Am 1. Mai 1886 demonstrieren 80.000 Arbeiter auf der Michigan Avenue in Chicago für den Achtstundentag. Drei Tage später explodiert auf dem Haymarket eine Bombe. Haben Anarchisten oder bezahlte Agenten des Kapitals die Tat begangen? Um diese Frage geht es in meinem neuen Krimi "Mit Müh und Not".
Das erste Kapitel, das es hier als bebilderte Leseprobe gibt, schildert den Ablauf des Ereignisses, das als sogenannte "Haymarket Riot" in die Geschichte eingegangen ist.
4. Mai 1886
Ein leichter Nieselregen setzte ein. Andreas Brenner stand in der ersten Reihe vor dem als Bühne genutzten Pferdewagen und knöpfte sich die Jacke zu. Hinter sich hörte er Gemurmel und gelegentliche Zwischenrufe aus der Menge, die in der dunklen Straße versammelt war, um die führenden Anarchisten Chicagos reden zu hören.
Aus der Menge kamen Rufe: »Freiheit! Brot!«
Auch an diesem Abend riss Parsons das Publikum mit. Er prangerte insbesondere das Verhalten der Staatsmacht an: »Statt das Volk, also euch, die Arbeiter, zu schützen, verstehen es Polizei und Nationalgarde als ihre Aufgabe, die Macht des Kapitals zu erhalten.« Seine Stimme wurde lauter. »Freiwillig werden euch die Blutsauger nichts geben, keinen Achtstundentag, keinen fairen Lohn, keine Mitbestimmung. Aber der Tag naht, an dem die Arbeiter in der ganzen Welt die Fesseln der Lohnsklaverei abschütteln und die Ausbeuterklasse vernichten werden!«
Andreas bewunderte Spies und Parsons. Seit Monaten hatten sie die Arbeiter dazu aufgerufen, sich zu bewaffnen, damit sie sich gegen die brutalen Übergriffe der Polizei schützen konnten. Die beiden waren jedoch gemäßigt im Vergleich zu dem in New York lebenden Johann Most, der ganz offen zum gewaltsamen Umsturz aufrief. Most hatte auch in Chicago eine ganze Reihe von Anhängern. Darunter war der Vorarbeiter in der Setzerei der Arbeiter-Zeitung, Adolph Fischer. Kein Tag verging, an dem Fischer nicht genau wie Most von der »Propaganda der Tat« und der befreienden Kraft des Dynamits schwärmte.
Fischer willigte schließlich kopfschüttelnd ein, der Text wurde geändert und das Flugblatt neu gedruckt, aber einige Exemplare der alten Fassung waren wohl doch verteilt worden, denn Andreas hatte eines von ihnen in der Hand eines Kundgebungsteilnehmers gesehen. Wenn Spies das erfuhr, würde er sicher sehr ungehalten werden. Schon heute Abend nach seiner Ankunft auf dem Haymarket war er wütend geworden: Außer ihm war kein anderer Redner da und er musste sich selbst um weitere Sprecher kümmern. »Ich verstehe das nicht«, hatte Spies zu Andreas gesagt. »Was hat sich Fischer dabei gedacht, keine englischen Redner einzuladen? Der will Revolution machen, ist aber nicht mal in der Lage, eine Kundgebung auf die Beine zu stellen.«
Andreas mochte den trotz aller revolutionären Leidenschaft eher besonnen vorgehenden Spies. Für ihn war der Zeitpunkt für eine Revolution noch nicht gekommen, vor allem weil die Arbeiter nicht ausreichend organisiert waren. Eine Niederschlagung wie bei der Pariser Kommune vor fünfzehn Jahren musste unbedingt vermieden werden, hatte er neulich erst während einer Arbeitspause erklärt und betont, den Gewerkschaften käme eine besondere Rolle zu. Fischer dagegen nannte den Kampf um Reformen wie den Achtstundentag »nutzlose Spielerei«.
In Gedanken mit den Streitereien zwischen Spies und Fischer beschäftigt, hatte Andreas der Rede von Albert Parsons nur mit halbem Ohr zugehört. Der hatte gerade zu Ende gesprochen, begleitet von heftigem Applaus und zustimmenden Rufen. Parsons, der mit seiner Frau Lucy und seinen zwei kleinen Kindern gekommen war, stieg vom Wagen und gab bekannt, dass er wegen des stärker werdenden Regens mit seiner Familie in die nahe gelegene Arbeiterkneipe Zepf’s gehen würde.
