Ruth Louise Swain ist ans Bett gefesselt und wird es nicht mehr verlassen können. Sie ist so schwach, dass sie nicht einmal mehr aufstehen kann. Warum, erklärt sie vorerst nicht, jedoch stimmt mit ihrem Blut etwas nicht. Was macht ein 19-jähriges Mädchen, das kaum mehr am Leben teilnehmen kann? Ruth flüchtet sich in literarische Welten. Unterm Dach, wo sie täglich dem Prasseln des Regens zuhören kann. Sie ist umgeben von den Büchern ihres Vaters Virgil, knapp 4000 sind es. Er hat sie alle gelesen, und sie tut es ihm nicht nur nach, sondern folgt seiner Spur in ihnen. Und mit ihm erweckt sie auch all ihre literarischen Vorbilder zum Leben.
Dennoch geht in Niall Williams Die Geschichte des Regens vordergründig nicht um Ruths Krankheit, sondern um ihre Familie, insbesondere Virgil, deren Geschichte die junge Frau erzählen möchte. Dabei nimmt sie rückblickend Familienmitglieder, ihren Heimatort Faha und andere Bewohner in den Blick. Detailgetreu beschreibt sie die Menschen, ohne zu bewerten oder urteilen.
„Dies ist die Geschichte meines Vaters. Ich schreibe sie, um ihn zu finden. Aber um dort anzukommen, wo man hinwill, muss man zunächst rückwärtsgehen. So lauten in Irland die Wegbeschreibungen, und außerdem ist das von T. S. Eliot.“ (S. 13)
Ruths Familienchronik folgt dabei nicht unbedingt einem roten Faden oder einem Stammbaum, vielmehr plappert Ruth drauf los und erzählt, was ihr in den Sinn kommt. Immer wieder werden Anekdoten über die Familie, die Geschichte von Faha und Naturbeobachtungen eingeschoben. Der Regen und Fluss sind dabei immer wieder wichtige Elemente, die Ruth in ihre Geschichte miteinfließen lässt. Zudem stellt Ruth viele Überlegungen an, erfindet sicherlich auch Begebenheiten, und wird so zu einem Erzähler. Nebenbei erfährt der Leser von der Krise der Weltwirtschaft, die nicht spurlos an den Bewohnern Irlands vorbeigegangen sind.
Ruths Erzählung ist mit überzähligen Verweisen gespickt, jeder Satz strotz nur so von ihrem Wissen über die ganz Großen in der Literaturgeschichte – Wissen, das nicht jeder Leser in dem Maße hat. Die Lektüre von Die Geschichte des Regens erfordert enormes Durchhaltevermögen und hohe Konzentration. Zu Verweisen, Zitaten und Anspielungen kommt Ruths ungewöhnlicher Schreibstil hinzu: Worte, die Sie für Wichtig hält, schreibt sie Groß, ohne auf die Richtige Groß- und Kleinschreibung zu achten. So sagt Mrs Quinty, ihre Deutschlehrerin:
„Ich sei dieser lebende Anachronismus: Eine Bücher-Leserin, und dadurch hätte ich beim Schreiben eine exzentrische Stilistische Überfülle entwickelt, neigte zu Bedenklichen Anleihen und Unkontrollierten Gedankensprüngen, und außerdem müsse ich Unbedingt meine Tendenz zur Betonung durch Großschreibung ablegen.“ (S. 24)
Wer den Berg des ersten Teils im Roman erklommen hat, wird mit einer tragischen und leicht skurrilen Familiengeschichte belohnt, in der Ruth versucht, ein Stück von sich Selbst und den Sinn des Lebens zu finden. Ihre klugen, witzigen und sarkastischen Reflektionen über Literatur sollen dabei nicht abschrecken, vielmehr bereitet es Freude beim Lesen, wenn man die ein oder andere Anspielung versteht. Die Geschichte des Regens ist eine poetische Geschichte über Familie, Literatur, Vergangenheit und Gegenwart.
Niall Williams: Die Geschichte des Regens. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Deutsche Verlags-Anstalt. München 2015. 416 Seiten. 22,99 Euro.
Eine weitere schöne Rezension zum Buch gibt’s auf Readpack.
(Foto von uschi dreiucker / pixelio.de)