Donnerstag, 7.11 Uhr
Werde von der Freundin aus dem Schlaf gerissen, die mir mit zitternder Stimme mitteilt, die Wehen hätten eingesetzt und es wäre nun an der Zeit, ins Krankenhaus zu fahren.
Donnerstag, 7.18 Uhr
Stehe im Bad und denke darüber nach, ob es mir das Kind danken wird, wenn ich mich zur Feier des Tages rasiere. Die Freundin schaut mit einer Mischung aus Ungeduld und Anspannung wie ein Erstklässler vor der Einschulung. Schließe daraus, dass sie eine Rasur meinerseits nicht zu schätzen weiß. Belasse es bei einer Katzenwäsche.
Donnerstag, 7.25 Uhr
Meine Frage, ob wir noch etwas frühstücken sollen, wird abschlägig beschieden. Renne stattdessen auf die Straße und halte nach einem Taxi Ausschau.
Donnerstag, 7.31 Uhr
Bitte den Taxifahrer, er möge die Straßenverkehrsordnung eher als wohl gemeinte aber nicht zwingend zu befolgende Empfehlung für Fahrverhalten denn als bedingungslos einzuhaltende gesetzliche Vorschrift interpretieren. Er schaut so verständnislos wie ich früher in der Schule beim Versuch, im Matheunterricht Differentialgleichungen zu lösen. Erkläre ihm, er könne mit einem saftigen Trinkgeld rechnen, wenn er uns schnellstmöglich ins Krankenhaus bringt. Das pekuniäre Angebot scheint zu überzeugen, denn der Fahrer setzt unverzüglich zu Überholmanövern an wie Schummel-Schumi in seinen besten Zeiten.
Donnerstag, 8.04 Uhr
Renne zur Notaufnahme und erkläre, die Freundin habe Wehen, weswegen wir dringend in den Kreissaal müssten. Die Pförtnerin schaut gelangweilt von ihrer Zeitschrift auf und stellt in einem Tonfall, der ausschließlich in Berlin als charmant gilt, fest, es handele sich wohl um unsere erste Geburt.
Donnerstag, 8.45 Uhr
Sitzen im Wartebereich der Geburtsstation und versuchen, ein achtseitiges Aufnahmeformular in zweifacher Ausfertigung auszufüllen.
Donnerstag, 9.57 Uhr
Sitzen immer noch im Wartebereich. Die Wehen der Freundin werden stärker und sie gibt mir zu verstehen, ich solle dafür sorgen, dass wir endlich dran kommen.
Donnerstag, 10.46 Uhr
Gehe zur Stationsschwester und frage, ob wir zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen seien und vielleicht zur Geburt unseres nächsten Kindes wiederkommen sollen. Vermute ob des missmutigen Blicks der Krankenschwester, dass wir gerade auf der Warteliste ein paar Plätze weiter nach unten gerutscht sind.
Donnerstag, 11.35 Uhr
Dürfen endlich auf die Geburtsstation. Die Freundin wird als erstes an den Wehenschreiber angeschlossen. Dieser zeichnet trotz subjektiv stark vorhandener Schmerzen objektiv lediglich eine Gerade mit Ausschlägen im visuell kaum wahrnehmbaren Bereich auf. Die Krankenschwester erklärt, wir sollen einen ausführlichen Spaziergang unternehmen und frühestens nach zwei Stunden zurückkommen.
Donnerstag, 11.58 Uhr
Flanieren durch den Krankenhausgarten und sinnieren darüber, dass dies unser letzter kinderloser Spaziergang ist. Die Freundin klagt über Wehenschmerzen.
Donnerstag, 13.35 Uhr
Kehren leicht erschöpft auf die Station zurück. Der Wehenschreiber zeichnet eine Gerade in absoluter Perfektion. Die Schwester ordnet weitere Spaziergänge an. Wir sollen nicht vor 16 Uhr zurückkehren.
Donnerstag, 13.58 Uhr
Schlage vor, wir könnten einen kleinen Snack einnehmen. Der Freundin wird beim Gedanken an Essen schlecht. Erkläre mich solidarisch und verzichte aufs Mittagessen.
Donnerstag, 15.28 Uhr
Drehen immer noch Runden durch den Krankenhausgarten und erinnern uns, dass wir vorhin dachten, unseren letzten kinderlosen Spaziergang zu unternehmen. Die Wehenschmerzen nehmen weiter zu.
Donnerstag, 16.00 Uhr
Erscheinen pünktlich auf der Geburtsstation. Die Ausschläge des Wehensschreibers bleiben niedriger als das Niveau einer Hera Lind Verfilmung. Ziehe mir den Zorn der Schwester zu, weil ich einen anderen Schreiber verlange, da der bisherige offenkundig nicht richtig funktionierte.
Donnerstag, 16.18 Uhr
Die Laune der Schwester verschlechtert sich weiter, als das neue Gerät die gleichen Ergebnisse produziert. Werden auf weitere Spaziergänge geschickt, verbunden mit dem kaum noch als höflich zu bezeichnenden Hinweis, wir sollen es unter keinen Umständen wagen, uns weniger als drei Stunden Zeit dafür zu nehmen.
