Die Geburt – Nur 48 Stunden (Teil 1)

Donnerstag, 7.11 Uhr

Werde von der Freundin aus dem Schlaf gerissen, die mir mit zitternder Stimme mitteilt, die Wehen hätten eingesetzt und es wäre nun an der Zeit, ins Krankenhaus zu fahren.

 

Donnerstag, 7.18 Uhr

Stehe im Bad und denke darüber nach, ob es mir das Kind danken wird, wenn ich mich zur Feier des Tages rasiere. Die Freundin schaut mit einer Mischung aus Ungeduld und Anspannung wie ein Erstklässler vor der Einschulung. Schließe daraus, dass sie eine Rasur meinerseits nicht zu schätzen weiß. Belasse es bei einer Katzenwäsche.

 

 Donnerstag, 7.25 Uhr

Meine Frage, ob wir noch etwas frühstücken sollen, wird abschlägig beschieden. Renne stattdessen auf die Straße und halte nach einem Taxi Ausschau.

 

Donnerstag, 7.31 Uhr

Bitte den Taxifahrer, er möge die Straßenverkehrsordnung eher als wohl gemeinte aber nicht zwingend zu befolgende Empfehlung für Fahrverhalten denn als bedingungslos einzuhaltende gesetzliche Vorschrift interpretieren. Er schaut so verständnislos wie ich früher in der Schule beim Versuch, im Matheunterricht Differentialgleichungen zu lösen. Erkläre ihm, er könne mit einem saftigen Trinkgeld rechnen, wenn er uns schnellstmöglich ins Krankenhaus bringt. Das pekuniäre Angebot scheint zu überzeugen, denn der Fahrer setzt unverzüglich zu Überholmanövern an wie Schummel-Schumi in seinen besten Zeiten.

 

Donnerstag, 8.04 Uhr

Renne zur Notaufnahme und erkläre, die Freundin habe Wehen, weswegen wir dringend in den Kreissaal müssten. Die Pförtnerin schaut gelangweilt von ihrer Zeitschrift auf und stellt in einem Tonfall, der ausschließlich in Berlin als charmant gilt, fest, es handele sich wohl um unsere erste Geburt.

 

Donnerstag, 8.45 Uhr

Sitzen im Wartebereich der Geburtsstation und versuchen, ein achtseitiges Aufnahmeformular in zweifacher Ausfertigung auszufüllen.

 

Donnerstag, 9.57 Uhr

Sitzen immer noch im Wartebereich. Die Wehen der Freundin werden stärker und sie gibt mir zu verstehen, ich solle dafür sorgen, dass wir endlich dran kommen.

 

Donnerstag, 10.46 Uhr

Gehe zur Stationsschwester und frage, ob wir zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen seien und vielleicht zur Geburt unseres nächsten Kindes wiederkommen sollen. Vermute ob des missmutigen Blicks der Krankenschwester, dass wir gerade auf der Warteliste ein paar Plätze weiter nach unten gerutscht sind.

 

Donnerstag, 11.35 Uhr

Dürfen endlich auf die Geburtsstation. Die Freundin wird als erstes an den Wehenschreiber angeschlossen. Dieser zeichnet trotz subjektiv stark vorhandener Schmerzen objektiv lediglich eine Gerade mit Ausschlägen im visuell kaum wahrnehmbaren Bereich auf. Die Krankenschwester erklärt, wir sollen einen ausführlichen Spaziergang unternehmen und frühestens nach zwei Stunden zurückkommen.

 

Donnerstag, 11.58 Uhr

Flanieren durch den Krankenhausgarten und sinnieren darüber, dass dies unser letzter kinderloser Spaziergang ist. Die Freundin klagt über Wehenschmerzen.

 

Donnerstag, 13.35 Uhr

Kehren leicht erschöpft auf die Station zurück. Der Wehenschreiber zeichnet eine Gerade in absoluter Perfektion. Die Schwester ordnet weitere Spaziergänge an. Wir sollen nicht vor 16 Uhr zurückkehren.

