Die Grenzen der Seriosität

Die Grenzen der Seriosität
Bericht über einen Vortrag von Sabine Schiffer am 8. November 2012 in Michelstadt
von Thomas Baader

Der Titel der Veranstaltung lautete „Wo sind die Grenzen der Meinungsfreiheit? Antimuslimischer Rassismus/Islamophobie“, wobei die zuletzt genannte begriffliche Verwirrung programmatisch für den Abend war. Die Veranstaltung wurde gemeinsam ausgerichtet von Attac Odenwald, Odenwald gegen Rechts, den Naturfreunden, dem DGB Odenwaldkreis, der DKP Kreisgruppe Odenwald, der GEW Odenwald, der GEW Darmstadt/Dieburg, der Linken Odenwaldkreis und dem Runden Tisch Reichelsheim.

Entsprechend findet man beim Eintreten nicht nur Flyer der diversen Initiativen ausliegend, sondern auch aktuelle Ausgaben der „jungen welt“. Um die Wartezeit zu verkürzen, blättert man ein wenig in der Zeitung und stößt auf einen romantisch verklärenden Artikel von Dietmar Dath über die Oktoberrevolution. „Die allverächtlichsten Arschlöcher, gegen die sie [das Proletariat – sic!] sich dabei behaupteten, die sie dafür besiegen mußten, redeten übrigens in demselben verlogenen, ekelhaften Zungenschlag, der heute die Standortpredigten der Bourgeoisie und ihrer Ausgehaltenen bis tief in die rechten Sumpfbezirke der Gewerkschaftsarbeit prägt […]“, heißt es dort aus Seite 11. Und weiter: „Das ist genau der verdrehte Quatsch, den Angela Merkel den griechischen Nichtbesitzenden vorheult […].“ Im geifernden Stil wird Kerenski als „handzahmer Napoleon-Wichtel“ bezeichnet, dann erst kommt Lenin mit „schweißtreibende(r) Überzeugungsarbeit“, um das Programm „Frieden statt Weltkrieg“ umzusetzen. Eine ideologische Verhunzung der tatsächlichen historischen Ereignisse, wie sie verfälschender kaum sein könnte.

Was hat das alles eigentlich mit dem Thema der Veranstaltung von Frau Schiffer zu tun, mag man sich fragen. Nichts. Eben. Warum liegen die Exemplare der „jungen welt“ dann überhaupt aus?  

Schließlich ist es so weit, 40 Zuhörer (darunter ein erheblicher Teil Angehörige der veranstaltenden Initiativen) füllen den kleinen Saal. Der Altersdurchschnitt ist eher hoch. Vorne erhebt sich ein bärtiger Herr und spricht die einleitenden Worte: Unmittelbarer Anlass für die Veranstaltung seien Anti-Islamisierungs-Aufkleber gewesen, die in letzter Zeit in Michelstadt aufgetaucht seien. Aber auch Politiker aus der Mitte der Gesellschaft äußerten sich mittlerweile entsprechend. Als noch problematischer bezeichnet der Sprecher aber „Institutionen, die unsere Verfassung schützen sollen“. Er sieht Wurzeln des frühen Verfassungsschutzes in der NS-Zeit, aber auch heutige Generationen hätten ihr Handwerk von diesen Alten gelernt. Und zum Abschluss: Die „Neofaschisten in Regierungskreisen“ solle man nicht unterschätzen.

Sabine Schiffer beginnt ihren Vortrag mit dem Verweis auf einen „polemischen Beitrag in der taz“, in dem Deniz Yücel Thilo Sarrazin verunglimpfe. Diese Sarrazin-Verteidigung überrascht sicherlich nicht wenige im Saal. Schiffer will an diesem Beispiel zeigen, dass die Meinungsfreiheit Grenzen habe, dass man selbst gegen einen Sarrazin nicht alles sagen dürfe. Allerdings, so Schiffers Argumentation, werde hier von den Sarrazin-Anhängern mit zweierlei Maß gemessen: Grenzen der Meinungsfreiheit gebe es für sie bei Angriffen auf Sarrazin, nicht aber bei Angriffen auf die Muslime.