Donnerstag, 16.46 Uhr
Frage die Freundin, ob wir uns nicht vielleicht doch etwas stärken sollten. Sie schaut mich fassungslos an, als hätte ich vorgeschlagen, wir könnten Presskopf mit Sülze essen.
Donnerstag, 17.32 Uhr
Erinnere mich an einen Bericht über einen 82-jährigen Inder, der angeblich mehr als siebzig Jahre keine Nahrung und kein Wasser zu sich genommen hat und den Tag mit Yoga-Übungen verbracht hat. Bin aber zu ungelenk für Yoga-Figuren und bezweifle, dass der indische Asket alle zehn Minuten an einer Cafeteria vorbeigelaufen ist.
Donnerstag, 18.27 Uhr
Schauen kurz auf der Geburtsstation vorbei. Werden barsch von der Schwester gefragt, ob wir nicht in der Lage seien, die Uhr zu lesen, und nicht wüssten, wann die drei Stunden vorbei sind.
Donnerstag, 19.00 Uhr
Die Kurve des Wehenschreibers bleibt flach wie die Witze eines Fips Asmussen Abends.
Donnerstag, 19.17 Uhr
Die Krankenschwester schlägt vor, die Nacht zuhause zu verbringen. Die Freundin lehnt dies vehement ab, da könne sie ja gleich eine Hausgeburt durchführen. Eine Vorstellung, die mich außerordentlich motiviert, nachdrücklich auf eine Übernachtung im Krankenhaus zu drängen.
Donnerstag, 20.38 Uhr
Bekommen ein leerstehendes Einzelzimmer zugewiesen. Die Freundin verzichtet dankend auf das Abendessen. Lutsche am Kopfkissen, um überhaupt etwas im Mund zu haben.
Donnerstag, 21.13 Uhr
Die Nachtschwester verabreicht der Freundin einen Wehenhemmer, um uns eine ruhige Nacht zu bescheren.
Donnerstag, 21.14 Uhr
Schlafe sofort vollkommen erschöpft durch die kilometerlangen Spaziergänge und geschwächt durch das Nahrungsdefizit ein.
Donnerstag, 23.15 Uhr
Werde von der Freundin geweckt, die mit verklärten Augen erklärt, sie habe von ihrer Großmutter geträumt, die ihr zur Geburt einer Tochter gratuliert habe. Frage mich, ob der Wehenhemmer halluzinogene Wirkungen hat.
Freitag, 3.21 Uhr
Wache durch ein lautes Geräusch auf. Stelle fest, dass es mein knurrender Magen ist. Kann nicht mehr einschlafen.
Freitag, 6.25 Uhr
Die Freundin schickt die Schwester mit dem Frühstückstablett sofort wieder raus, da sie sich sonst übergeben müsse. Komme mir vor wie Jan Ulrich, der vom Hungerast geplagt den Mont Ventoux hinaufradelt.
Freitag, 8.30 Uhr
Erster Besuch beim Wehenschreiber. Der Wehenhemmer leistet ganze Arbeit und der Schreiber bewegt sich weniger als Bill Cosby beim Tanzen.
Freitag, 9.11 Uhr
Laufen Runde für Runde schweigend durch die Gartenanlage des Krankenhauses. Fühle mich wie Bill Murray am Murmeltiertag in Punxsutawney. Versuche die Melodie von „I got you Babe“ aus dem Kopf zu vertreiben.
Freitag, 10.30 Uhr
Ereignisloser Besuch beim Wehenschreiber. Biete der Freundin an, bei mir die Wehen messen zu lassen. Sie verlässt wortlos das Zimmer Richtung Gartenanlage.
Freitag, 11.41 Uhr
Frage die Freundin, ob es ihr etwas ausmacht, wenn sie alleine weiter spazieren geht. Ich sollte meine Kräfte besser schonen, damit ich sie später bei der Geburt besser unterstützen kann. Entnehme ihrer ausbleibenden Antwort, dass es ihr anscheinend etwas ausmacht.
Freitag, 12.30 Uhr
Spreche vorsichtig das Mittagessenthema an. Die Freundin herrscht mich an, ob ich denn an gar nichts anderes als immer nur an Essen denken könne.
Freitag, 13.32 Uhr
Die nächste Sitzung am Wehenschreiber ist ernüchternd wie der Blick aufs Bankkonto am Monatsende.
Freitag, 14.11 Uhr
Die Ärzte denken darüber nach, den Wehen medikamentös auf die Sprünge zu helfen. Daraufhin bequemen sich die selbigen wieder einzutreten.
Freitag, 15.47 Uhr
Dürfen tatsächlich den Kreissaal betreten.
Freitag, 16.32 Uhr
Der Anästhesist begrüßt uns mit dem aufmunternden Spruch, rein ginge es halt leichter als raus. Spiele mit dem Gedanken, ihm eine reinzuhauen. Erkläre ihm stattdessen, dass im umgekehrten Falle die Menschheit schon längst ausgestorben wäre. Findet er evolutionär gesehen recht einleuchtend.
