Alle Frauen, die sich bis 1989 in der DDR für harte D-Mark prostituierten, taten dies aus freien Stücken. Sagt man. Die meisten dieser Frauen waren absolut linientreue DDR Bürger, die völlig freiwillig zu inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit wurden und sich, als „Kundschafterinnen für den Frieden“ ebenso freiwillig zur ständigen Verfügung stellten, aus dem kapitalistischen Ausland stammende und aus geschäftlichen Gründen in die DDR gekommene Wirtschafts- und Industrie Kapitäne systematisch auszuspionieren und in kompromittierende Situationen zu bringen. Heißt es.
Tatsachen? Oder alles Unsinn?
Fragen, auf die Rita, die junge Frau von damals, von deren Schicksal ich heute erzählen möchte eine Antwort weiß.
Es ist ein warmer Frühlingstag und die Luft ist voll von dem lauten Gezwitscher der Vögel, dem emsigen Summen der Insekten und dem Duft der Krokusse, die mit ihren strahlend leuchtenden Farben beinahe jeden inzwischen wieder grünen Fleck erobert haben, den die Stadt Rostock ihnen zu bieten hat.
Frühling. Das war schon immer Ritas Lieblingsjahreszeit. Eine Zeit, in der sie sich, wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bot, Stunden lang in den Parks und Grünanlagen der Stadt aufhalten konnte um sich von den ersten Sonnenstrahlen wärmen zu lassen und um die endlich wieder zum Leben erweckte und farbenfrohe Umgebung zu genießen, die sich ihr dort bot. So, wie auch an diesem Tag. Als Rita lächelnd und mit den Gedanken weit weg auf einer der hölzernen Bänke der Rostocker Wallanlagen sitzt und die Vögel und Insekten beobachtet, die pfeifend, zwitschernd, summend oder brummend über ihrem Kopf hin und her fliegen. Doch es sind nicht die schöne Umgebung oder die Vögel und Insekten, die ihr dieses Lächeln auf die Lippen zaubern. Nein. Es ist die Liebe, die vor etwa sechs Wochen, als sie Philippe kennen lernte in ihr Herz gezogen war.
Philippe. Ein junger und äußerst gut aussehender Ingenieur aus dem nahen aber doch so fernen Frankreich, dessen Firma das Rostocker Düngemittelwerk aufgebaut hatte und der nun, so, wie viele seiner Kollegen als technischer Berater dafür verantwortlich war, diesem neuen Werk Leben einzuhauchen.
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„Nun zier Dich nicht so und zieh Dich endlich an.“ Hatten Anja und Katrin damals zur ihr gesagt, während sie, in dem sie Ritas Kleiderschrank öffneten und ihr ein Kleid nach dem anderen zuwarfen und in dem sie ihr versprachen, sie einzuladen versuchten, ihre Freundin dazu zubringen, sie in die nicht weit entfernte „Trocadero“ Bar zu begleiten, in der sie etwas trinken, etwas reden und viel tanzen, in der sie an diesem Abend, wie schon lange nicht mehr einfach mal wieder Spaß haben wollten.
Ein Angebot, das sehr verlockend klang. Denn auch Rita hatte nach einer monatelangen monotonen Arbeit, die sie Tag aus und Tag ein in ihrem Betrieb, dem VEB Jugendmode Shanty verrichtete, dort, wo sie den ganzen lieben langen Tag an ihrer Nähmaschine saß und Bekleidungsstücke zusammen nähte, die niemand in der DDR jemals zu Gesicht bekam, sondern die auf direktem Wege in den Westen gingen eine kleine Abwechslung bitter nötig.
Und so kam es, dass Rita schließlich einwilligte und ihre Freundinnen, jedoch nicht, ohne die beiden daran zu erinnern, dass sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit müsse und dass sie daher nur ein paar Stunden bleiben würde in die „Trocadero“ Bar begleitete.
