„Die Gerechten“ von Albert Camus

 und, was davon in Vorpommern übrig bleibt!

Seine Premiere hatte der Fünfakter am 26. Mai 2018 im Rahmen des Spektakels „Ordnung und Widerstand“ am Theater Vorpommern in Greifswald. Inszenierung – Reinhard Göber. „Aufführungsdauer: Eine Stunde und zwanzig Minuten“!

Ich sah „Die Gerechten“ am 30. Oktober als Einzelstück, übernommen in den normalen Spielplan. Noch am Tage hatte ich das Stück gelesen, so dass es ein Leichtes war, Restfunde originaler Textpassagen auszumachen. Es ist kaum verwunderlich, dass in achtzig Minuten nicht der gesamte Text gegeben werden kann. Verwunderlich aber, dass gefühlte vier Fünftel Text aus Aktualisierungsmaterial bestand, über dessen Herkunft das Programmheft leider schweigt.

Albert Camus schickte seinem Drama eine „Vorbemerkung“ voraus, durch die mein Blick auf sein Stück geschärft, und die so gewissermaßen zum Leitfaden meiner Kritik wurde:

„Im Februar 1905 plante eine Gruppe von Terroristen, Mitglieder der Partei der Sozialrevolutionäre, ein Bombenattentat auf den Großfürsten Sergej, den Onkel des Zaren. Dieser Anschlag und die besonderen Begleitumstände vor und nach der Tat bilden den Gegenstand von Die Gerechten. So außergewöhnlich manche der in diesem Stück gezeigten Situationen wirken mögen, so sind sie doch historisch. Das soll nicht heißen, Die Gerechten wären ein historisches Stück, das wird man feststellen können. Doch alle Figuren haben tatsächlich gelebt und haben gehandelt, wie ich es zeige. Ich habe nur versucht, wahrscheinlich zu machen, was bereits wahr ist.

Ich habe sogar dem Helden von Die Gerechten, Kaljajew, seinen realen Namen gelassen. Nicht, weil es mir an Phantasie mangeln würde, sondern aus Respekt und Bewunderung für Männer und Frauen, deren erbarmungslose Aufgabe auch sie selber sehr quälte. Seitdem hat man Fortschritte gemacht, gewiss, und der Hass, der wie ein unerträgliches Leid auf diesen Seelen lastete, ist zu einem bequemen System geworden. Ein Grund mehr, diese großen Schatten heraufzubeschwören, ihre berechtigte Revolte, ihre komplizierte Brüderlichkeit, die maßlosen Anstrengungen, die sie unternahmen, um sich mit dem Mord zu versöhnen – ein Grund mehr auszudrücken, wie unsere Treue ihnen gegenüber beschaffen ist.“

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Das Bühnenbild ist schlicht: der Raum vor dem Eisernen Vorhang ist wechselnd illegaler Treffpunkt einer fünfköpfigen Terrorzelle und Gefängniszelle. Eine begehbare Tür im Eisernen Vorhang, kistenartige Sitzgelegenheiten und ein monströser Ohrensessel (Leder). Soweit, so gut!

Die handelnden Personen: Annenkow, Anführer der Terrorzelle und ihre weitern Mitglieder Dora, Kaljajew, Stepan und Woinow. Dazu Skuratow, Polizeivorsteher.  Soweit – und schon nicht mehr so gut, denn, es sei gleich gesagt, Annenkow wird am Ende, so die Göbersche Version, als Spitzel enttarnt. Dieser gravierende dramaturgische Eingriff und ähnlich andere können nicht ohne fatale Folgen für den Charakter des Stückes bleiben. Es gerät in ein gewollt gänzlich anderes und wohl ungewollt trübes Fahrwasser. Am Ufer winken die unvermeintlichen Ungereimtheiten – konnte man sich doch nicht gänzlich von Camus trennen.