Freitag, 16.43 Uhr
Werde des Raumes verwiesen, damit der Freundin in Ruhe eine lokale Betäubung in den Rücken gesetzt werden kann. Verabschiede mich mit ausschweifenden Worten des Bedauerns.
Freitag, 16.44 Uhr
Will mich gerade auf den Weg zur Cafeteria aufmachen, als mir ein frisch gebackener Vater mit Tränen der Rührung in den Augen seinen Neugeborenen präsentiert. Das Gesicht des Säuglings ist stark gerötet, er hat eine erstaunlich große und breite Nase sowie verkniffene Augen. Er erinnert mich das Kindchenschema verhöhnend an Franz-Josef Strauß. Versichere dem Vater mit wohlfeilen Worten, was für einen prachtvollen Stammhalter er gezeugt habe. Bete innerlich, unser Kind möge keine Ähnlichkeit mit bayerischen Politikern oder Politikern jeglicher Couleur aufweisen.
Freitag, 17.04 Uhr
Kehre in den Kreissaal zurück, wo die lindernde Wirkung der Betäubung nicht nur die Schmerzen, sondern auch die Wehen vertrieben hat.
Freitag, 18.51 Uhr
Ernte wenig Verständnis von der Freundin, als ich über meine unmenschlichen Magenschmerzen klage.
Freitag, 21.49 Uhr
Seit Stunden keine Neuigkeiten von der Wehenfront.
Freitag, 23.14 Uhr
Hören Tom-Waits-Lieder in Dauerschleife, was dazu führt, dass sich das Krankenhauspersonal immer seltener in unserem Zimmer blicken lässt, um nach dem Rechten zu sehen.
Samstag, 1.04 Uhr
Die Hebamme zieht ihre erfahrenste Kollegin für eine Einschätzung zu Rate. Diese kommt in Gestalt eines alten Hutzelweibchens, das die ideale Besetzung für Jodas Mutter in einer Star Wars – Verfilmung darstellt. Sie brabbelt ein paar unverständliche Worte. Hört sich an wie „Das Kind nicht auf natürlichem Wege zur Welt kommen wird“.
Samstag, 2.49 Uhr
Erwäge, unsere Wohnung zu kündigen und dauerhaft ins Krankenhaus zu ziehen.
Samstag, 4.11 Uhr
Der Stationsarzt kommt in den Kreissaal und erklärt, er möchte sicherstellen, dass es dem Kind gut gehe. Dazu müsse er mit einer langen Nadel durch die mütterliche Scheide ins Köpfchen des Kindes piksen, um den Sauerstoffgehaltes des Blutes zu untersuchen. Wir würden uns sicherlich fragen, ob dies dem Kind weh tut. Das sei wahrscheinlich der Fall. Glücklicherweise würde sich das Kind später daran aber nicht erinnern und schon gar nicht daran, dass er es gepikst hätte.
Samstag, 4.15 Uhr
Der Arzt kommt zurück und verkündete freudestrahlend, dass unser Kind mehr Energie für den Rest der Nacht habe als er selbst. Eine Information so beruhigend wie die Ankündigung Norbert Blüms, die Renten seien sicher.
Samstag, 5.45 Uhr
Die Ärzte entscheiden, das Kind per Kaiserschnitt zu holen. Ziehe mir viel zu große OP-Klamotten an und werde auf dem Weg zum OP-Saal von einer älteren Dame als Herr Doktor nach dem Weg zur Babystation gefragt. Erkläre ihr indigniert, dass ich jetzt operieren müsse und sie sich bitte an die Schwestern wenden möge.
Samstag, 6.23 Uhr
Höre im OP, wie der Oberarzt das Personal anweist, man möge sich beeilen. Er habe noch zwei weitere Eingriffe und einen wichtigen Termin um 10 Uhr. Bilde mir ein, dass unter seinem OP-Kittel Golfhosen hervorlugen. Könnte sich aber auch um eine schlafentzug- und nahrungsdefizitbedingte Sinnestäuschung handeln.
Samstag, 7.11 Uhr
Nach präzisem Schneiden, Ziehen und Drücken der Ärzte hält uns die OP-Schwester ein kleines käseschmieriges Bündel entgegen. Es scheint ob der langen Geburt etwas verstimmt zu sein und brüllt uns mit puterrotem Kopf an.
Samstag, 7.24 Uhr
Bin erleichtert als mir die Hebamme das gewickelte Kind in den Arm drückt und es nicht mehr aussieht wie ein Kleindarsteller aus der Alien-Trilogie.
Samstag, 7.35 Uhr
Werde von der Kinderkrankenschwester mit den Worten verabschiedet, Mutter und Kind müssten sich jetzt ausruhen. Verlasse das Krankenhaus, kann mich aber nicht an den Weg zur U-Bahn oder den Namen unserer Straße erinnern. Lege mich auf eine Bank im vertrauten Krankenhausgarten. Schlafe ein und träume davon mit dem greisen Inder die Yoga-Figur „Essender Mann“ einzuüben.