Sabine Schiffer versucht sich anschließend an einer Definition der Grenzen der Meinungsfreiheit, indem sie die gesetzliche Situation in Deutschland beschreibt. Durch den Paragraph zur Volksverhetzung etwa sei die Leugnung des Holocausts in Deutschland verboten, was einzigartig sei. In diesem Moment Stirnrunzeln und Getuschel im Publikum – zu Recht, denn tatsächlich ist Holocaustleugnung in vielen Ländern Europas strafbar, und dem deutschen Volksverhetzungsparagraphen vergleichbare Gesetze gibt es reichlich, so etwa in Österreich („Verhetzung“) und Frankreich („Anstiftung zum Rassenhass“). Diese Äußerung Schiffers wird jedoch nicht die einzige Merkwürdigkeit des Abends bleiben.

Schiffer fährt unbeirrt in ihrem Vortrag fort und erklärt ihre Lieblingsmethode, die „Gegenprobe“, die darin besteht, in bestimmten Aussagen einzelne Wörter auszutauschen. Sie spricht also den Satz „Muslime neigen zur Gewalt“, und danach langsam und bedacht die folgenden Sätze:
 „Juden neigen zur Gewalt.“
 „Männer neigen zur Gewalt.“
 „Afrikaner neigen zur Gewalt.“
 „Amerikaner neigen zur Gewalt.“
Anschließend richtet Schiffer an die Anwesenden die Frage: „Wo ist das Problem bei den Sätzen?“ Murmelnde Antworten aus dem Publikum: „Verallgemeinerung…“

Spätestens an dieser Stelle wird die Veranstaltung unfreiwillig komisch. Schiffers Vortragsstil gleicht altmodischem Grundschulunterricht, wobei die Frage unbeantwortet bleibt, warum erwachsene Menschen das tatsächlich mit sich machen lassen. Leider kommt an dieser Stelle keine echte Debatte auf. Man könnte nämlich fragen, ob Schiffer auch ein Problem hätte mit der Formulierung „Männer neigen, statistisch gesehen, eher zur Gewalt als Frauen.“ Dieser Satz ist nämlich zweifellos wahr. Unklar bleibt auch: Wer hat den Satz „Muslime neigen zur Gewalt“ eigentlich gesagt? Der Kommentarbereich von Politically Incorrect etwa? Das wäre zu erwarten gewesen. Ernstzunehmende Kritiker des Islam hingegen verweisen durchaus auf Gewaltprobleme in bestimmten Communitys, drücken sich aber in der Regel differenzierter aus. Wer ist hier also eigentlich gerade der Gegner?

Schiffer widmet sich nun den bereits erwähnten Aufklebern. Das Layout eines solchen Aufklebers wird per Beamer an die Wand gestrahlt, man sieht eine durchgestrichene Moschee und den Aufruf, die Islamisierung zu stoppen. Schiffer fragt, was hierbei die Prämisse ist. Dann die Erkenntnis: Die Prämisse ist, dass es eine Islamisierung gibt.
Ähnlich wird mit einem Titelblatt des „stern“ verfahren, auf dem zu lesen ist: „Wie gefährlich ist der Islam?“ Prämisse sei, dass er überhaupt gefährlich ist, unklar sei nur wie sehr.
Das lässt sich beliebig fortsetzen, aber es wird dankenswerterweise darauf verzichtet. (Für alle aufmerksamen Leser, denen das nicht zu hoch ist: Schiffers Prämisse beim Nennen dieser beiden Prämissen ist übrigens, dass sie inhaltlich falsch sind.)