Dort, wo sie etwas später ein junger Mann im gebrochenen Deutsch zum Tanz aufforderte. Wo sie den ganzen Rest des Abends mit Philippe, wie sich dieser ihr vorstellte verbrachte. Und wo sich Rita Hals über Kopf in diesen gut aussehenden und wohlerzogenen jungen Mann verliebte.
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Sechs Wochen waren seit diesem Abend, der um ein Haar nicht geschehen wäre bereits vergangen. Wochen, in denen die beiden Verliebten wirklich jede Minute nutzten, die sie zusammen sein konnten. In denen sie sich liebten, sich von ihrem Leben erzählten, ja in denen sie sogar begannen, von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen.
Eine Zukunft zwischen einer Bürgerin der DDR und einen Mann aus dem kapitalistischen Ausland? War das überhaupt möglich? Oder würde man eine solche Verbindung mit dem Klassenfeind, der Philippe in den Augen der DDR Führung war einfach unterbinden?
Fragen, über die Rita und Philippe, zwei junge Menschen, die einfach nur glücklich sein, die von den Sorgen dieser Welt nichts sehen und noch weniger hören wollen bisher nicht nach denken.
Doch das wird sich schon sehr bald ändern. Denn Rita gerät nicht nur durch ihre Liesong mit Philippe, einem französischen Klassenfeind ins Visier der Staatssicherheit, sondern auch durch die immer stärker werdende und wie man beim MfS richtig vermutet, durch diesen Klassenfeind ausgelöste Veränderung ihrer Einstellung gegenüber dem Staate und gegenüber ihrer Arbeit, der sie immer häufiger fern bleibt.
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„Mitkommen“ Das sind die einzigen Worte, die einer der Männer im barschen Ton zu ihr sagt, bevor sie die junge Frau mit brutaler Gewalt an den Armen packen, sie die Treppe ihres Wohnhauses herunter zerren und in einen der beiden, vor dem Haus stehenden Fahrzeuge stoßen, die, kaum dass alle Türen geschlossen sind mit heulenden Motoren und quietschenden Reifen davon fahren.
Ihr Ziel. Das ist die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit Rostock. Dort, wo man Rita, ohne auch nur ein einziges Wort mit ihr zu sprechen, also auch ohne jede Erklärung für fünf unendlich lange Tage in eine der vielen dunklen und kalten Zellen sperrt. Es ist dieselbe Zelle, aus der man sie am Tage nicht zum Freigang raus lässt und in der man sie in der Nacht mit dauerhaften Schlafentzug quält, in dem man sie, immer dann, wenn Rita es trotz ihrer panischen Angst geschafft hat einzuschlafen mit einer Lichtkontrolle und ein paar Tritten gegen die Zellentür weckt.
Eine psychische Folter, die ihr Ziel nicht verfehlt. Hat sie es doch in nur wenigen Tagen geschafft, die eben noch so lebensfrohe junge Frau zu einem zitternden Schatten ihrer selbst zu machen. Zu einer Gefangenen, die nun für die Vernehmung, wenn man das Folgende überhaupt so nennen kann bereit oder wie sich manche der Herren Vernehmer gern ausdrückten weich genug gekocht ist.
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„Wissen Sie, warum Sie bei uns sind?“ Beginnt Ritas Gegenüber, ein Offizier, wie sie die goldfarbenen Sterne auf dessen, in silberfarben geflochtenen Schulterstücken vermuten lassen. „Nein. Das weiß ich nicht“ Gibt Rita mit leiser und ängstlicher Stimme zurück, während ihre Hände zittern und sich ihre Augen mit Tränen füllen.
„Gut. Dann werde ich es Ihnen sagen“ Antwortet der Stasioffizier mit einem gespielten Lächeln auf den Lippen. Kurz bevor er die vor sich auf dem Tisch liegende Akte öffnet, einen kurzen Moment so tut, als würde er das darin stehende das erste Mal lesen und bevor er damit beginnt, Rita zu erklären, wie viel Schlimmes in dieser Akte über sie steht und was nun, auf Grund all dieser unfassbaren Dinge mit ihr geschehen könnte.
