Masernexanthem, Foto: CDC/NIP/Barbara Rice (CC-PD-Mark)
WIEN. (hpd) Im Osten Österreichs sind mindestens 34 Menschen an Masern erkrankt. Die Epidemie wütet vorwiegend in alternativen Privatbildungseinrichtungen. Mehrere Eltern hatten ihre Kinder nicht impfen lassen. Erkrankt sind auch mehrere Erwachsene. Ein Kommentar.Die jüngste Masernepidemie Österreichs entspricht allen Klischees, die man von der Impfgegner-Bewegung hat. Laut Medienberichten wird ein dreijähriges, nicht geimpftes Kind mit Masern ins Spital gebracht. Eine nicht geimpfte Ärztin steckt sich an und über den Umweg einer nicht geimpften Sozialarbeiterin und ihre selbstverständlich nicht geimpften Kinder findet die Krankheit ihren Weg in einen Montessori-Kindergarten und die zugehörige Montessori-Schule.
Wo die Viren – wenig überraschend – eine Menge neuer Wirte finden. Mehr als zehn Kinder, Betreuer und Eltern sind allein in diesen Einrichtungen erkrankt, sagt die Virologin Heidemarie Holzmann von der MedUni Wien gegenüber Medien.
Parademilieu der Impfgegner
Derartige privat geführte Einrichtungen ziehen vermeintlich alternative Mittelschichteltern an. Ihre Kinder können hier unter sich bleiben, unbelästigt von – Gott behüte – Arbeiterkindern, vorwiegend solchen nicht-österreichischer Herkunft. Das Parademilieu von Impfgegnern.
Wohler fühlt es sich dieses Milieu höchstens in anthroposophischen Bildungseinrichtungen, wo der Widerstand des wehrhaften (Klein-)Bürgertums gegen sämtliche Errungenschaften der Medizin nahezu Staatsdoktrin ist. Man weiß es ja besser als die Ärzte, die Büttel der »Schulmedizin« und der Pharmamafia.
Zwischen 20 und 40 Prozent nicht geimpft
Zwischen 20 und 40 Prozent der Kinder in Österreich sind nicht gegen Masern geimpft. Es sind fast ausschließlich Kinder gebildeter und relativ gut verdienender Eltern – kurz Kinder der Mittelschicht. Eltern mit niedrigerem sozialen Status lassen ihre Kinder fast durchgehend immunisieren.
Der hohe Anteil nicht geschützter Kinder verhindert, dass die Krankheit ausgerottet ist, wie das etwa in den USA der Fall ist. Dort gelten Masern nicht mehr als endemisch.
Sichtbarer Auswuchs des Esoterikwahns
Dass Masernepidemien in Österreich und Deutschland regelmäßig ausbrechen, ist sichtbarer Auswuchs des Esoterik- und Alternativ»medizin«-Wahns eines guten Teils der Mittelschicht. Dieses Milieu fühlt sich politisch entmündigt, sieht sich vom sozialen Abstieg bedroht und versucht alles, sich gegen »die da unten« abzugrenzen. Denen man gleichzeitig, ganz paternalistisch, helfen will.
Dieses Milieu zeigt sich empört über »Auswüchse der Marktwirtschaft«, die – völlig objektiv – demokratische Freiheitsrechte infrage stellen.
Nur reicht es, aller Bildung zum Trotz, zu nicht mehr als einer emotionalen Kritik an Missständen in einzelnen Teilen des Gesamtsystems. Das Gesamtsystem auch nur zu identifizieren, geschweige denn seine Machtverhältnisse zu erkennen, dazu reicht es nicht.
Der vermeintliche Antiautoritarismus
Der Kampf gegen diese Entwicklung mündet in eskapistische Tendenzen. Man fühlt sich vom Autoritarismus bedroht – und flüchtet sich in vermeintlich antiautoritäre dogmatische Totalitarismen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse werden mit dem eigenen naturwissenschaftlichen Halbwissen hinterfragt. Und der Akt des Hinterfragens bereits für Erkenntnisgewinn gehalten. So geht man Kurpfuschern, Dampfplauderern und Geschäftemachern auf den Leim.
Wie der grassierenden Impfgegner-Bewegung. Oder den Homöopathen. Und überhaupt allen Bewegungen, die »Authentizität« versprechen, »Sanftheit«, »Natürlichkeit«. Schlagworte, hinter denen sich ein brutaler Ego-Trip verbirgt, der unter dem Deckmantel der Toleranz im Endeffekt nicht mehr und nicht weniger fordert als die kulturelle Hegemonie.
Jede noch so abstruse Meinung ist der Wissenschaft ebenbürtig
Jegliche noch so abstruse Meinung profilierungssüchtiger (Pseudo)-Wissenschaftler, jede noch so offensichtliche Einbildung sich im Besitze höherer Wahrheiten (oder jahrtausendealter Weisheiten) wähnender geistig Verwirrter oder kognitiv Überforderter muss als gleichwertig mit wissenschaftlichen Erkenntnissen angesehen werden, will man sich nicht dem Vorwurf der Intoleranz und des Dogmatismus aussetzen.
»Innere Schau« und das Bauchgefühl ersetzen Skepsis, Empirie und allgemeine Überprüfbarkeit. Eigene Sehnsüchte werden in eine romantisierte Vergangenheit projiziert, um die harte Gegenwart als moralisch oder spirituell verkommen zu brandmarken. Auch eine Form der Lebensbewältigung.