Es folgt eine kleine Begriffsdefinition, die eigentlich für Schiffer nur in der Erklärung besteht, dass sie die Begriffe „Islamophobie“, „Antimuslimismus“, „antimuslimischer Rassismus“ und „Islamfeindlichkeit“ synonym verwende. Kritik am Begriff „Islamophobie“, so erfährt man, sei ohnehin nur da, um Rassismus zu verschleiern. Nun sind allerdings (und das sagt Frau Schiffer nicht) gerade die Begriffe „Islamophobie“ und „antimuslimischer Rassismus“ in der Forschung heftig umstritten. Gegen den letzteren kann man zumindest einwenden, dass Ressentiments gegen Angehörige einer Religionsgemeinschaft, die sich nicht ethnisch definiert, ebenso wenig als Rassismus gelten kann wie Ressentiments gegen Homosexuelle (was freilich nichts daran ändert, dass beide Arten von Ressentiment existieren). „Islamophobie“ wiederum richtet sich seiner Wortbedeutung nach inhaltsorientiert gegen den Islam als Lehre und nicht gegen die Muslime als Menschengruppe. Aber diese Dinge werden an diesem Abend nicht diskutiert. Der Beamer strahlt ein paar passende Sätze an die Wand, darunter den folgenden: „Islamfeindlichkeit dient – wie jeder Rassismus – der Verfassung etablierter hierarchischer Strukturen und somit der Abwehr von Inklusion und Entwicklung.“ Schiffer schließt dieses Kapitel mit der Behauptung ab, der Begriff „antimuslimischer Rassismus“ werde sich am Ende wohl durchsetzen.

Sie klappert weitere Stationen ab. Vom Mohammed-Schmähfilm hätte „Media for Christ“ profitiert und nicht die Salafisten. Der „Salman Rushdie-Rahmen“ sei auf die Mohammed-Karikaturen gelegt worden, wo er nicht hingehöre, denn im Gegensatz zu Rushdies Kunstwerk wollten die Karikaturen „provozieren“.

Es wird im Verlauf des Abends immer mal wieder verschwörungstheoretisch: Wenn etwa George W. Bush nach 9/11 in eine Moschee gehe, um zu zeigen „Das hat nichts damit zu tun“, dann stelle Bush ja gerade den Kontext her, den er angeblich vermeiden wolle. Verblüffende Logik! Aus dieser Perspektive heraus könnte man auch auf die Idee kommen, dass Sabine Schiffers Veranstaltung eigentlich dazu diene, dass mit dem Islam doch irgendwie eine Gefahr assoziiert werde.

Ein weiterer Höhepunkt des Abends: Schiffer hadert mal wieder mit einem Cover des „stern“. Man sieht Ahmandinedschad, man sieht einen Atompilz, man sieht die Kuppel einer Moschee und man sieht den Schriftzug „Wie gefährlich ist der Iran?“ Anstoß nimmt sie, das war zu erwarten, an der Abbildung der Moschee. Schiffer schreitet also zur Gegenprobe und präsentiert ein Bild aus einem arabischen Blog, das sie für „vergleichbar“ hält: ein Atompilz, Ariel Scharon, über Scharons Kopf ein Davidstern. Ein Herr aus dem Publikum wendet an dieser Stelle ein, dass er Schiffer nicht ganz folgen könne: Der Islam sei doch aber nun wirklich die ideologische Grundlage der Herrschenden im Iran. Schiffer daraufhin: „Bei Israel ist das die Religion aber doch auch.“ Im Folgenden wird dann noch zwischen Schiffer und dem Publikum die Frage erörtert, ob das Scharon-Bild auch antisemitisch wäre, wenn man statt des Davidsterns die israelische Flagge abgebildet hätte. Und schließlich will ein Mann erkannt haben, was am Cover des „stern“ noch problematisch sei: Die Moscheekuppel sehe ja aus wie eine Bombe. Frau Schiffer warnt jedoch vor Überinterpretationen.

