Nun also doch! Seine zweiten Plätze, die man in diesem Lande als zu wenig Leistung, als Produkt seines Übergewichts, als Fabrikat seiner mangelnden Quälbegabung - Quäl dich, du Sau! - erklärte, werden nun doch gefeiert werden können. Nicht, weil sie Zweiplatzierung sind, sondern weil sie es waren, weil sie nun das Entree dafür sind, in den Tour-Palmares gründlich nach oben zu rücken. Nun einer der erfolgreichsten Touristen aller Zeiten zu werden. Nach dem Tour-Sieger 1997 auch noch 2000, 2001 und 2003 - und einen Armstrong hat es nie gegeben. Wie hieß noch gleich der Fahrer, der auf Ullrich, den sie dann wieder Jan oder Ulle nennen, gewartet hat, als dieser in den Graben fuhr? Nur ein Schatten, nur ein Phantom, den gab es nie! In Jahren wird man von der Ära Ullrich sprechen, vom viermaligen Sieger, von einer Legende, von den goldenen Jahren des deutschen Radsports. Ein wenig suspekt war es dazumal schon, suspekt war Ulle zwar, aber das waren andere auch schon; da kommt einem der zwielichtige Anquetil in den Sinn...
Der deutsche Blätterwald wird ihn nicht feiern, wird nicht laut Hurra! rufen - Ullrich selbst wird ohnehin nicht in Überschwang ersaufen. Auch die Presse wird es nicht tun. Aber man darf Wetten darauf abschließen, ob man den Mann, der medial so gut wie tot ist, der verspottet und nicht verstanden wurde, wie kaum ein anderer Sportler zuvor, nicht doch wieder rehabilitiert. Dezent und wortkarg, sehr bedachtsam und einsilbig. Aber sollte der Fahrer, der siebenfach die Tour de France gewann, von der Abteilung Miniwahr der amerikanischen Anti-Doping-Agentur einer damnatio memoriae, einer Verdammung des Andenkens unterstellt werden, so ist damit zu rechnen, dass der bescheidene Bub aus Rostock und Merdingen, der schüchterne Schlacks, zaghaft wieder "der Jan" wird, der er schon mal war - nicht überstürzt, wahrscheinlich wird der Jan auch weiterhin der Ullrich sein, aber man wird lesen "... der viermalige Tour-Sieger..." oder so. Und alles nur, weil dieser Fahrer, dieser... wie hieß er noch?... weil er ausgelöscht wurde. Wobei mit der Löschung eines Delinquenten auch die Löschung gelöscht ist, denn was nie war, konnte auch nie gelöscht werden!
Nun könnte man einwenden, dass es schon ein starkes Stück ist, einen schmutzigen Sportler durch einen schmutzigen Sportler auszuwechseln. Das kann man nachvollziehen, ist aber nicht Gegenstand dieser Zeilen, soll er auch nicht sein. Der Zynismus des Publikums, einerseits sein Herz auf sauberen Sport zu setzen, während man andererseits ständig auf spektakuläre Momente, auf Klettermaterialschlachten und Show-Downs in den Alpen hofft, wurde hier schon mehrfach thematisiert. Doping ist nicht die Sünde einiger Fahrer - es ist die Folge einer Erwartungshaltung, die der Verbraucher und Konsument an den Sportler richtet, die er ihm aufnötigt und die er ihm argwöhnisch unter die Nase reibt, wenn die Erwartung unerfüllt bleiben. Dann wird die Liebe entzogen und die Journaille schüttelt sich entrüstet darüber, dass einer wie Ullrich nur Zweiter wird; nur Zweiter im schwersten Straßenrennen der Welt - nur Zweiter, erster Verlierer also.
Lassen wir das Dopinggeschwätz beiseite. Da reden schon zu viele mit, machen schon zu viele den Mainstream zur Tummelwiese nur einer Meinung, die nicht angetastet werden kann, ohne als Häresie unter Verdacht gestellt zu werden. Den Ullrich, den sie traten, den sie verspotteten und für den größten Verlierer aller Zeiten erachteten, werden sie nun zurückführen in die Mitte der Leistungsträgerschaft. Erfolg macht sexy - und sei er am grünen Tisch erfolgt, sei er nur das Produkt von Streichung anderer Teilnehmer. Erfolg stammt nicht irgendwie von Sieg, von Gewinnen, es kommt von Erfolgen: Tour-Siege am Tisch erfolgt - daher kommt das Wort; dem Ulle nun einen späten Erfolg nachzusagen, ist begrifflich nicht mal gelogen.
Diese große Nacht des deutschen Radsports, diese Nacht des 23. August 2012, während wir alle schliefen, während Ullrich schlief, beschert einen Deutschland einen Pedaleur, der nicht nur begabt war, wie kein anderer, sondern auch erfolgreich - reich an erfolgten Titeln. Nach Indurain, nach Hinault, Merckx und Anquentil, allesamt fünfmalige Champions in Paris, steht da Ullrich, vier Titel auf dem Polster; drei davon hat er sich im Schlaf gesichert - auch so eine Legende für das Jahr 2063, wenn man Ullrichs neunzigsten Geburtstag feiern wird. Als wir schliefen, gewann er dreifach die Tour de France - man wird Schlafen in Erinnerung haben, man wird Siegen konnotieren und schreiben, dass "... in der Ära Ullrich kein Kraut gewachsen war, um den Champion zu schlagen; er gewann wie im Schlaf..." Und in dieser Ära, in der Frankreich vom deutschen Radsport besetzt war, da gab es noch einen deutschen Sieger, einen gewissen Klöden, der 2004 die Rundfahrt gewann. Zur Jahrhundertwende, so schreibt man 2063, "... sei der Radsport eingedeutscht worden..." Armstrong? Was hat ein Astronaut mit Radsport zu tun? Armstrong? Der Mann mit den Mordsbacken, der von der Wunderful World sang? Trompetete der etwa damals in Paris die deutsche Hymne?
Überhaupt so ein seltsames Wochenende; sehr armstrongunfreundlich. Da wird Lance Armstronug entstattgefundet, also getilgt, und gleichzeitig findet auch der Armstrong nicht mehr statt, den ich oft versehentlich nannte, wenn ich Lance meinte - ich meine damit den, der kleine Schritte für die Menschheit machte, ich meine damit den Neil. Und just an diesem Wochenende finde ich meine Platte Satchmo at Symphony-Hall nicht mehr... aber das nur als kurzer Einwurf.
Es wäre doch schade um die schönen Titel. Und als Zweiter ist man doch nicht erster Verlierer - man ist Gewinner auf Abruf. Nicht alle Tour-Helden müssen viel Gelb tragen. Radsport ist der Sport, bei dem man auch als Sechzigjähriger noch Siege einfahren kann; entwickelt man in dreißig Jahren noch stichhaltigere Dopingkontrollen, so sind vielleicht alle Sieger von heute ein Fall für die Löschung aus dem kollektiven Gedächtnis. Dann gewinnt ein Sechzigjähriger rückwirkend die Tour de France. Nie war ein Sport so seniorenfreundlich; nie war ein Sport so spannend und abwechslungsreich...
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