Vor einigen Tagen jammerte SF2000 mir was von Martin Luther (dem Bibel-Luther) vor, welcher mit seiner blöden Reformation unsere gesamte Gesellschaft versaut hat. Dank Luther haben wir über 500 Jahre den Spruch "Ora et labora" mit der Muttermilch eingeflößt bekommen. "Arbeite und bete" heißt das übersetzt. Oder anders ausgedrückt: "zeige dich produktiv in deinem Leben und gönne dir keine Ruhepausen! Unsere Religion ist 'arbeiten zu gehen, sich anzustrengen und das auch jedem anderem vorzubeten, damit man auf sich stolz sein kann' ". Bis man dann vor Erschöpfung oder typischen Arbeitslosigkeits-Angst-Krankheiten umfallen und sterben darf. Aber Faulheit darf es in unserer Gesellschaft nicht geben!
Meine 8 Thesen dazu
Ich zähl jetzt mal auf, was das für die heutige Zeit für Folgen hat:
- Menschen müssen in Beschäftigung sein, damit sie sich als würdige Menschen fühlen können
- Menschen, die zuwenig arbeiten wollen (immer aus dem Standpunkt anderer gesehen), werden als Faulenzer und Schmarotzer gesehen, die unser tolles Sozialsystem untergraben
- das Sozialsystem der unbedingten Leistung wird nicht infrage gestellt
- Kriterien für "menschenwürdige Arbeit und menschenwürdige Existenz" werden in unserer heutigen Zeit immer weiter heruntergeschraubt ("wir leben über unseren Verhältnissen"). Hauptsache ist: man liegt dem Sozialsystem nicht auf der Tasche
- Menschen haben immer weniger Zeit und Möglichkeiten sich zu überlegen, welche Tätigkeiten sie eigentlich als "sinnvoll" betrachten. Sie müssen schlichtweg Geld verdienen, um überleben zu können und müssen dabei auch viele aus ihren Augen unsinnvolle Jobs machen
- "Leistungsgerechtigkeit" ist ein Euphemismus, wohinter sich verbirgt: Wer es schafft, das Spiel am besten zu spielen, kann die anderen schlagen!
Man kann mir jetzt nicht erzählen, dass der Chefarzt bloß aufgrund seiner besseren Erziehung und Ausbildung zwangsläufig dreimal mehr Leistung erbringt (und deshalb mehr Einkommen einbringt) als die Krankenschwester, die durch ihren Einsatz mindestens genauso einen Anteil daran hat, dass der Patient das Krankenhaus lebendig wieder verlässt! - Und schließlich arbeiten wir und denken "Ruhen kann ich, wenn ich tot bin". Das möchte ich nicht. Und möchte auch nicht Menschen um mich drumherum haben, die mich schief ankucken, wenn ich sage: "Will ich nicht, passt mir nicht, ist mir meine Lebenszeit einfach nicht wert".
Wieso wollen wir überhaupt in einer Gesellschaft leben, die durch ihr Einkommenssystem uns faktisch in Selbstverantwortungs-Ketten legt, wenn man nicht auch einfach die gleiche Arbeit auf mehr Köpfe verteilt. Und Teams sind in der Regel auch viel produktiver und professioneller, als es eine überarbeitete Person allein überhaupt sein kann. Hinzukommt, dass Stress enorme Gesundheitskosten verursacht. Die Burnouts, die Depressiven, die Herzinfarkte, die Rückenschäden und übergewichtigen Untrainierten werden in unserer Zeit doch nicht etwa weniger?
Also deshalb nochmal zurück zum im vorherigen Artikel beschriebenen Beispiel mit der Physiotherapeutin, die sich nicht menschenwürdig fühlt, wenn sie weniger verdient als eine ALDI-Käuferin und sich deshalb selbständig machen muss will. Da würde ich mich doch fragen: Wieso möchte ich meine eigene Praxis aufmachen, wenn ich doch lieber mit drei anderen Physiotherapeuten mir eine teilen kann und dann lieber in der Praxis eine Verwaltungsstelle schaffe, die mich von unternehmensorganisatorischen Aufgaben entlastet? Ist weniger verdienen und mehr Freizeit zu haben denn unbedingt eine Belastung oder eine Sünde?
Die FDP ist nämlich so mittelalterlich wie Luther: Selbstkasteiung ist geil!
Woher kommt eigentlich dieser Wille zum Selberauspeitschen durch mehr Leistung im Beruf? Warum spielen wir alle dieses "SadoMaso-Spiel" von "ich bin rechtschaffend und fleißig, du aber hoffentlich auch, und ich aber noch viel mehr!".
SF2000 hatte es bereits gesagt: Der Luther ist an allem schuld. Der gute Martin Luther nämlich, der hat gewollt, dass wir alle schon auf der Erde selig werden, damit wir in den Himmel kommen. Der hat nämlich damals Zustände vorgefunden, wo hurende, saufende Katholiken auf ein frommes, gotteswürdiges Leben geschissen haben, weil sie eh durch die Beichte und die letzten Sakremente gerettet werden. (So ein dummer Systemfehler in der gottgewollten Ordnung aber auch!) Martin Luther wollte diesen Misständen ein Ende bereiten und den Menschen stattdessen Anstand und sowas wie Respekt voreinander einprügeln, damit es wenigstens überhaupt sowas wie Verantwortungsbewusstsein, Menschenachtung und gesellschaftlichen Fortschritt geben konnte!
Leider haben sich diese Werte in der heutigen Überflussgesellschaft in gewisser Weise überholt. Selig werden nur noch wenige und die anderen sollen die Schnauze halten und ja nicht die Systemfrage stellen, damit die Priester der Religion weitermachen können wie bisher. Aber schuften tun ja angeblich alle und gerecht werden nur die Fleißigen! (Siehe Beispiel Chefarzt und Krankenschwester. Nehmen Sie aber auch gerne Heuschreckenbanker und Konzernmanager!) In diesem Sinne ist der von der FDP propagierte Leitsatz "Leistung durch Freiheit durch Selbstknechtung" mittlerweile "Old School", wenn nicht sogar überaus konservativ und auf die heutige Zeit betrachtet "total veraltet".
Das, was "Leistungsdenken" heute ist, können Sie mit "Fortschritt" überhaupt nicht mehr gleichsetzen. (Und Tatsache ist: die FDP propagiert diesen Zusammenhang auch gar nicht mehr. Lauschen Sie mal ganz genau hin!) Menschlicher Fortschritt ist nämlich heute nicht mehr Bestandteil der FDP-Leitsätze. Für ein "besseres Leben für alle" einzutreten hat die Partei beim Übergang in den Dienstleistungskapitalismus wohl überhaupt nicht mehr daran gedacht.
Wahrscheinlich zuviel Schampus gesoffen.