Mario Alberto Zambrano – Sonne, Mond und Sterne
Die elfjährige Luz wünscht sich, eine Meerjungfrau zu sein. Denn Meerjungfrauen können schwimmen wohin sie wollen, und niemand kommt ihnen zu nah. Doch Luz kann nicht schwimmen wohin sie will und sie muss es sich gefallen lassen, dass die Menschen ihr nahe kommen. Dass sie sie dazu drängen, zu erzählen was wirklich passiert ist. Aber Luz will nicht reden – nicht von ihrer Mutter, die die Familie vor einem Jahr verlassen hat, oder vom Vater, der im Gefängnis sitzt, und auch nicht von der Schwester, die auf der Intensivstation um ihr Leben kämpft.
Anstatt zu reden, verkriecht Luz sich in einem Stapel Spielkarten und in ihrem Tagebuch. Diese Karten sind sogenannte Loteria-Karten, ein mexikanisches Spiel, das Bingo gleicht. Jede Karte ist mit einem anderem bunten Motiv bedruckt und während Luz sich diese Motive ansieht, steigen in ihr Erinnerungen an ihre Kindheit hoch und sie schreibt sie in ihr Tagebuch. So erinnert sie „Das Kanu“ an Besuche auf dem Flohmarkt mit ihrer Familie, denn auf dem Flohmarkt saß eine Frau in einem alten Kanu und verkaufte ihre Waren.
Die Meerjungfrau weckt Erinnerungen an den Pool der befreundeten Nachbarin, bei der sich die Familie oft mit Freunden und Bekannten traf und dort bis spät in die Nacht spielte und lachte und trank. An diesen Abenden wickelte sich Luz unbeobachtet Handtücher um die Beine, sodass sie an die Flosse einer Meerjungfrau erinnerten, und rollte sich ins Wasser:
Ich schlängelte mich mit weit offenen Augen von einem Ende des Pools zum anderen und summte dabei ein Lied. Weil ich ja unter Wasser war, wusste ich nicht, ob ich weinte. Als Mutprobe versucht ich, so lange unter Wasser zu bleiben, wie ich konnte.
Und dann ist da der Mond, La Luna. Als Luz diese Karte aus dem Stapel zieht, denkt sie an ihre Schwester Estrella, mit der sie an manchen Abenden vor dem elterlichen Haus gesessen hat und zu Mond und Sternen hinauf geblickt hat. Und sie denkt daran, wie Tencha, die gute Seele, alte Freundin der Familie, sie einmal fest an sich gezogen hat:
„Te quiero, Luz. Lo sabes, verdad?“ [Ich habe dich lieb, Luz. Das weißt du, nicht wahr?] „Ja, ich weiß“, sagte ich. Und dann haben wir zum Mond hochgeschaut.
Eine vergleichbare Szene mit ihrer Mutter fällt der jungen Luz nicht ein.
Zambrano führt den Lese ganz behutsam an das Schreckliche heran, das schuld daran ist, dass Luz so ganz allein in diesem Heim sitzt. In den kurzen Episoden, die durch die Motive der Spielkarten inspiriert werden, erhascht der Leser kurze Einblick in ein Kinderleben, in Szenen einer Ehe, in die enge Beziehung zweier ungleicher Schwestern. Ohne politisch zu sein, zeichnet Zambrano außerdem das Porträt einer Familie, die im heimischen Mexiko fremd ist und in den USA nicht ankommt.
Die Einblicke, die Zambrano in die Geschichte gewährt sind detailliert genug, sodass diese Geschichte nicht oberflächlich daher kommt. Gleichzeitig sind sie so kurz gehalten, dass er seine Leser vor einem ganz großen Schmerz bewahrt. So ergeht es dem Leser wie Luz: die schlimmsten Ereignisse werden nach Kräften verdrängt.
Sonne, Mond und Sterne ist ein schönes Leseerlebnis, das wehmütig stimmt. Nicht nur aufgrund der Sprache, die kindlich aber nicht plump ist, und nicht nur aufgrund der kunstvollen Narrrativ-Konstruktion schleicht sich dieses Buch behutsam ins Leserherz; auch die liebevolle Gestaltung mit den bunten Loteria-Karten, die den Beginn jeden Sinn-Abschnitts markieren , trägt ihren Teil dazu bei.
Kurzfazit: Liebevoll gestaltet und kurzweilig erzählt.
Ich danke dem Luchterhand Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares.
Kategorien: USA | Tags: Erwachsenwerden, Familie | Permanentlink.