Annenkow, den wir hier treffen, und von dem wir noch nicht wissen, dass er ein Verräter ist, hat denn auch nichts mehr von einem Ersten unter Gleichen und der offenherzigen Brüderlichkeit, die Camus seinen Figuren mit auf den Weg gegeben hat. Annenkow also: gesetzt, überlegen, schon nicht mehr der Generation der Jungen angehörig, als Einziger nicht in halbmilitärischem Schlabberlook auftretend, sich in den unsäglichen Ledersessel fläzend, verkündet Weisheiten und gibt psychterroristischen Befehle zur Disziplinierung seiner Truppe – wenn er nicht gerade wie ein versprengter Cowboy über die Bühne schlendert mit einem für Illegale völlig überflüssigen, ja gefährlichen Schießeisen,  oder sich abwechslungshalber mit einem, auch für die anderen, unersetzlichen – ja was wohl? –  Smartphon beschäftigt! Noch peinlicher wird es, wenn er seine Truppe examiniert, und sie einschwört auf den „Tod des Präsidenten“. Der Reihe nach nötigt er sie, ihre Motivation für den Tyrannenmord deklamierend über die Rampe zu bringen. Und damit sind wir endgültig in der Gegenwart angekommen, der schlechtest möglichen: Verbrechen der Zuckerindustrie, me-too-Befindlichkeiten, verlogene Political Correctness, das Kaputtsparen der Theaterlandschaft, grüne Heuchelei in Bioklamotten – all dies und dergleichen mehr mit  erhobener Faust  vorgetragen, dient hier der Rechtfertigung des geplanten Mordes.

Camus‘ Intentionen müssen spätestens jetzt als Farce verenden. Die ergreifenden Diskurse über Gerechtigkeit, über Liebe und Hass, über Schande und geopferte Jugend – all dies geht den  Regiebach runter! Die unterschiedlichen Charaktere, die doch alle das Gleiche – Gerechtigkeit – wollen, werden nivelliert, ausgelöscht! 

   Wichtige Auseinandersetzungen wie diese:

Stepan  … Erst an dem Tag, an dem wir beschließen, auf Kinder keine Rücksicht zu nehmen, erst an dem Tag sind wir die Herren der Welt, und die Revolution wird triumphieren.

Dora  und wenn die gesamte Menschheit die Revolution ablehnt … willst du dann auch das Volk bekämpfen?

Stepan  Ja, wenn nötig, und zwar bis es begreift. Auch ich liebe das Volk. …

Annenkow  Stepan, wir alle lieben und respektieren dich. Aber was auch immer deine Gründe sein mögen, ich kann nicht zulassen, dass du behauptest, alles sei erlaubt. hunderte unserer Brüder sind gestorben, um zu bezeugen, dass eben nicht alles erlaubt ist. „

    … oder die prophetischen Sätze während des Wartens auf den Bericht von Augenzeugen der Hinrichtung Kaljajews:

Dora … Wir haben das Unglück der Welt auf uns genommen. Auch er hat das getan. Welch ein Mut! Manchmal denke ich aber, darin liegt ein Stolz, der bestraft werden wird.

Annenkow  Ein Stolz, den wir mit unserem Leben bezahlen. Weiter kann niemand gehen. Es ist ein Stolz, auf den wir ein Recht haben.

Dora  Können wir sicher sein, dass niemand weiter gehen wird? Manchmal habe ich Angst, wenn ich Stepan reden höre. Vielleich kommen andere nach uns, die sich auf uns berufen als Legitimation zum Töten und die nicht mit ihrem Leben bezahlen werden.“

   … wenn solche Texte denn, gerissen aus der Intimität und Wahrhaftigkeit der Camusschen Helden, überhaupt zu Wort kommen, wirken wie angepappt, unglaubwürdig, befremdend. Sie wollen so gar nicht zu den auf der Bühne agierenden „heutigen“ Protagonisten passen. Wie in einer guten Komposition, ergibt sich erst in der Vollständigkeit sich ergänzender und aufeinander beziehender Motive die ganze Sinnhaftigkeit und menschliche Schönheit dieses Dramas. Dazu gehört auch der gestrichene Besuch der Witwe des Anschlagopfer in Kaljajews Gefängniszelle und Kaljalews Bemühen, ihrer Trauer ausgesetzt, seine Tat vor der ganzen Menschheit zu rechtfertigen.