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Es ist ein langer Vortrag, den Rita an diesem Morgen über sich ergehen lassen muss und in dem der Mann, während er immer wieder einen Blick in die vor ihm liegende Akte wirft, von Arbeitsbummelei und von asozialem Verhalten spricht, das seiner Ansicht nach auf ihre, an einer Staatsfeindlichkeit grenzende Einstellung zurück zu führen ist, die sie auf Grund ihres schlechten Umgangs mit diesem französischen Strolch und imperialistischen Klassenfeind erlangt habe und mit dessen Bekanntschaft sie die DDR und damit die Partei der SED verriet. Und das, obwohl diese, wie er mit erhobener Stimme betont soviel für sie getan hat, sie kostenlos in die Schule gehen ließ und ihr eine anständige und ebenso kostenlose Ausbildung angedeihen lassen hatte.
Eine halbe Stunde dauert es, bis der Offizier endlich am Ende seiner Rede angelangt ist. Doch das soll nicht heißen, dass er nun auch mit Rita fertig ist. Nein. Ganz im Gegenteil. Denn nun erst beginnt der eigentliche Teil dieses „Gespräches“. Der Teil, in dem ihr der Mann erklärt, dass Rita auf Grund ihres asozialen und staatsfeindlichen Verhaltens und auf Grund der von ihr begangenen illegalen Kontaktaufnahme zu einem Bürger des nicht sozialistischen Auslandes, das als Landesverrat anzusehen ist nun mit einer mehrjährigen Gefängnisstrafe rechnen muss.
Worte, die, wie man sich sicher leicht vorstellen kann bei Rita einschlagen wie der Blitz eines Sommergewitters in einen auf dem Felde stehenden Baum. Doch auch, wenn dieser Einschlag, der dafür sorgt, dass der jungen Frau, die sich nur mit großer Mühe auf ihrem Stuhl halten kann schwindlig und schwarz vor Augen wird schon allein schrecklich genug ist, so ist er doch nur ein Vorbote des noch um einiges schrecklicheren und unfassbareren Einschlages, der diesem, kaum, dass sich Rita von ihrem schweren Schock erholen kann noch folgen soll.
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„Natürlich gibt es für alles auch immer eine Lösung“ Holt ihr Gegenüber nach einer kurzen aber wirkungsvollen Pause von neuem aus. „Denn schließlich sind wir keine Unmenschen. Besonders nicht bei Leuten, die uns in unserer Arbeit unterstützen“
„Bei unserer Arbeit unterstützen?“ Fragt sich Rita heimlich. „Was soll das bedeuten? Will der mich etwa als Spitzel werben?“
Ja. Genau das will er. Jedoch, wie die junge Frau nur einen Augenblick später erfährt nicht so, wie sie es sich eben noch dachte. Sondern auf eine Art und Weise, wie sie sich Rita bis dahin nicht in ihren schlimmsten Träumen hätte vorstellen können.
Denn nun beginnt der Stasioffizier, während er sich langsam von seinem Stuhl erhebt, zu Rita herüber geht, sich vor ihr auf den Tisch setzt und mit einem breiten und widerlichen Grinsen seine schwitzige Hand auf ihren Oberschenkel legt zu erklären, dass sie eine äußerst hübsche junge Frau wäre, für die das Ministerium der Staatssicherheit eine ganz besondere Aufgabe hätte. Ein Auftrag, wie der Mann weiter erklärt, dessen direkte und gewissenhafte Ausführung nicht nur für eine Wiedergutmachung ihrer schwerwiegenden und absolut schändlichen Vergehen und für die Wiederherstellung ihres Ansehens sorgen würde, sondern der ihr darüber hinaus eine Menge Annehmlichkeiten bereiten könnte.
