Die heilige Kuh „Konsum“ wird nicht geschlachtet

Der gefühlte 20. EU-Gipfel zur Eurorettung ist vorüber und erneut ist das Ergebnis eher ein Zeichen von operativer Hektik, die ja bekanntlich ein Zeichen geistiger Windstille darstellt, als ein strategischer Befreiungsschlag für den Euro und die Eurozone. Die Briten haben sich ins Abseits gestellt und Angela Merkel und Nicolas Sarkozy feiern die Ergebnisse, als handle es sich um ein Jahrhundertereignis. Die Kommentatoren sind sich einig, dass die Beschlüsse die kurzfristigen Probleme nicht lösen werden und die langfristige Wirkung sich erst im Rückblick beurteilen lassen wird. Niemand wagt die heilige Kühe Wachstum und Konsum zu benennen, geschweige denn zu schlachten. Aber grenzenloses Wachstum ist in einem lebenden System nicht machbar. Wer sich weigert das Wachstumsparadigma zu diskutieren und zu hinterfragen, wird dauerhaft keine Lösung der Wirtschafts- und Finanzkrise finden. Natürlich ist jetzt zu allererst Notfallmedizin angesagt, nur muss der Patient Europa und dessen Einwohner über einen gesünderen und vernünftigeren Lebenswandel nachdenken, wenn er nicht permanent auf der Intensivstation landen will.

Die heilige Kuh „Konsum“ wird nicht geschlachtet

Hauptsache wir kaufen (c) Wilhelmine Wulff/pixelio.de

Das Leistungsversprechen gilt schon lange nicht mehr

Der globale Finanzkapitalismus zeigt die Fratze des Unbeherrschbaren und des zügellosen Egoismus und ist damit zu einer Krise der bürgerlichen Identität geworden. Die 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts waren geprägt von einem historischen Missverständnis und damit von einer Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Folgen der nahezu unreglementierten Finanzmärkte. Das bürgerliche Versprechen, dass Leistung sich lohne, hat sich längst ad absurdum geführt. Wir verwechseln finanziellen Erfolg viel zu oft mit diesem bürgerlichen Paradigma, das die Gesellschaft über nahezu 200 Jahre prägte und sich mit der protestantischen Arbeitsethik im Sinne von Max Weber zu einem fast religiösen Heilsversprechen mauserte. Allerdings ist die individuelle Leistung eines Börsengewinns und von Finanztransaktionen nicht mehr mit dem althergebrachten Leistungsbegriff kompatibel. Es zählt nicht mehr die Leistung, die an Arbeitsstunden erbracht wurde, nicht mehr die Leistung, die an Wissen oder in Form von Produktionsgütern in eine Gesellschaft eingebracht wird, sondern nur mehr jene Leistung, bei der sich Geld durch Geld vermehrt.

Es ist der Finanzelite gelungen, das Wortfeld Leistung mit all seinen Ver- und Entsprechungen, mit materiellem Erfolg gleichzusetzen. Damit wurde der Begriff Leistung, ähnlich wie Tschernobyl und Fukushima, auf unabsehbare Zeit kontaminiert und in Misskredit gebracht. Die Politikerinnen und Politiker waren willfährige Vollstreckungsgehilfen dieses Paradigmenwechsels im bürgerlichen Denken. Das Versprechen des sozialen Aufstieges durch die individuelle Leistungsbereitschaft hat sich in realita jedoch verabschiedet und ist einem ausschließlichen Diktat des wirtschaftlichen Erfolges gewichen. Die dunkelsten Ahnungen, die uns erfassten, als Michael Douglas den skrupellosen Börsenmakler Gordon Gecko in Wall Street verkörperte, wurden extrem übertroffen und übersteigen unsere kühnsten und apokalyptischsten Vorstellungen bei Weitem. Diese Entwicklung führte nicht nur, wie wir jetzt sehen, zu einer wirtschaftlich unkalkulierbaren Größe, sondern gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft nachhaltig und droht sogar die Demokratie zu gefährden.

Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass die Finanzmärkte die Politik bestimmen und schon aus diesem Grund den Glauben in die staatlichen Organisationen und ihre Vertreterinnen und Vertreter verloren. Die immense Jungendarbeitslosigkeit in Europa hält eine ganze Generation vom gesellschaftlichen und sozialen Aufstieg ab. 40% Jungendarbeitslosigkeit in manchen Ländern Europas führen zu einer emotionalen Gemengelage, die sich im Zweifelsfall gewalttätig Luft macht. Die friedlichen Proteste der spanischen Jugend können hier als Vorstufe gesehen werden. Die Auseinandersetzungen und Straßenschlachten in Griechenland sind bereits die nächste Eskalationsstufe. Sollte die Politik dauerhaft keine Antworten auf die Fragen der Jugendlichen finden, die auch in deren Alltag sichtbar werden, dann wird die Frustration auch in Spanien einen Anlass zur Gewalt finden und wir werden auch darüber hinaus in Europa wieder mit Jugendrevolten konfrontiert sein. Die politischen Ansätze zur Bewältigung der gesellschaftlichen Probleme wirken bis jetzt aber nicht gerade souverän und überzeugend. Die Lösung eines komplexen Problems ist in der Regel durch einfache Rezepte nicht möglich, obwohl wir uns doch alle danach sehnen und darauf hoffen.

