Die Fahrkarten bitte!

Von Robertodelapuente @adsinistram
Eine historische Chance für die Demokratie, aber die letzte Chance für die Sozialdemokratie.
Der Vorschlag von Die Linke, das Regierungsvakuum zu nutzen, das "linke" Übergewicht in die Waagschale zu werfen, um der Union einen flächendeckenden Mindestlohn abzuluchsen, ist die letzte Chance, die die Sozialdemokratie bei Menschen aus dem Prekariat hat. Bügelt sie dieses Vorhaben ab, dann dürften 25,7 Prozent bei einer Bundestagswahl künftig unerreichbar bleiben. Ob davon eine andere Linkspartei profitieren könnte, bleibt eher abzuwarten. Wofür auch? Der Kanzlerin wird doch nun eine linke Überholspur angedichtet.

Der Mindestlohn könnte kommen. Schnell kommen sogar. Es liegt nur an der Sozialdemokratie und an den Grünen. Wahlen verlieren und Wahlversprechen trotzdem verwirklichen: Das ist eine historische Chance. Wenn die an der Eitelkeit der Sozialdemokratie scheitert, dann hat sich die Partei überlebt, dann geht es in den kommenden Jahrzehnten nur noch um ihre Abwicklung. Wer historische Stunden verstreichen läßt, der ist bald selbst Teil der Historie.
Ich möchte nicht schreiben müssen, dass eine Unterlassung jetzt schlimmer wäre als die Agenda 2010. Das wäre übertrieben. Zu sehr schmerzen die Folgen dieses Machwerks. Bei Arbeitslosen, bei Geringverdienern, Rentnern und Kommunen. Aber aus parteipolitischer Sicht wäre es wohl so. Die Agenda 2010 hat sie mehr schlecht als recht überlebt. Aber eben überlebt. Wenn sie jetzt das Herzstück dieses blutleeren Wahlkampfes auch nich verwirft, bloß weil sie beleidigte Leberwurst sein will, dann versetzt sie sich ins Koma. Ein Ja zum gemeinsam beschlossenen Mindestlohn ist zwar nicht gleich eine Neubelebung des sozialdemokratischen Gedankens, aber vielleicht ein Einstieg.
Die Tage, die wir erleben, gleichen einer kleinen Zäsur. Wer hätte das gedacht! Erst fliegt die FDP aus dem Bundestag und allen Wolken. Aus ihrem Wolkenkuckucksheim leider noch nicht. Dann will keiner so wirklich mit einer Kanzlerin regieren, die fast die absolute Mehrheit besitzt. Hier zeigt sich, wie isoliert diese Frau ist. Man erkennt, dass diese wahrscheinliche Kanzlerschaft stärker denn je eine Medienkanzlerschaft ist, ein hochgeschriebenes Produkt ohne politischen Inhalt. Und nun werden sogar Minderheitsregierungen empfohlen. Und das in Deutschland! Im Land von Vollkasko und Sicherheitsbedürfnis. Was ist denn der Deutsche ohne seine stabile Regierung und seiner Gewissheit, dass auch morgen sein Regierungschef eine sichere Mehrheit hinter sich hat? Und in dieser vielleicht nur kurzen Phase schickt sich die potenzielle Opposition (die keine Koalition sein will) an, eigene Vorschläge durchzudrücken.
Revolutionär ist das natürlich nicht. Jedenfalls nicht klassisch. Aber es ist ein wenig so, wie sich Lenin Revolution in Deutschland vorgestellt haben soll. Wenn die Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, sagte er, dann kauften sie sich erst noch eine Fahrkarte. Dieses Ticket fällt nicht in den Tarifraum, in dem die Barrikaden gegen den konservativ-neoliberalen Zugriff auf die Gesellschaft aufgestellt sind. Aber ein Lebenszeichen ist dieses Vorhaben allemal, ein guter Ansatz, den Parlamentarismus doch noch als nicht völlig postdemokratisiert abzustempeln. Wenn sich die drei Mindestlohn-Parteien dazu entschließen, dann könnte man sagen: Da schau her, es geht ja doch was! Opposition wäre so nicht einfach nur als Scheißzeit zwischen den Regierungsjahren gekennzeichnet, sondern als wesentlicher Bestandteil der Politik. Nicht nur als Korrektiv (obwohl das auch sehr wichtig ist), sondern auch als Gestaltungskraft.
Der Mindestlohn ist keine vage Forderung. Er ist zum Greifen nahe. So nahe, dass die Kommentatoren der Tageszeitungen schon den Untergang der Wettbewerbsfähigkeit (für viele nur ein anderes Wort für Ausbeutung) prognostizieren. Dietrich Creutzburg von der Frankfurter Allgemeinen schafft es sogar, einen Kommentar zu schreiben, in dem er andeutet, dass der Mindestlohn nichts bringen werde, ohne auch nur ein Argument oder eine Erklärung anzubringen. Quintessenz seiner Zeilen: Soll er nur kommen, der Mindestlohn. Die werden schon sehen, was sie davon haben. Hähähä. Sein hämisches Händereiben vermag ich leider lautmalerisch nicht anzudeuten, ich kann nur feststellen, dass es zwischen den Zeilen seiner Botschaft stattfindet.
Sollte die Sozialdemokratie und die Grünen im Schlepptau wieder mal Nein sagen, weil sie sich von Die Linke nicht kommandieren lassen wollen, dann reiben sich neben Creutzburg auch ganz andere die Hände. Das gilt es zu vermeiden. Wird es nicht vermieden, dann hat die SPD ihre letzte Chance verspielt.
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