Die fetten Jahre sind vorbei. Vielleicht.

Von Christianhanne

Es ist der erste Samstag des neuen Jahres. Stehe morgens nach dem Aufstehen im Bad und schaue in den Spiegel. Ein pausbäckiger Enddreißiger grinst mich freundlich an. Allerdings entgleitet ihm das Lächeln und wird durch einen Ausdruck des Entsetzens ersetzt, als er an sich runterschaut und ein unübersehbares Feiertagsbäuchlein entdeckt – und die Verniedlichungsform dient hier eher der Wahrung der eigenen Selbstachtung als der adäquaten Beschreibung der körperlichen Konstitution. Auch durch Baucheinziehen und ausdauerndes Luftanhalten, das eines professionellen Apnoe-Tauchers würdig wäre, weigert sich der Bauch zu verschwinden. Er will einfach nicht weggehen, sondern bleibt da. Wie phlegmatische Verwandte, die sich selbst zum Kaffeetrinken eingeladen haben.

Dicker Buddha. Unerklärlich ausgelassen.

Anscheinend hat die stark kohlehydrat- und fetthaltige und sich nicht am Hunger- sondern Lustgefühl orientierende Ernährung im Dezember und insbesondere über die Feiertage zur Bildung von ein paar Fettpölsterchen geführt. Die obligatorischen neujährlichen guten Vorsätze lassen sich somit nicht länger aufschieben. Da laut Volksmund Leid durch teilen halbiert werden kann, möchte ich die Familie in Sippenhaft nehmen.

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Frage die Kinder und die Freundin beiläufig am Frühstückstisch, während ich eine Schrippe daumendick hauchzart mit Nutella beschmiere, welche guten Vorsätze sie den für das neue Jahr gefasst hätten. Der Sohn will wissen, was ein guter Vorsatz sei. Erkläre ihm, es handele sich um etwas, das man anders beziehungsweise besser machen wolle. Ich beispielsweise hätte mir überlegt, wir könnten uns alle gesünder ernähren und weniger Süßigkeiten essen. Die Tochter ist empört. Nur weil ich im Dezember ununterbrochen Plätzchen in mich gestopft hätte, müsse sie ja wohl nicht auf Schokolade verzichten. Das sei total unfair. Objektiv gesehen liegt sie mit ihrer, wenn auch etwas emotional vorgetragenen, Argumentation nicht vollkommen falsch. Subjektiv kann und will ich ihr allerdings nicht Recht geben.

Verfolge daher einen alternativen Ansatz und schlage vor, wir könnten auch mehr Sport treiben und zum Beispiel regelmäßig gemeinsam laufen gehen. Nun wird der Sohn unwirsch. Er gehe schon total oft zum Judo und spiele im Hort immer Fußball. Ich sei der einzige Faule in der Familie. Auch seine Beobachtungsgabe zeugt von – unter anderen Umständen erfreulichem – Scharfsinn, jedoch ebenso legt er einen zu missbilligenden Mangel an Respekt gegenüber der väterlichen Autorität an den Tag.

Suche mir Unterstützung bei der Freundin und erkundige mich, was denn ihre guten Vorsätze für 2015 seien. Sie schaut mich misstrauisch an und fragt, ob ich etwa fände, sie sei zu fett. Fast 18 Jahren Partnerschaft haben mich gelehrt, dass eine solche Frage unverzüglich und ohne Millisekunde des Zögerns mit „Selbstverständlich nicht“ zu beantworten ist.

Von der undankbaren Brut und der verstimmten Freundin ist anscheinend keine Unterstützung bei meinem ehrenwerten Projekt „Die fetten Jahre sind vorbei“ zu erwarten. Versuche mich würdevoll vom Frühstückstisch zu erheben, was aufgrund meiner Schwerfälligkeit und der Notwendigkeit mich mit einer Hand auf dem Tisch abzustützen nicht ganz gelingt. Schleudere ihnen entgegen, dann ginge ich halt alleine joggen und zwar sofort.

Der Rest der Familie ist unbeeindruckt, kaut teilnahmslos seine Brötchen und macht keine Anstalten, jubelnd aufzuspringen. Das Fehlen einer pathetischen Hintergrundmusik schmälert den Effekt meines Abgangs zusätzlich.