Was bleibt nicht alles auf der Strecke beim Versuch, den hausgeschneiderten „Revolutionären“ aktuelle Relevanz zu verleihen? Wofür noch mal wollen oder sollen sie ihr Leben opfern? Nichts berechtigt dazu, ihre Motivation mit dem Gerechtigkeitsimperativ jener jungen Leute gleichzusetzen, die zu Terroristen wurden in einer Zeit, wo für sie die grausamen Leiden des russischen Volkes zu übersehen, Mittäterschaft bedeutet. – So aber wird in dieser Inszenierung die Begegnung mit jenen Menschen, denen Camus ein Denkmal setzte, verwehrt!

Daher soll hier noch der Schluss des Originals zur Kenntnis gebracht werden, in dem sich, in der Verbundenheit zweier Liebenden über Gefängnismauern hinweg und über den Tod hinaus, der tragische Höhepunkt des Stückes findet! In seiner Zelle, die Hinrichtung vor Augen:

Kaljajew  … kann man sich nicht jetzt schon vorstellen, dass zwei Menschen auf alle Freuden verzichten, sich im Schmerz lieben und auf keine andere Begegnung mehr hoffen können als im Schmerz? Kann man sich nicht vorstellen, dass der Strick diese beiden Menschen vereint?“

Und Dora, die jedes Detail der Hinrichtung wissen will. Sie beharrt auf dem tröstlichen Gedanken, dass Kaljajew, ihr Janek, glücklich gewesen sei im letzten Augenblick. Und dieses Glück, ein letzmögliches wie ihr scheint, erhofft sie  auch für sich:

Dora  (zu Annenkow) … tu dies eine für mich: Gib mir die Bombe. (Annenko sieht sie an.) Ja, das nächste Mal: Ich will sie werfen. Ich will sie als erste werfen.

Annenkow  Du weißt doch, dass wir in der vordersten Reihe keine Frauen wollen

Dora  (mit einem Aufschrei) Bin ich jetzt etwa eine Frau? (alle sehen sie an. Stille.)

Woinow  (leise) Sag ja, Borja

Stepan  Sag ja.

Annenkow  Du warst an der Reihe, Stepan.

Stepan (schaut Dora an)  Sag ja. Sie ist jetzt wie ich.

Dora  Du wirst sie mir geben, nicht war? Ich werde sie werfen. Und später dann, in einer kalten Nacht …

Annenkow  Ja, Dora.

Dora (weinend)  Janek! In einer kalten Nacht, und mit demselben Strick! Jetzt wird alles leichter sein.“

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Dieses Finale ist mit den Ambitionen der Regie nicht zu realisieren, zumal nachdem die Inszenierung noch einen weiteren dramaturgischen Knalleffekt zu verkraften hatte. Sie machte Kaljajew zum Werkzeug eines von langer Geheimdiensthand vorbereiteten politischen Mordes zwecks Installation einer neuen Präsidentin. Ob der enttarnte und von Dora gerichtete Annenko davon wusste, bleibt offen. Ebenso, ob die übriggebliebenen Drei in Verblendung weiter morden dürfen. Jedenfalls scheint, nun unter Führung von Dora, ihr Wille gefestigt und ihre Absicht besiegelt. Sie recken in einer Schlusspose die Fäuste zum Schwur empor, der Eiserne Vorhang hebt sich und ein glutrotes Inferno tut sich auf!

Nachtrag

„Camus, der empathische, mit glutvoller Wärme begabte Humanist: In seinen Theatertexten und auf der Bühne kommt er uns besonders nah; so war es zu seinen Lebzeiten und so ist es heute, gut fünfzig Jahre nach seinem Tod.“*

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*Hinrich Schmidt-Henkel in seinem Nachwort zu „Albert Camus‘ Sämtliche Dramen in   Neuübersetzung. Erweiterte Neuausgabe September 2013. Rowohlt Verlag GmbH


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