Was für eine Aufgabe könnte das sein, die Rita aus dieser furchtbaren Situation retten, deren Ausführung ihre schändlichen Vergehen in Luft auflösen konnte? Vergehen, von denen die junge Frau bis zu diesem Tage gar nicht wusste, dass sie sie begangen hatte.
Verständliche Fragen, die Rita von dem noch immer vor ihr sitzenden und noch immer grinsenden Mann, der ihre verständnislosen Augen bemerkt nur einen Augenblick später mit ein paar mehr als deutlichen Worten beantwortet bekommt.
Denn nun lässt der Stasioffizier, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen und indem er ihr mit eindeutigen Gesten erklärt, dass sie in diesem Auftrag nichts anderes zu tun braucht, als sich mit dem einen oder anderen Geschäftsmann aus dem Westen zutreffen und ein wenig nett zu ihm zu sein die Katze aus dem Sack. Er erklärt ihr, dass das nichts anderes wäre, als das, was sie schon so oft mit ihrem Franzosen getan hat.
Dass sie als Hure für den Frieden, wie sie der Offizier lachend nennt, nur ab und zu ihre hübschen Beine auseinander zu machen brauche, dass sie dabei eine Menge Spaß haben könnte und natürlich alle Geschenke, die schönen Kleider, die Westjeans und das viele Westgeld, das sie dabei verdienen könnte behalten darf.
Doch das ist noch immer nicht alles, was dieser Mann Rita zu sagen hat. Nein. Er macht der geschockten jungen Frau auch ziemlich deutlich klar, dass die einzige Alternative zu seinem Vorschlag nur darin besteht, für eine sehr lange Zeit ins Gefängnis zu gehen. Und dass er alles tun wird, um nicht nur sie, sondern auch ihre gesamte Familie und natürlich auch ihren Philippe, dem er schon irgendetwas anhängen würde hinter Gitter zu bringen.
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Rita wurde damals, im Anschluss an dieses „Gespräch“ für weitere drei Tage und unter erneuter völliger Isolierung in ihre dunkle und kalte Zelle zurück gesperrt. Dort, wo sie in Ruhe über eine Entscheidung nachdenken sollte und wo sie sich, um dem ihr drohenden Schicksal zu entgehen, vor allem aber um ihre Familie und ihren Philippe zu schützen für das zwar schmutzige aber auch rettende Angebot des Staatssicherheit entschied.
Eine, wie man sich denken kann schwere Entscheidung, die Rita, ihre Familie und auch Philippe, dessen Umgang ihr von nun an verboten war, den sie also nie wieder sah, tatsächlich vor dem Gefängnis bewahrte. Doch zu welch einem Preis?
Zu einem, der aus der eins so lebensfrohen Rita die immer mehr abgeklärte und beinahe gefühlstoten „Lolita“ machte, so lautete der Name, den ihr die Staatssicherheit gab, die im Laufe der Jahre als so genannte „Agentin für den Frieden“ oder besser gesagt als „Friedenshure“, wie sie der Stasioffizier von damals genannt hatte mehr schlecht als recht für das brisante Material sorgte, das das Ministerium für Staatssicherheit benötigte, um all die Geschäftsleute aus dem Westen zu erpressen, mit denen sich Rita, genau, wie all die anderen zur Prostitution genötigten Frauen unter ihrem Decknamen in der Rostocker Tagesbar, in der gleich daneben liegenden Storchenbar, im Rostocker Hotel Warnow, im Warnemünder Hotel Neptun oder auf der Leipziger Messe traf und mit denen sie, wie man es von ihr verlangte, von Kameras gefilmt und von Mikrofonen belauscht ins Bett stieg.
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Eine schreckliche Zeit, die zwar auch für Rita, die noch immer in Rostock lebt schon lange her aber doch noch immer nicht vergessen ist. Für die sie sich schämt, die sie bis heute verfolgt und die sie, von der Familie und von den Freunden verlassen zu einem sehr traurigen und sehr einsamen Menschen macht.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.