Die Flöte im See • Ein Märchen aus Japan

Von Renajacob @renajacob

Vor vielen Jahren reiste einmal ein junger Samurai aus dem Hoheitsgebiet Dewa, das liegt heute in der Präfektur Yamagata, im Auftrag seines Gebieters mit einem Brief nach der Stadt Shimizu. Er schritt rüstig aus und ließ sich nirgendwo aufhalten. Er war bereits einige Tage unterwegs, und da er ein guter Wanderer war, kam er rasch seinem Ziel näher. Er war nur noch wenige Stunden von der Stadt entfernt, als er an eine liebliche Wasserlandschaft am Mogami-Fluß kam. Der Strom hat an dieser Stelle Seitenarme, die sich zu Seen und Mooren ausweiten. Der junge Mann beschloss, hier ein wenig zu rasten. Er zog seinen Imbiss hervor, und als er sich gesättigt hatte, holte er seine Flöte aus dem Gürtel und ergötzte sich für eine Weile mit zarten Melodien. Er glaubte sich ganz allein, nur mit den Wasservögeln als Gesellschaftern. Einige alte Weidenbäume standen in der Nähe und ließen ihre biegsamen langen Zweige wie hellgrüne Schleier auf das Wasser hängen.


Bald hatte der Samurai sich ausgeruht, er steckte seine Flöte weg und wollte aufstehen, um weiterzugehen. Und wie er hochblickte, stand dicht vor ihm ein schönes Mädchen. Ganz leise musste es gekommen sein, es lächelte zart und sprach: "Lieber Herr, spielt doch noch ein wenig weiter, es ist gar zu schön!" Der Mann war erschrocken, er konnte sich nicht erklären, was ein junges Mädchen so allein in dieser Wildnis zu tun hatte. "Ja, woher kommst du denn? Was machst du in dieser Einsamkeit?" "Ich wohne hier ganz in der Nähe. Ich erging mich in meinem Garten, und dabei habe ich Euer liebliches Musizieren gehört. Ich bitte Euch, spielt doch noch ein wenig für mich!" Der junge Mann betrachtete die Erscheinung jetzt genauer. Es war ein schlankes, zartes Mädchen mit feiner, weißer Haut und langen fließenden Haaren. Aber es fiel ihm auf, dass es fast rote Augen hatte. Und dann erschrak er gewaltig: Das Mädchen stand nicht auf dem Ufer, es stand auf dem Wasser! Es konnte kein Menschenkind sein! Er wich zurück und wollte so schnell wie möglich den unheimlich gewordenen Ort verlassen. Das Mädchen aber bat ihn weiter: "Spielt doch bitte noch einmal für mich, selten habe ich solch zarte Melodien gehört." Der Ritter wehrte sich und sprach: "Ich reise im Auftrag meines Herrn, und ich habe schon viel zu lange hier gerastet, nun muss ich mich beeilen. Ich kann jetzt nicht mehr für dich spielen." Das Wesen fasste ihn sanft am Ärmel und antwortete: "So geht denn, Herr, aber wollt Ihr mir versprechen, auf Eurer Rückreise wieder hier vorbeizukommen und mich noch einmal mit Eurer Flöte zu erfreuen?" Der junge Mann versprach hastig, um was er gebeten wurde, er hätte jedes Ding versprochen, nur um von hier wegkommen zu können.

"So warte ich denn auf Euch, und Herr Ritter, enttäuscht mich nicht!"

Mit diesen Worten drehte sich das Mädchen um, und bald war es lautlos zwischen den Schleiern der Weidenbäume verschwunden. Der Samurai atmete auf und verließ eilig das einsame Ufer. Er schritt kräftig aus und hatte bald die Stadt Shimizu erreicht. Er erledigte seinen Auftrag, und bereits am nächsten Morgen konnte er den Heimweg antreten. Und er wollte das Versprechen, das er dem fremden Mädchen gegeben hatte, nicht halten. Aus diesem Grund wählte er für die Heimreise einen anderen Weg, einen, der die Seenlandschaft umgehen sollte. Mit mehreren Reisenden mietete er ein Boot, um den Mogami-Fluß eine Strecke hinab zufahren, und erst dann, wenn er die unheimliche Gegend hinter sich gebracht hatte, wollte er zu Fuß weitergehen. Er hielt das Mädchen für einen Wassergeist, wie er in den Sümpfen und Seen haust, und der sich sicherlich nicht aus seinem eigenen Gebiet heraus bis in den Fluss wagen würde. Und er war nicht allein, er hatte ein ganzes Boot voll Reisegefährten. Der Geist würde sich nicht zeigen wollen.
Das Boot machte gute Fahrt, der Schiffer strengte sich an, und unter den Reisenden herrschte heitere Stimmung. Das Wetter war klar, und da es noch früher Morgen war, lag über dem Wasser eine erfrischende Kühle. Es versprach, eine angenehme und kurzweilige Reise zu werden. Die Leute im Boot unterhielten sich, und unter all den Gesprächen merkte keiner, dass das Schifflein immer langsamer wurde. Der Schiffer gab sich gewaltig Mühe, aber endlich wollte sich das Boot überhaupt nicht mehr bewegen, es trieb ganz ruhig auf dem Wasser, immer an derselben Stelle. Das fiel den Reisegenossen denn doch auf, und einer rief: "He, Bootsmann, warum bleibt Ihr stehen! Macht, dass wir weiterkommen, wir sind eilige Leute!" Der Angeredete wischte sich den Schweiß von der Stirn und meinte sorgenvoll: "Liebe Fahrgäste, ich kann mich noch so anstrengen, unser Boot ist wie festgehalten."
"Wir müssen aber weiter, wir können doch nicht hier auf dem Wasser bleiben!"