Die einfache Erklärung hilft nicht bei der Lösung der globalen Probleme

Wenn es noch eines Beweises für die postmoderne Idee des „Endes der großen Erzählungen“ bedurft hat, dann wird dieser heute im Umgang mit der Finanz- und Währungskrise sicherlich geliefert. Jean-Francois Lyotard hat mit dieser Aussage den Finger in die Wunde aller Welterklärer und -verbesserer gelegt. Denn mit seinem gesellschaftlichen Erklärungsmodell hat er die Unsicherheit zur Regel ernannt und aufgezeigt, dass es keine eindimensionalen Lösungsansätze, die alles abdecken, woran die Gesellschaft krankt, geben kann. Gerade in wirtschaftlich schweren Zeiten und in gesellschaftlichen Krisen wird dies zu einer großen Belastung. Denn im Grunde sehnen wir uns nach wie vor nach großen Politikern wie Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und als Letzten seiner Art Helmut Kohl, ohne Rücksicht zu nehmen auf den immensen Komplexitätszuwachs und vor allem die immer geringer werdende Bedeutung und Einflussmöglichkeiten der Nationalstaaten und deren Regierungen.

Der extrem zugenommene Informationsfluss und die Entwicklung der Welt zum „globalen Dorf“ führen zusätzlich zu Irritationen und Verunsicherung der Menschen. Mein Urgroßvater und mein Großvater wussten über den Rest der Welt und die Auswirkung ihres Lebenswandels auf das ökologische und soziale Gleichgewicht auf dieser Erde relativ wenig. Wir sind uns jedoch bewusst, dass unser Planet völlig überfordert ist und kollabieren würde, wenn die Bewohner des indischen oder afrikanischen Kontinents je unseren heutigen Lebensstandard erreichen würden. In diesem Zusammenhang sehen wir uns sehr wohl mit der Sinn- und Nutzlosigkeit des Wirtschaftswachstums konfrontiert. Wenn es jedoch darum geht, unseren eigenen Konsum und das Wirtschaftswachstum in Europa bzw. der westlichen Welt zu hinterfragen, sieht es schon wieder ganz anders aus. Immer deutlicher zeichnet sich dennoch ab, dass wir unseren heutigen Lebensstil nicht mehr sehr lange über die Zeit retten werden können. Längst gleicht die westliche Konsumgesellschaft dem angezählten Boxer, von dem jeder weiß, dass er demnächst ausgeknockt werden wird. Uns bleibt aber nicht einmal die Hoffnung auf den „lucky Punch“, der die Spannung eines solchen Kampfes zumindest für das Publikum noch etwas erhält. Karl Marx hat in seinem Werk „Das Kapital“ im dritten Buch schon darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus an seinen Finanzspekulationen zugrunde gehen wird. Aus heutiger Sicht können wir seine Analyse teilen, allein sein Rezept des Sozialismus gleicht den „großen Erzählungen“ der Religion und ist schon deshalb zum Scheitern verurteilt, wie die Geschichte ja bereits belegte.

Die Diagnose ist gestellt, die Therapie oft nicht nachvollziehbar

Wir wissen, woran unser System krankt und viele Therapien sind in der Diskussion, ohne dass heute noch jemand für sich in Anspruch nehmen könnte, die Königsidee oder die Lösung schlechthin gefunden zu haben. Politik und die Bekämpfung der verschiedenen Krisen geschehen heute, so hat man zumindest auf große Strecken den Eindruck, vor allem nach der Idee „Versuch und Irrtum“. Politikerinnen und Politiker revidieren ihre Ideen zur effektiven Bekämpfung der Finanzkrise beinahe wöchentlich. Natürlich kann sich keine Politikerin und kein Politiker hinstellen und dies zur Maxime ihres oder seines Handelns erheben, führe dies doch zu noch größerer Verunsicherung, mit der wir Menschen offensichtlich noch schwerer umgehen können, als mit einer jedermann bewussten, aber verdrängten Wahrnehmungsverzerrung. Die bequeme Lüge ist für uns offensichtlich noch immer leichter zu ertragen als die grausame Wahrheit. Wir erwarten – so wie eh und je – den unerschütterlichen Steuermann, der in stürmischen Zeiten um jeden Preis den Kurs hält und uns Anweisungen gibt, wie wir unbeschadet durch die schwere See an das rettende Ufer kommen. Außerdem neigen wir dazu, den Status quo erhalten zu wollen. Viele meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner versichern mir durchaus engagiert und glaubhaft, dass es so nicht weitergehen könne und dass sich etwas ändern müsse. Allerdings erklären mir die meisten auch gleichzeitig, dass sie allerdings ohnehin schon alles machten oder dass sie alleine die Welt nicht ändern könnten. Im Prinzip meinen sie nichts anderes wie: „Für mich soll sich nichts ändern, ich bin ohnehin ein „Guter“ und schon aus diesem Grund ist es schwierig, unser System zu hinterfragen, geschweige denn sogar den Absprung aus der Konsumgesellschaft zu schaffen. Die „üblichen Verdächtigen“ aus Politik und Wirtschaft sehen nur in zusätzlichem Konsum eine Lösung des Problems. Niemand von ihnen übernimmt freiwillig das Selbstmordkommando und erklärt der Bevölkerung, dass der Abschied vom Konsum auch bedeutet, lieb gewonnene Gewohnheiten zu opfern und auf Wohltaten unserer Zeit zu verzichten. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Es ist weder ökologisch noch wirtschaftlich vertretbar, dass ich um 100 Euro von Wien nach Berlin und zurück mit dem Flugzeug befördert werde. Aber diesen „Luxus“, der auf Kosten unserer Umwelt konsumiert wird, möchte niemand infrage stellen, ohne sofort Angst zu bekommen, hunderttausende Wählerstimmen zu verlieren.