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Suche im Kleiderschrank meine Sportklamotten. Da mein letzter Lauf schon etwas zurückliegt, gestaltet sich dieses Unterfangen als schwierig. Nachdem ich endlich alles beisammen habe, zwänge ich mich als erstes in die Jogginghose. Oder ist es doch eine Laufleggings? Zumindest legt der sehr eng anliegende Stoff an den Oberschenkeln diese Vermutung nahe.

Du weißt, du musst abnehmen, wenn du deine Lauf-Leggings anziehst und dann feststellst, dass es mal eine normale Jogginghose war.

— Familienbetrieb (@Betriebsfamilie) 2. Januar 2015

Auch das Funktionsshirt sitzt recht stramm am Oberkörper und betont Bauchansatz sowie Hüftringe eher unvorteilhaft. Assoziationen wie Presswurst oder aufgeplatztes Sofakissen sind zwar unschön, beschreiben mein Erscheinungsbild aber schonungslos akkurat. Ziehe als letztes die Laufsocken und -schuhe an. Bilde mir ein, dass letztere kurz aufwimmern, ob der Aussicht auf das zu tragende Gewicht.

Anscheinend hat das Anziehprozedere ein wenig länger gedauert. Die Freundin schaut ins Schlafzimmer und fragt, ob ich schon wieder zurück sei. Verlasse daraufhin wortlos die Wohnung.

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Gehe die ersten 50 Meter bis zur Straßenkreuzung erstmal in zügigem Tempo. Schließlich sind Körper und Kreislauf sanft an die zu erwartende erhöhte Belastung heranzuführen. An der Ampel angekommen beschließe ich, mich erstmal vorschriftsmäßig zu dehnen.

Schwinge meine linke Ferse an mein Gesäß und versuche, mit der Hand den Knöchel zu erfassen, um ihn weiter an den Hintern zu ziehen. Dies gelingt im dritten Anlauf, wobei ich in meiner Bemühung, das Gleichgewicht zu halten, ins Schwanken gerate wie ein betrunkener Matrose auf offener See. Umklammere in letzter Sekunde ein Straßenschild und verhindere so, mich auf der belebten Einkaufsstraße spektakulär auf die Nase zu legen. Die Verwendung des Begriffs ‚Elefanten-Ballett‘ zur Beschreibung meines würdelosen Auftritts täte der im Vergleich zu mir unstrittig vorhandenen Grazie der schwergewichtigen Dickhäuter Unrecht.

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Beende meine fruchtlosen Dehnversuche. Ungeachtet meines ungenügenden Fitnesszustands nehme ich mir vor, meine übliche 10-Kilometer-Runde im Schlosspark zu absolvieren. Das müsste zu schaffen sein. Schließlich habe ich schon Marathonläufe in durchaus respektablen Zeiten bestritten. Allerdings trug ich dabei keine 20-Kilogramm-Rucksäcke. Egal!

Setze mich langsam in Bewegung und vergewissere mich durch einen Blick auf den Boden, dass meine stampfenden Schritte keine Risse im Asphalt erzeugen. Erblicke in den sich spiegelnden Schaufensterscheiben einen stämmigen bärtigen Läufer, der mich anscheinend begleitet. Obwohl erst 200 Meter hinter uns liegen, wirkt er schon recht kurzatmig. Außerdem sieht er aus, als weine er. Wahrscheinlich der kräftige Wind, der uns entgegen bläst. Es wird Zeit, den schützenden Park zu erreichen.

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Komme nach gut zwei Kilometern endlich im Garten des Schloss Charlottenburg an. Immer wieder joggen drahtige Laufmaschinen in olympiareifer Geschwindigkeit an mir vorbei und grüßen dabei freundlich. Erwiderte gerne den Gruß, aber dazu müsste ich den Arm heben. Dafür fehlen mir allerdings sowohl die physische als auch die mentale Kraft. Ränge sie stattdessen am liebsten nieder, um sie mit meinem Gewicht zu Boden zu drücken und um ihnen ein paar Ohrfeigen zu verpassen. Zur Umsetzung dieses Vorhabens sind die Lauf-Cyborgs allerdings entschieden zu schnell.

Vertreibe meine Gewaltphantasien, indem ich mich auf meine Atmung konzentriere. Schnaufe nämlich inzwischen derart kräftig, als müsste ich die Wehenschmerzen einer Mehrlingsgeburt wegatmen (An dieser Stelle freue ich mich schon auf die empathischen und mitfühlenden Kommentar von Müttern ob dieses gelungenen Vergleichs).