Wieder setzte der Schiffer seine Kraft ein, das Boot aber ließ sich nicht fortbringen. Die Insassen wurden allmählich unruhig, einer schaute den anderen an, aber keiner wusste Rat. Das Fahrzeug hing bewegungslos mitten auf dem Fluss, und das Wasser schien unheimlich zu rauschen. Da sprach der Bootsführer: "Es kann sein, dass die Wassergeister einen Tribut von uns wollen. Ich bitte Euch nun, dass jeder das Beste und Kostbarste, das er bei sich hat, ins Wasser wirft. Vielleicht erlauben uns dann die Bewohner der Tiefe die Weiterfahrt." Er entledigte sich sogleich seiner schönen, gestickten Jacke und warf sie in den Fluss. Sie sank sofort. Jeder wühlte in seinem Bündel. Der Priester, der mitreiste, opferte eine wertvolle Schriftrolle, der Bauersmann einen Sack mit Bohnen, der Händler öffnete seufzend seine Geldtasche und trennte sich von einem Goldstück, ein junges Mädchen zog die Schmucknadel aus Schildpatt aus seinem Haar und ließ sie ins Wasser gleiten, und eine Sängerin ihr Shamisen. Jede Gabe sank sogleich hinunter in die dunkle Flut. Nun war die Reihe an den jungen Samurai gekommen, er zögerte kurz, dann zog er seine geliebte Flöte aus dem Gürtel hervor. Nachdenklich warf er sie in den Fluss, und sie sank nicht unter wie die anderen Tribute. Im Gegenteil, sie stellte sich sogar senkrecht auf, stand eine Weile still, dann begann sie, um das Boot Kreise zu ziehen. Entsetzt wichen die Reisegefährten von dem Ritter zurück und drückten sich bleich in einer Ecke des Bootes zusammen: Der Samurai war es, ihm wollten die Wassergeister die Weiterfahrt nicht erlauben! Der junge Mann wusste in seinem Herzen, warum er nicht ziehen durfte: Er hatte dem Wasserwesen, dem Mädchen am See, versprochen, auf der Rückreise für es auf der Flöte zu spielen, und er hatte sein Versprechen nicht halten wollen. Nun war das Mädchen gekommen, um ihn zu strafen. Seine Macht reichte bis in den Fluss hinaus, er schaute auf, ja, da drüben lag die Seenlandschaft, er konnte die alten Weidenbäume mit den zartgrünen Schleiern gut erkennen.


In der Zwischenzeit hatte sich der Schiffer vom ersten Schrecken erholt, er ermannte sich und sagte: "Herr, Ihr seht, dass die Wassergeister etwas mit Euch zu schaffen haben. Ihr werdet am besten wissen, was ihr Anliegen ist. Ich muss Euch bitten, unser Boot zu verlassen, sonst kommen wir nie ans Ufer zurück." Der Samurai nickte kurz, trat auf den Rand des Bootes und sprang ins Wasser. Die Reisegefährten schrieen auf, zuerst aus Schreck, dann aber aus Verwunderung: Der junge Mann sank nämlich nicht in die Tiefe, nein, das Wasser spielte ihm gerade bis über die Füße. Er stand auf dem Fluss. Wortlos drehte er sich um und rannte auf dem Wasser in Richtung der Sümpfe und Seen. Dort verschwand er bald zwischen den Weidenschleiern und Wassergewächsen. Und seine Flöte glitt hinter ihm her! Als er nicht mehr zu sehen war, fing das Boot auf einmal an, sich wieder zu bewegen. Der Bann hatte sich gelöst, und mit Leichtigkeit konnte der Schiffer das Fahrzeug zu seiner Bestimmung lenken.

Der junge Samurai blieb verschwunden. Seine Gefährten im Boot waren die allerletzten gewesen, die ihn gesehen hatten. Dann bekam ihn niemand mehr zu Gesicht. In den Sümpfen und Seen des Mogami-Flusses hört man seit diesem Begebnis oft wunderzarte Flötenmusik. Besonders in hellen Mondnächten im Herbst, wenn weiße Nebel über den Wassern liegen, steigen die fein gesponnenen Töne geheimnisvoll zum Nachthimmel empor.