Wachstum und Konsum sind längst ein großer Teil der globalen Probleme

Der Abschied von der Konsumgesellschaft bedeutet letztlich Verzicht auf Güter aber auch Bequemlichkeiten wie z.B. den Transport von A nach B mit dem eigenen Auto. Da dies auf freiwilliger Basis eher schwierig durchzusetzen zu sein scheint, muss dieser Verzicht über Abgaben und Steuern bzw. durch einen gesellschaftlichen Konsens geschaffen werden. Es darf eben nicht länger cool sein, einmal schnell für ein Wochenende nach Berlin oder New York zu fliegen. Man ist eben nicht nur hip, wenn man ein I-Phone, I-Pad und sonstige I-Produkte besitzt oder sich leisten kann, sondern man muss sich gleichzeitig auch bewusst sein, dass dafür Bodenschätze minimiert werden und allzu viele Menschen unter unwürdigen Bedingungen in der Produktion dieser Güter eingesetzt werden. Die gesellschaftliche Verfasstheit muss wieder mehr auf soziale Erlebnisse und Verantwortung abzielen und sich der friedensstiftenden Funktion des sozial und ökologisch nachhaltigen Handelns bewusst werden. Wir müssen uns Gedanken über ein Wirtschaftssystem mit vernünftigem Konsum machen, wobei die Auswirkungen unseres Konsumverhaltens noch viel transparenter werden müssen. Die Industrie muss dazu angehalten werden, die Selbstzerstörung ihrer Produkte zu minimieren. Die Folgen unseres am Konsum orientierten Lebensstils müssen noch stärker in ihrer Komplexität verstehbar und nachvollziehbar gemacht werden. Das grundsätzlich Schöne an der menschlichen Vergesslichkeit und der Fähigkeit zur Verdrängung wird hier zum Hauptproblem. Wir können die Komplexität und die Folgen unseres Tuns eben nicht bis zum Ende der Wirkungskette hin durchdenken. Hier bedarf es durch Aufklärung des Gewahrwerdens der Problematiken und damit einhergehend eines Paradigmenwechsels. Dass dies sicher eine längere Phase der Anpassung benötigt, steht außer Zweifel. Die Umweltbewegung der 80er Jahre hat dazu sicherlich schon einen großen Beitrag geleistet und uns auf diesen Themenbereich überhaupt sensibilisiert. Allerdings muss hier noch viel getan und Bewusstsein geschaffen werden, um dies auch auf ein globales Niveau zu heben. Gerade die nationalen Egoismen sind für die Lösung solcher komplexen Wirkzusammenhänge eher als Hemmschuh zu betrachten. Die Finanzkrise zeigt ja mehr als deutlich, dass es vielversprechende Ansätze zur Lösung des einen oder anderen Problemkreises gibt, die nationalen Befindlichkeiten einer Lösung allerdings immer wieder im Wege stehen.

Gerade die Occupy-Bewegung macht allerdings auch Mut darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger sich global vereinigen und damit ihre nationalen Regierungen unter Druck setzen werden. Vor allem die US-Administration wird auch im Hinblick auf die nächsten Präsidentschaftswahlen diesbezüglich unter Handlungsdruck geraten. Es bleibt zu hoffen, dass gerade auch mithilfe der Krise der Ausstieg aus der blinden Wachstumsökonomie gelingt und wir unsere Wirtschaft in Zukunft sozial und ökologisch verantwortungsvoller ausrichten werden. Eines ist sicher: Wir leben in spannenden Zeiten und ich bin extrem neugierig, wie sich unsere Gesellschaft in den nächsten 20 Jahren verändern wird. Dass sie es tun muss, davon bin ich überzeugt.


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