!”). Die Zufälle, die dem Nebenbuhler zu Hilfe kommen, Charley von der Existenz des Holzbeins zu überzeugen, sind genauso implausibel wie die Ausgangslage, doch die Handlung schreitet in solchem Tempo voran, dass dies erst bei einer zweiten Sichtung – wenn überhaupt – auffällt. Chases Komödien folgen eigenen Gesetzen, die ein Erzählen in grossen Sprüngen erlauben und somit genügend Platz schaffen für komödiantische Kabinettstückchen und zahlreiche Gags. Im Laufe seiner Karriere führte Chase die Struktur der narrativen Verkürzung zur Vollendung, eine Kunst, die seinen Filmen ein ganz eigenes Flair verleiht, zumal sie mit soviel Charme und Schalk betrieben wird, dass man die zahlreichen Unglaubwürdigkeiten gerne als gegeben hinnimmt.

Die Super8-Fassung in der typischen Blackhawk-Pappschachtel aus den 70er-Jahren

Die von Blackhawk herausgebrachte Super8-Fassung präsentiert den Film in seiner vollständigen Fassung, komplett mit den originalen Anfangs- und Zwischentiteln, zusätzlich zum typischen Anfangstitel mit Blackhawk-Logo. Eine Textafel mit einem einleitenden historischen Text gehörte bei Blackhawks Stummfilm-Ausgaben dazu, hier beschränkt sich der Text auf eine Tafel.
Die Bildqualität lässt sich als noch gut bezeichnen, sehr gut wäre wohl übertrieben, denn eine wirklich gute Bildschärfe lässt sich auf normale Projektionsdistanz (3,5 m) nicht erreichen, alles bleibt trotz durchweg gutem Kontrast leicht schwummerig. Eine befriedigende Tiefenschärfe fehlt, das Bild wirkt flach, wie das bei praktisch allen von Blackhawks Roach-Ausgaben der Fall ist. (Das hat allerdings mehr mit der häufig zweitrangigen Qualität der im Roach-Filmarchiv befindlichen Kopien zu tun als mit der minderen Kopierqualität des Herausgebers).
Was allerdings am ehesten negativ ins Gewicht fällt, ist die von Blackhawk aufgespielte Begleitmusik. Es handelt sich um Versatzstücke, die in sämtlichen von Blackhawk herausgebrachten Stummfilmvertonungen von Roach-Kurzfilmen auftauchen, kurze extra komponierte Stimmungsstücke, die nach Bedarf aneinandergereiht werden konnten. Im Laurel & Hardy-Klassiker Big Businesspassten die Stücke hervorragend, hier leider nicht. Zu oft werden hier immer wieder dieselben schwachbrüstigen musikalischen Phrasen wiederholt, Phrase notabene, die bereits beim ersten Auftauchen nerven. Die Wahl der Begleitmusik ist bei Stummfilmen essentiell – sie kann Szenen oder gar einen ganzen Film auf- oder abwerten. Hier tritt zwar nicht gerade der zweite Fall ein, aber von Aufwertung kann leider auch nicht gesprochen werden.
His Wooden Wedding ist ein Film, der seine Wirkung – jedenfalls nach meinem Dafürhalten – in der stummen Fassung besser entfaltet als in der Tonfassung. Es lohnt sich also durchaus, im Internet nach der stummen Version von His Wooden Wedding Ausschau zu halten.

Weitere lohnende Stummfilme mit Charley Chase, die auf Super8 oder 16mm erhältlich sind:
- Movie Night (1929, Blackhawk)
- Crazy Like A Fox (1926, Blackhawk)
- Mighty Like A Moose (1926, EmGee)
- Innocent Husbands (1925, EmGee)

Bewertungsspiegel “His WoodenWedding”
Lieferbar auf          Super8, s/w, stumm oder Magnetton; 16mm, s/w, stumm oder Lichtton
Testprojektor         Bauer T502
Projektionsabstand      3,5 m
Betrachtungsabstand      3 m
Bildformat         1:1,33
Filmmaterial         Kodak-Eastman Azetat (s/w)
Bildqualität         gut
Bildschärfe         noch gut
Bildstand         gut
Ton (Mono)         gut
Laufz (24 B / Sek)      ca. 20 min
Anbieter         Blackhawk Films

Info:
Originaltitel:
 His Wooden Wedding. Herstellungsland/-jahr: USA 1925. Laufzeit: ca. 20 Minuten. Regie: Leo McCarey. Kamera: Glen R. Carrier. Schnitt: Richard Currier. Zwischentitel:H. M. Walker. Produktion: Hal Roach
Darsteller: Charley Chase (der Bräutigam), Katherine Grant (die Braut), Gale Henry (Frau auf dem Schiff), Fred De Silva, John Cossar u.a