Wie der Alltag in so einer Einrichtung abläuft, weiß man erst, wenn man selbst einmal dort war. Sei es nun als Patient oder als Besucher. So konnte ich mir auch einmal einen Eindruck davon machen, wie die Menschen dort leben und wie ihr Alltag aussieht.
Ich war dort als Besucher, und schon vor dem Eingang zu dieser Abteilung, es war eine geschlossene Abteilung, weil die Leute die dort wohnen, verwirrt sind und man damit rechnen muss, dass sie einfach weglaufen würden. Nicht das sie dann ein bestimmtes Ziel hätten, nein, sie würden in Gedanken dahin laufen, wo sie gerade im Geiste sind. Wenn also ein Bewohner gerade in seinen Gedanken als zehnjähriger Junge unterwegs ist, dann würde er einfach loslaufen, um nach Hause zu gehen. Wahrscheinlich bis zur nächsten Kreuzung, dort wüsste er dann nicht mehr weiter und würde stundenlang umherirren. Wir alle kennen ja solche Meldungen, wenn im Radio eine Suchmeldung durchgegeben wird, dass Herr Sowieso vermisst wird, und sich nicht orientieren kann!
Als ich die Station betrat, fiel mir zuerst ein Mitarbeiter auf, der gerade am telefonieren war. Offensichtlich war er gut drauf, denn er machte einige Faxen am Telefon, und ich war schon am überlegen, ob er nun zum Personal gehörte oder ob er ein Patient war. Wahrscheinlich arbeitete er hier schon eine sehr lange Zeit. Mit sehr gemischten Gefühlen ging ich also durch die Station in Richtung des Aufenthaltsraumes. Was sich dort abspielte, das hätte auch an vielen anderen, ganz normalen, Orten passieren können. Da gab es eine ältere Frau die ganz ohne einen ersichtlichen Grund unvermittelt anfing laut zu schreien. Eine andere Bewohnerin schimpfte lauthals darüber, warum niemand die Tür hinter sich schließen konnte, und wieder ein anderer Bewohner, stellte sich hinter meine Frau und berührte sie an der Schulter. Dies tat er solange, bis eine Pflegerin kam und ihn sanft davon schob.
Wie schon gesagt, niemand weiß wohl so genau, wo diese Menschen in ihren Gedanken gerade sind. Dementsprechend seltsam sind dann auch die Gespräche, die die Bewohner untereinander führen. Man stelle sich einmal vier Leute an einem Tisch vor, und jeder redet von einem anderen Thema, auch wenn das in der Politik so gang und gäbe ist!
Wir saßen also an einem der Tische und unterhielten uns, als plötzlich eine Frau auf mich zukam und heftig anfing, mit mir zu schimpfen. Offensichtlich hielt sie mich für den ehemaligen Chef ihres Bruders, der ihn damals entlassen hatte. Was sollte ich schon groß tun, sie hätte mich nicht verstanden egal was ich auch versucht hätte ihr zu erklären. Also gab ich es einfach zu und entschuldigte mich dafür. Allerdings muss ich hier auch ganz klar sagen, dass die meisten Bewohner einer solchen Einrichtung wirklich sehr nett sind. Man bekommt selten so viele Lächeln zu sehen, wie dort. Die Menschen dort haben wahrscheinlich gelernt auf das Wesentliche zu achten, das Menschliche.
Richtig verwundert war ich aber erst, als ich später draußen an eine Bushaltestelle kam. Vom Aufenthaltsraum aus ging eine große Tür in den hellen grünen Innenhof. Dort konnte man unter freiem Himmel einem der Wege folgen und ein wenig spazieren gehen, was die Leute auch gerne taten. Jedenfalls stand an einer Ecke ein Bushaltestellenschild. Dies machte mich neugierig und ich fragte darum eine Pflegerin nach dem Grund des Schildes, denn ein Bus konnte hier niemals herkommen. Die Antwort war ziemlich banal aber sehr einleuchtend. Viele der Bewohner fragen immer wieder danach, wann der nächste Bus fährt, und niemand, außer ihnen selbst weiß wohin sie eigentlich fahren wollen. Aus diesem Grund steht eben dort ein Haltestellenschild, so das die Leute dort selbst nachsehen können. Dies klingt ziemlich hart, aber wenn man sich den Sinn und Zweck vor Augen hält, dann ist es eine wirklich schöne Idee. Die Bewohner gehen dorthin, sehen nach den Abfahrtszeiten und sind zufrieden!
Auf den ersten Blick sieht es aus, als wenn dort in dieser Station des Vergessens, so habe ich sie insgeheim genannt, die Menschen wie Zombies umherwandern, ganz so wie Menschen, die lebendig eingemauert wurden.
Wenn man denn eine Weile dort in dieser Station war, dann bemerkt man aber auch, dass die meisten Menschen dort glücklich sind. Sie leben in ihren Erinnerungen und in denen haben sie Kontakt mit Verwandten und Freunden, die eigentlich schon vor vielen Jahren gestorben sind. Hart ist das für alle Verwandten und Freunde, denn man wird immer wieder an die schmerzlichen Verluste erinnert. Aber eben die Bewohner dort sind zufrieden, was nicht unwesentlich an dem professionellen Umgang des Pflegepersonals liegt. Fast könnte man auf die Bewohner ein wenig neidisch werden!
Sie leben oftmals in der schönsten Zeit ihres Lebens, sie treffen in ihren Gedanken all jene Menschen wieder, die ihnen nahestanden, und nicht zuletzt leben sie zeitlos!
Das Allerschlimmste an dieser heimtückischen Krankheit ist wohl der Umstand, dass alle Außenstehenden am meisten darunter leiden, dass sich die Persönlichkeit des Betroffenen nach außen hin langsam aber kontinuierlich auflöst. Was bleibt, ist eine Hülle der Person, die man einst so sehr geliebt hat. Und doch merken es auch die Patienten genau, dass sie Besuch haben, die schon im Endstadium sind. Die wenigen klaren Momente sollte man in vollen Zügen genießen. Es bringt auch nichts, wenn man den Kopf hängen lässt, vielmehr sollte man sich darüber freuen, wenn der Mensch, der einem immer so viel bedeutet hat, seine verbleibende Zeit glücklich verbringen kann. Mit dieser neuen Erkenntnis fuhr ich wieder nach Hause. Er ist glücklich und zufrieden, und nur dass ist wichtig. Ich darf nicht egoistisch sein!
Die Fahrt nach Hause verläuft immer sehr still, und niemand sieht die einsame Träne, die sich ihren Weg sucht!