»Uns wurde der Krieg erklärt«, rief Fielden. Seine kräftige Stimme hallte trotz des Windes von den Fassaden der unbeleuchteten Fabrik- und Geschäftsgebäude auf beiden Straßenseiten wider. »Und ich fordere euch auf: Nutzt, was ihr könnt, um dem Angriff des Feindes zu widerstehen!« Der Redner hielt inne und schien über die Menge hinweg etwas zu beobachten. Jemand rief: »Da kommen die Bluthunde!«
Ungefähr zweihundert Polizisten marschierten im Eiltempo, in voller Straßenbreite und in mehreren Reihen hintereinander auf die Kundgebung zu. Viele der Uniformierten hatten Schlagstöcke in der Hand, manche sogar Revolver. Die Menge wich zurück.
Friedlich, dachte Andreas zornig. Die Polizisten standen mit Waffen in der Hand da! Dass Bonfield das Kommando führte, ließ ihn Böses ahnen. Andreas hatte letzten Sommer beim Streik der Straßenbahner mit eigenen Augen gesehen, wie Bonfield einen unbeteiligten alten Mann bewusstlos geknüppelt hatte.
August Spies kletterte zurück auf den Wagen und flüsterte Fielden ein paar Worte ins Ohr. Dieser rief daraufhin in Richtung Polizei: »Wir sind friedlich!«
Auf dem Platz herrschte absolute Stille. Der Hauptmann wiederholte seinen Befehl Wort für Wort.
Es herrschte Chaos. Schreie, Schüsse, Hunderte Menschen, die fortzulaufen versuchten. Andreas wurde von der Menge gegen eines der großen Wagenräder gedrückt. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, sich frei zu machen und unter das Fuhrwerk zu kriechen. Seine Gedanken rasten. War das Dynamit gewesen? Andreas musste an Adolph Fischer und seine Schwärmerei für den Sprengstoff denken.
Zwei Männer krochen unter den Wagen, ohne Andreas in der Dunkelheit zu bemerken. »Diese Idioten feuern auf alles, was sich bewegt!«, fluchte einer von ihnen auf Englisch und mit irischem Dialekt. Der andere schrie: »Nicht schießen, Kollegen!« Das waren Polizisten! Andreas rutschte auf allen vieren rückwärts. Die Polizisten waren sicher nur eine Armlänge von ihm entfernt. Er zögerte, unter dem Wagen hervorzukommen und wegzulaufen, denn noch immer fielen Schüsse. Als er sich endlich einen Ruck geben wollte, zündete einer der Polizisten ein Streichholz an. Er musste irgendetwas gehört haben. Er sah Andreas, fasste ihn sofort am Arm, wartete einen Augenblick und zerrte ihn schließlich ins Freie. Andreas, der eher schmächtig gebaut war, wagte es nicht, sich zu wehren. Der zweite Polizist tastete ihn nach Waffen ab und legte ihm eine Handschelle an. Die zweite Handschelle machte er an einem Wagenrad fest. »Lass uns hier warten, bis jemand mit einer Laterne kommt«, sagte er dabei zu seinem Kollegen.
Überall lagen stöhnende Menschen in der Dunkelheit. Von der Wache her kamen schon bald Uniformierte mit Laternen angelaufen und begannen hastig, nach verletzten Kollegen zu suchen und sie wegzutragen. Andreas sah Bonfield mit einer Pistole in der Hand mitten auf der Straße stehen und Befehle geben. Arbeiter, die von Kugeln getroffen waren, wurden ignoriert, solange sie es nicht wagten, aufzustehen. Taten sie das, bekamen sie den Schlagstock zu spüren oder wurden von Polizisten fortgezerrt. Auch der kräftige Polizist, der Andreas vom Wagen losmachte und mit eisernem Griff am Oberarm in Richtung Wache führte, teilte auf dem Weg dorthin Schläge aus, als ihm ein verletzter und anscheinend verwirrter Arbeiter zu nahe kam. Andreas hatte Angst und dachte an Sophie und an Ella, ihre kleine Tochter, die gerade erst ein halbes Jahr alt geworden war. Sophie würde sich Sorgen machen, wenn er nicht nach Hause käme. Zum Glück war er unverletzt geblieben und er hielt es für ratsam, nicht den Zorn der ohnehin schon wütenden Polizisten auf sich zu ziehen. Er war unbewaffnet und hatte nichts Gesetzwidriges getan, da würde man ihn sicher spätestens am Morgen wieder laufen lassen.
"Wie auch mit den ersten beiden Bänden schaffte Kai Blum es erneut, mich zu begeistern. Authentisch schildert er die historischen Ereignisse und hat die fiktiven Charaktere mit ihren Erlebnissen gekonnt eingebaut." (Annette Lunau, Die-Rezensentin.de)