 

Donnerstag, 13.58 Uhr

Schlage vor, wir könnten einen kleinen Snack einnehmen. Der Freundin wird beim Gedanken an Essen schlecht. Erkläre mich solidarisch und verzichte aufs Mittagessen.

 

Donnerstag, 15.28 Uhr

Drehen immer noch Runden durch den Krankenhausgarten und erinnern uns, dass wir vorhin dachten, unseren letzten kinderlosen Spaziergang zu unternehmen. Die Wehenschmerzen nehmen weiter zu.

 

Donnerstag, 16.00 Uhr

Erscheinen pünktlich auf der Geburtsstation. Die Ausschläge des Wehensschreibers bleiben niedriger als das Niveau einer Hera Lind Verfilmung. Ziehe mir den Zorn der Schwester zu, weil ich einen anderen Schreiber verlange, da der bisherige offenkundig nicht richtig funktionierte.

 

Donnerstag, 16.18 Uhr

Die Laune der Schwester verschlechtert sich weiter, als das neue Gerät die gleichen Ergebnisse produziert. Werden auf weitere Spaziergänge geschickt, verbunden mit dem kaum noch als höflich zu bezeichnenden Hinweis, wir sollen es unter keinen Umständen wagen, uns weniger als drei Stunden Zeit dafür zu nehmen.

 

Donnerstag, 16.46 Uhr

Frage die Freundin, ob wir uns nicht vielleicht doch etwas stärken sollten. Sie schaut mich fassungslos an, als hätte ich vorgeschlagen, wir könnten Presskopf mit Sülze essen.

 

Donnerstag, 17.32 Uhr

Erinnere mich an einen Bericht über einen 82-jährigen Inder, der angeblich mehr als siebzig Jahre keine Nahrung und kein Wasser zu sich genommen hat und den Tag mit Yoga-Übungen verbracht hat. Bin aber zu ungelenk für Yoga-Figuren und bezweifle, dass der indische Asket alle zehn Minuten an einer Cafeteria vorbeigelaufen ist.

 

Donnerstag, 18.27 Uhr

Schauen kurz auf der Geburtsstation vorbei. Werden barsch von der Schwester gefragt, ob wir nicht in der Lage seien, die Uhr zu lesen, und nicht wüssten, wann die drei Stunden vorbei sind.

 

Donnerstag, 19.00 Uhr

Die Kurve des Wehenschreibers bleibt flach wie die Witze eines Fips Asmussen Abends.

 

Donnerstag, 19.17 Uhr

Die Krankenschwester schlägt vor, die Nacht zuhause zu verbringen. Die Freundin lehnt dies vehement ab, da könne sie ja gleich eine Hausgeburt durchführen. Eine Vorstellung, die mich außerordentlich motiviert, nachdrücklich auf eine Übernachtung im Krankenhaus zu drängen.

 

Donnerstag, 20.38 Uhr

Bekommen ein leerstehendes Einzelzimmer zugewiesen. Die Freundin verzichtet dankend auf das Abendessen. Lutsche am Kopfkissen, um überhaupt etwas im Mund zu haben.

 

Donnerstag, 21.13 Uhr

Die Nachtschwester verabreicht der Freundin einen Wehenhemmer, um uns eine ruhige Nacht zu bescheren.

 

Donnerstag, 21.14 Uhr

Schlafe sofort vollkommen erschöpft durch die kilometerlangen Spaziergänge und geschwächt durch das Nahrungsdefizit ein.

 

Donnerstag, 23.15 Uhr

Werde von der Freundin geweckt, die mit verklärten Augen erklärt, sie habe von ihrer Großmutter geträumt, die ihr zur Geburt einer Tochter gratuliert habe. Frage mich, ob der Wehenhemmer halluzinogene Wirkungen hat.

Die Geburt – Nur 48 Stunden (Teil 2)


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