Noch einmal kommt das Thema Mohammed-Karikaturen auf den Tisch bzw. per Beamer an die Wand. Die bekannte Westergaard-Zeichnung (Mohammed mit Bomben-Turban) wird in eine Reihe gestellt mit anstößigeren Karikaturen anderer Herkunft. Einspruch kommt von einigen Gästen im Saal, die doch einen klaren inhaltlichen Unterschied zwischen der Karikatur des dänischen Künstlers und den anderen Zeichnungen sehen. Jemand aus dem Publikum fragt: „Betreiben wir da aber nicht gerade selbst Verallgemeinerung?“ Zweifellos der intelligenteste Satz des Abends, und er kommt nicht von Frau Schiffer. Sie versucht stattdessen die angebliche Gefährlichkeit von Westergaards Karikatur zu erläutern. Jyllands Posten gilt ihr als rechtes Blatt, das schon früher entsprechend aufgefallen sei. Leider versäumt es Sabine Schiffer, die Geschichte der Karikaturen richtig darzustellen: Kein Wort davon, dass dänische Imame diese Karikaturen, die über einen längeren Zeitraum von der islamischen Welt völlig unbeachtet blieben, auf eine Reise in die entsprechenden Länder mitnahmen, um die dortige Bevölkerung anzustacheln. Ebenfalls „vergisst“ Schiffer zu erwähnen, dass die Imame noch weitere, weitaus anstößigere Karikaturen im Gepäck hatten, die nicht aus Jyllands Posten stammten (aber der Eindruck sollte wohl erweckt werden).

Der Abend hat noch einen weiteren Höhepunkt parat: Schiffer weist auf das Phänomen des „humanitären Rassismus“ hin, was freilich, wie sie selbst bekennt, eine widersprüchliche Begriffsbildung sei. Der Diskurs um Emanzipation, Frauen- und Menschenrechte werde ebenfalls zur Verbreitung von Ressentiments genutzt. Gemeint sind also ganz offensichtlich humanistische und Menschenrechtsarbeit leistende Initiativen, die auf Probleme im muslimischen Milieu hinweisen und sich entsprechend engagieren. Da ist er also mal wieder, der gute alte Rundumschlag der Diffamierung. Verwundern dürfte er niemanden, denn es sind genau jene Initiativen, aus deren Reihen berechtigte Kritik an Sabine Schiffer geübt wird – so auch im Vorfeld des heutigen Abends. Die Diffamierung durch Schiffer erscheint als bizarrer Vorgang, wenn man bedenkt, dass einige dieser „humanitären Rassisten“ Musliminnen und Muslimen aus lebensbedrohlichen Situationen heraus geholfen haben, während Sabine Schiffer Aufkleber analysiert.

Präsentiert wird schließlich auch das Bild des berühmten afghanischen Mädchens ohne Nase – nach Schiffer gehe es hierbei um einen „Missbrauch der Geschichte“ der Betroffenen, um die NATO in Afghanistan bleiben lassen zu können. Wie absurd das sei, könne man daran sehen, dass die Verstümmelung des Mädchens während des Aufenthaltes der NATO in Afghanistan geschehen sei. Diese Logik ist nicht gerade bestechend. Führen wir den Gedanken einmal fort: Wenn sich in einer Stadt ein besonders schlimmes Gewaltverbrechen ereignet, so wäre nach Schiffers Denkweise eine Aufstockung der Polizeikräfte nicht sinnvoll, weil das Verbrechen sich ja trotz der Existenz der Polizei ereignet hat.

Der Abend schließt mit einer Diskussionsrunde, Zuhörer können Fragen stellen oder Anmerkungen einbringen. Wie schon zuvor, reagiert Schiffer auf Kritik nicht gerade souverän, würgt unangenehme Redebeiträge ab („das nervt jetzt vielleicht die anderen“) oder gibt auf Fragen, die ihr nicht passen, ausweichende Antworten.

Was bleibt schließlich als Erkenntnis des Abends? Vielleicht, dass der, der mit Sabine Schiffer und der DKP im Gepäck zum antirassistischen Appell antritt, ein Glaubwürdigkeitsproblem hat? Dass man es in Michelstadt bereits als „gut besucht“ empfindet, wenn eine Rednerin etwa vierzig Zuhörer (davon ein Viertel bis ein Drittel Angehörige der veranstaltenden Initiativen selbst) anzieht? Dass Initiativen, die von Gewalt bedrohten Musliminnen und Muslimen Betreuung, Schutz und Hilfe zukommen lassen, in Wahrheit verkappte „humanitäre Rassisten“ sind? Dass die Grenzen der Meinungsfreiheit klar definiert wurden? Man weiß es nicht. Aber man weiß hoffentlich nach der Lektüre dieses Berichts ein wenig mehr darüber, wo die Grenzen der Seriosität zu finden sind.

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