„Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, frage ich mich, wie ich überhaupt überlebt habe. Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit; eine glückliche Kindheit lohnt sich ja kaum. Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit.“
Die Geschichte dieser Schlimmsten aller unglücklichen Kindheiten erzählte Frank McCourt 1996 in seinem ersten Roman „Die Asche meiner Mutter“, im Original „Angela’s Ashes“.
McCourt, 1930 in Brooklyn geboren, beschreibt die Stationen seiner Kindheit, seine ersten fünf Lebensjahre in New York, der Tod seiner Schwester, die nicht mal ein Jahr alt wurde, der Umzug der Familie zurück in die alte Heimat, zurück nach Irland. Die Schwierigkeiten, die beide Großeltern mit der anderen Familie hatten, die protestantische Familie des Vaters aus dem Norden und die Katholische der Mutter aus Limerick, wo die Familie schließlich wohnen bleibt. Und damit fangen die Probleme erst an, die Probleme mit dem alkoholsüchtigen Vater, der kaum eine Arbeit länger als ein paar Tage behält, und die machtlose und vom Schicksal gebeugte Mutter dazu treibt, betteln zu gehen für das Überleben der Familie. Dazu kommen altehrwürdige Priester und Schulmeister, die den Armen um keinen Preis helfen und ein besseres Leben ermöglichen möchten. All das verpackt in Episoden einer Kindheit in Limerick.
Aber es gibt auch Lichtblicke in dieser Kindheit, die Zeit morgens mit dem Vater vorm Kamin zum Beispiel, wo er, wenn er mal nüchtern ist, stundenlang Geschichten aus der glorreichen Vergangenheit der Iren in Amerika erzählen kann. Oder auch die Stunden, die der junge Frank bei einer Nachbarin verbringt, um mit ihr Shakespeare im Radio zu hören oder bei einem blinden, alten Mann, dem er „Gullivers Reisen“ vorliest.
Diese Erfahrungen wecken McCourts Liebe zur Literatur, seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden. Als er 1949 mit 19 Jahren Irland verlässt, um mit einem Schiff nach New York überzusiedeln, kauft er sich von seinem letzten Geld eine Gesamtausgabe von Shakespeares Werken, das einzige Buch in seinem kläglichen Gepäck für Amerika.
Seinen Traum, Schriftsteller zu werden, verwirklichte er erst, nachdem er ein Leben lang an New Yorker Schulen unterrichtet hatte. Über diese Jahre berichtet und erzählt er in den Fortsetzungen seines ersten Romans, in „Ein rundherum tolles Land“ und „Tag und Nacht und auch im Sommer“.
Frank McCourts „Die Asche meiner Mutter“ ist eines der großartigsten Bücher, die ich jemals gelesen habe. Jahrelang lag das Buch in meinem Schrank, erst letztes Jahr im Sommer habe ich es eher aus einer Laune heraus zu lesen angefangen, vorwiegend um mich beim Sonnen nicht zu langweiligen. Und dann passierte dieses typische Frank McCourt-Wunder, von der ersten Seite an konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen. Es ist nicht nur der erdrückende Inhalt des Buches, diese erschreckende Armut, die fesselt. Das Geheimnis ist auch nicht damit geklärt, zu sagen, es sei die genaue Beschreibung der Umstände, so dass man sich fühlt, als sei man mitten in McCourts Irland, laufe neben ihm auf den Straßen Limericks. Es ist vielmehr der grandiose und unvergleichliche Stil eines Autors, der diesen kindlich-naiven Blick seines jüngeren Ichs mit der Weisheit des Alters mischt, der auch in dunkelsten Passagen ein Lächeln ins Gesicht zaubert, der scheinbar simple Anekdoten mit einer Tragikomik aufmischt, die man selten sieht. Trotz der Schrecken dieser Kindheit ist das Buch in jeder Zeile voller Optimismus und voller Lebensdrang. Und obwohl McCourt kein „professionneller“ Schriftsteller ist und aus der Sicht eines Kindes schreibt, also in einfachen Worten und zu jeder Zeit im Präsens, gelingen im Passagen, die einem fast das Herz stehen bleiben lassen, so schrecklich und so schön sind sie. Schrecklich, weil das Leid kaum vorstellbar ist und schön, weil McCourt sie so elegant und dabei so leicht und flüssig erzählt, dass man sich gelegentlich am Ende eines Abschnitts fragt, wie man vom ersten Satz überhaupt hierher kommen konnte… Wundervolles, schrecklich-schönes Buch, das auf meiner Favoritenliste bei den Ersten dabei ist und ich nur jedem dringendst empfehlen kann