Schließe zu einer joggenden Frau auf, deren ausladenden Hüften von kulinarischen Feiertagsexzessen zeugen. Werde mir meiner Bigotterie bewusst und möchte ihr fraternisierend vorschlagen, gemeinsam das Laufteam „Moppelige Möpse“ zu gründen. Mein unartikuliertes Grunzen erschreckt sie jedoch und sie verschärft ihr Tempo, was es mir unmöglich macht, meine Idee mit ihr zu erörtern.

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Sehe am Horizont eine Gruppe von Nordic Walkern, die sich unter charakteristischen Kratzgeräuschen ihrer Stöcke fortbewegen. Mein gegenwärtiges läuferisches Leistungsvermögen inzwischen realistischer einschätzend setze ich mir zum Ziel, sie bis zum Ausgang des Parks einzuholen.

Unter größtmöglicher Kraftanstrengung, wie sie sonst allenfalls beim ‚Ironman‘-Triathlon auf Hawaii zu beobachten ist, kämpfe ich mich Meter um Meter – eigentlich eher Zentimeter um Zentimeter – an die Walker heran. Erreiche sie nach gut fünfzehn Minuten. Stelle ernüchtert fest, dass es sich nicht um Nordic Walker handelt, sondern um ein paar Bewohner des nahe gelegenen Senioren-Stifts, die mit ihren Gehilfen einen Spaziergang zum Ententeich unternehmen.

Beschließe einfach mit den rüstigen Senioren ein wenig am Teich zu verweilen. Da mir mein Erschöpfungszustand einen Hungerast im Endstadium signalisiert, überlege ich, einer der Rentnerinnen das Entenbrot zu entreißen. Hege jedoch berechtigte Zweifel, ob ich dazu körperlich überhaupt in der Lage wäre und unterlasse dieses Unterfangen folgerichtig.

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Treffe nach einer kurzen – dreißigminütigen – Pause die Entscheidung, die 10-Kilometer-Runde für heute abzukürzen. Sechs Kilometer müssen für den Anfang genügen Es soll für die nächsten Tage und Wochen ja noch Steigerungsmöglichkeiten geben. Möchte mich wieder in Trab zu setzen, stelle aber fest, dass weder Geist noch Fleisch willig, dafür jedoch beide äußerst schwach sind. Bestreite entsprechend den größten Teil des Heimwegs im Schritttempo.

Als es noch knapp 500 Meter bis zur Wohnung sind, mobilisiere ich die letzten Kraftreserven und falle in einen Laufschritt – wenn auch im Zeitlupentempo –, um mir nicht die Blöße zu geben, als Fußgänger zuhause anzukommen. Bedaure dabei, dass dieser finale Streckenabschnitt nicht musikalisch mit „Gonna fly now“ aus Rocky I unterlegt wird.

Wahrscheinlich wäre die Diskrepanz zwischen Text und meiner Laufästhetik zu groß und das Universum könnte implodieren.

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Bemühe mich vollkommen entkräftet, die Haustür aufzuschließen. Kurz nach mir kommt einer der Studenten aus der WG im dritten Stock nach Hause und bietet an, für mich die Tür zu öffnen. Bestimmt weniger aus Hilfsbereitschaft, sondern um meinen erbarmungswürdigen und Fremdscham hervorrufenden Anblick, mit zitternder Hand erfolglos das Schlüsselloch treffen zu wollen, nicht länger ertragen zu müssen.

Besorgt erkundigt er sich, ob bei mir alles in Ordnung sei. Versichere ihm grunzend und wenig glaubwürdig, ich habe lediglich eine lockere Trainingseinheit eingelegt, um das neue Jahr zu begrüßen. Der junge Mann zieht skeptisch eine Augenbraue hoch und geleitet mich am Arm in die erste Etage, wo er mich in die Obhut der Freundin übergibt.

Beantworte ihre Frage, wie der Lauf war, indem ich Zuversicht vortäuschend einen Daum in die Höhe recke wie Lukas Podolski, wenn er eine Kamera erblickt. Taumele danach ins Schlafzimmer, wo ich erschöpft ins Bett falle.

Aber morgen, da laufe ich die zehn Kilometer durch. Oder wenigstens acht. Ganz bestimmt! Vielleicht. Wenn nichts dazwischen kommt.