»Was einem gut tut« wird zur allgemein gültigen medizinischen Formel umdeklariert, die nur die Masse der Verblendeten, Gekauften, zur Verdammnis gezwungenen aus Mangel an charakterlichen oder feinstofflichen Qualitäten nicht für sich nutzen kann. Rassismus tarnt sich als Karma-Gläubigkeit.
Der Griff nach der Wissenschaft
Diese Geisteshaltung erhebt den Anspruch, gleichberechtigt auf Unis unterrichtet zu werden. Ob Rudolf Steiner seine Anthroposophie ohne auch nur den Hauch von Ironie zur »Geisteswissenschaft« deklarierte oder die Homöopathen unter der Leitung einer Wunderheilerin, pardon: Heilpraktikerin, in Traunstein einen »Master of Science« verleihen wollen – stets geht es darum, sich die Anerkennung der Wissenschaft zu erzwingen. Zum Preis der Entwertung jeglicher wissenschaftlicher Ausbildung.
Das ist mittlerweile zur realen Gefahr geworden. Hogwarts an der Oder, das könnte bald der Regelfall an Unis werden.
In den alternativen Milieus der Mittelschicht stößt das auf breite Zustimmung. Selbst bei denen, die die abstrusen Konzepte der jeweiligen Pseudowissenschaft nicht anerkennen. Man müsse ja offen sein. Und die Wissenschaft wisse schließlich auch nicht alles. Es gelte ja die Meinungsfreiheit.
Nur, dass hier niemand irgendjemand das Recht auf eine eigene Meinung abspricht. Nur das Recht auf eigene Fakten.
Masern als spirituelle Bereicherung
Da kann es schnell passieren, dass selbsternannte Heilbringer mit Doktortitel schlicht bestreiten, dass Impfungen wirken. Die bestreiten, dass Masern eine tödliche Krankheit sind, die allein im 20. Jahrhundert Millionen Menschen dahin gerafft haben. Die zum Teil längst widerlegte Mythen über schwere Impfschäden verbreiten, wie Johann Loibner gegenüber dem ORF NÖ.
Wenn das nichts nützt, bemühen »Ärztinnen« wie Christine Laschkolnig eine »spirituelle Sicht«. Zitat: »Krankheit und Gesundheit sind wie die zwei Seiten einer Medaille. Krankheit ist eine Ausdrucksform des Körpers. Psychische Probleme können sich oft nur über körperliche Symptome äußern. Die Idee, Krankheit auszurotten, ist nicht unähnlich der Idee, die Menschheit auszurotten. Kinderkrankheiten sind die einzige Möglichkeit für Kinder, sich loszulösen sowohl von körperlichen als auch psychischen Mustern, mit denen sie hier in diese Welt geboren wurden. Je mehr sie an Belastung von ihren Eltern, Großeltern und Ahnen mitbringen, umso wichtiger ist es, sich daraus lösen zu können.«
Und: »Die Gehirnnerven, der Ursprung des gesamten Nervensystems, sind noch schutzlos - ohne Ummantelung - einem Rohr gleich, das noch keine Außenisolierung hat. Die Keime können gar nichts anderes tun, als sich an die Gehirnnerven anzulagern und behindern die Entwicklung der Nervenscheiden und damit die Gehirnentwicklung.«
Spätestens hier wird es grob fahrlässig. Gegen die Ärztin wurde vor kurzem eine Beschwerde bei der Patientenanwaltschaft der Stadt Wien eingereicht, die an die Ärztekammer weitergeleitet wurde.
Die alternativen Milieus der Mittelschicht versorgen diese Ärztinnen und Ärzte mit ausreichend zahlender Kundschaft.
Impfverweigerung gefährdet auch andere
Man könnte es zynisch als evolutionären Beitrag verstehen, wenn diese Leute ihre Kinder nicht impfen lassen und gefährlichen Krankheiten wie Masern oder Polio aussetzen. Und sich selbst obendrein.
Allein, Viren nehmen keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten oder sozialen Zugehörigkeiten potentieller Wirte. Sie befallen, wen immer sie können. Auch das Baby der Nachbarsfamilie, das noch zu jung ist um geimpft zu werden. Oder eine Ärztin, die wegen Problemen mit dem Immunsystem nie geimpft werden konnte. Oder einen Sanitäter, der zu dem zwei oder drei Prozent der Bevölkerung gehört, denen die Impfung keinen Immunschutz gebracht hat.
Wären alle Kinder geimpft, würden diese Menschen von der so genannten Herdenimmunität profitieren. Die Viren finden kaum mehr Wirte und können sich nicht mehr verbreiten, bevor sie absterben. So hat man die Pocken ausgerottet. So hätte man die Masern ausrotten können. Wenn nicht ganze Milieus, auf das vermeintliche Recht auf eigene Fakten pochend, sich verweigert hätten.
Gefahr auch für demokratischen Prozess
Die jüngste Masernepidemie zeigt, wie egoistisch und verantwortungslos diese Haltung ist. Dass die dahinter stehende Geisteshaltung nicht nur ihre Vertreter betrifft. Sondern die gesamte Gesellschaft gefährdet. Sei es in Form von Epidemien, sei es in Form einer Generalattacke auf die Wissenschaft, sei es in Form der Forderung, dass letztlich totalitäre esoterische Weltbilder gesellschaftlich akzeptabel sein müssen. Eine Bedrohung für den demokratischen Prozess. Diese Gefahr kommt aus der Mitte unserer Gesellschaft.
Christoph Baumgarten
[Erstveröffentlichung: hpd]