Die Geschichte vom erhobenen Zeigefinger

Die Geschichte vom erhobenen Zeigefinger
"Wer auf andere mit dem ausgestreckten Zeigefinger zeigt, der deutet mit drei Fingern seiner Hand auf sich selbst."

Gustav Heinemann

Ihr Lieben,

heute möchte ich Euch eine Geschichte des Autors A. Tobias erzählen:

„Die Geschichte vom erhobenen Zeigefinger“

"Es war einmal ein großer, erhobener Zeigefinger, der sehr unzufrieden war mit seiner eigenen Situation:
Überall bekamen die Menschen, denen er vorgehalten wurde, ernste Mienen, schauten ihn ehrfürchtig an und begannen zu grübeln.
Nur ganz selten begegnete ihm ein freudiges Gesicht und der Zeigefinger dachte dann jedes Mal, alles sei gar nicht so schlimm.

Doch es dauerte immer nur einen Augenblick, dann schauten ihn aus den fröhlichsten Augen betroffene Blicke an.
Dem erhobenen Zeigefinger gefiel das ganz und gar nicht und so begann er, den Menschen vorzuhalten, dass sie doch fröhlicher sein sollten, nicht immer so ernst und so verkrampft,

nicht ganz so ehrfürchtig, dafür etwas erlöster.
Und weil die Menschen, die ihm zuhörten, feststellten, wie wenig fröhlich sie waren, bekamen sie ein schlechtes Gewissen.

Und wenn der Zeigefinger ihnen erzählte, dass sie doch an die anderen Menschen denken sollten und sie mit Fröhlichkeit  und Freude anstecken sollten, schauten sie betroffen zu Boden.
Je mehr der erhobene Zeigefinger ihnen vorhielt, dass sie doch eigentlich ganz anders sein müssten, eben freudiger, desto mehr verloren sie die Reste an Freude, die noch in ihnen geblieben war.

Nach einiger Zeit gab der Zeigefinger auf.

«Die Menschen sind nicht mehr zu ändern», murmelte er leise und hörte auf, ihnen ins Gewissen zu reden. «Vielleicht gibt es die Freude ja gar nicht mehr», dachte er betrübt.
Der nicht mehr so ganz erhobene Zeigefinger begann, seine Aufgabe zu vergessen und er bemerkte,

dass er noch andere Fähigkeiten hatte, als sich zu erheben und Moralpredigten zu halten.
Und um es einfach einmal auszuprobieren, tat er sich mit einigen anderen Fingern zusammen -

insgesamt waren es zehn, glaube ich - und begann zu musizieren.
Ganz ohne Absicht, nur aus Spaß an der Musik, ging er nun ganz in seiner neuen Aufgabe auf.

Und als er gerade mal einen Augenblick Zeit hatte (sein Nachbar, der Mittelfinger, spielte soeben sein Solo), da bemerkte er viele aufmerksame Gesichter, die ihm zusahen und zuhörten.
Und - was er nicht erwartet hatte - auf den Gesichtern spielte das, was er immer gepredigt hatte:

Die Freude.
«Also, so was!» pfiff der Zeigefinger und spielte vergnügt weiter."
Ihr Lieben,
wenn ich auf meine Kindheit und Jugend zurückblicke, so muss ich feststellen, dass mir dort sehr viele erhobene Zeigefinger begegnet sind.
Meine Mutter und meine Lehrer bedrohten mich damit und wollten mir damit klar machen, welch ein schlimmes Ende es mit mir nehmen werde.

Sehr häufig aber wurde der Zeigefinger nicht nur gegen mich erhoben und mir mit ihm gedroht, sondern sehr häufig wurde mit dem Zeigefinger auf mich gezeigt und abfällig gesagt: „Schaut Euch doch mal dieses lächerliche Würstchen an!" (in Anspielung darauf, dass ich mit 15 noch aussah wie 11).

Mich hat der erhobene oder auf mich zeigende Zeigefinger immer sehr traurig gemacht und ich fühlte mich sehr schlecht.
Aber dann begegnete ich einem lieben Menschen, der mir klar machte, dass immer dann, wenn ein Mensch seinen Zeigefinger gegen mich erhebt oder mit seinem Zeigefinger auf mich zeigt, drei (!) Finger seiner eigenen Hand auf ihn selber zeigen (Ihr könnt das selbst ausprobieren).
Ich habe gelernt, dass moralische Belehrungen mit dem erhobenen Zeigefinger niemanden zum Guten hin verändern.
Deshalb ist es viel besser, den Zeigefinger zusammen mit den anderen Fingern dazu zu benutzen, um anderen Menschen Freude zu bereiten, statt ihnen Vorhaltungen zu machen.

Ihr Lieben,

ich wünsche Euch heute einen fröhlichen Tag mit ganz viel Freude und auch Glücksmomenten und ich grüße Euch herzlich aus Bremen

Euer fröhlicher Werner
Die Geschichte vom erhobenen Zeigefinger

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