Ich habe in der letzten Zeit viel über eine Entwicklung in der Debatte nachgedacht, die mich lange verwirrt hat. Warum ändert sich der Diskurs in der Gesellschaft bei bestimmten Themen so rapide? Wir haben das von rechts in der Flüchtlingskrise gesehen, wo sich über diese Frage zahllose Menschen vor allem im traditionell bürgerlichen Spektrum selbst radikalisiert haben. Wir sehen es in den letzten beiden Jahren am Beispiel der Klimakrise vor allem im progressiven Spektrum, wo sich die gesamte Vorstellung der Priorität des Themas und des akzeptablen Rahmens der Lösungsmöglichkeiten deutlich verschoben hat. Ich glaube, dass das viel mit der Wahrnehmung von Krisen zu tun hat.
Was meine ich damit? Für mich ist die Flüchtlingskrise ein minderes Problem. Ja, es kostet Geld. Ja, da entstehen vermutlich einige neue soziale Probleme; Brennpunktschulen, Gehttoisierung, und so weiter. Ja, einige von denen integrieren sich vermutlich nicht richtig. Ja, in einigen Jahren haben wir wahrscheinlich mehr syrische Restaurants als bisher. Und so weiter. Aber nichts davon ist etwas, das nicht zu managen wäre. Der Staat wird das leidlich durchverwalten, die Wirtschaft einen Gutteil der Leute aufnehmen (im Niedriglohnsektor überwiegend) und wenn die nächste Einwanderungswelle kommt, werden alle sagen wie gut die Syrer um Vergleich zu wer auch immer dann kommt integriert sind. In Kürze: No Big Deal.
Aber es gibt genug Leute, die das anders sehen. Für sie gefährden die Flüchtlinge etwas Fundamentales in Deutschland, ist die Flüchtlingskrise DER bestimmende Faktor der letzten Jahre. Für sie ist alles vernetzt. Ob wir über Jugendgewalt reden, Kriminalität generell, den Sozialstaat, die Kosten desselben, die EU-Politik, alles hat direkt und meist prominent mit der Flüchtlingskrise zu tun. Über allem schwebt die Vorstellung, dass hier eine langfristige Katastrophe angelegt ist, die uns auf mindestens ein, wenn nicht mehrere Jahrzehnte plagen wird und gegen die sofort und mit scharfen Maßnahmen reagiert werden muss. It's a Big Deal.
Und ich tue mich schwer, die zweite Sicht nachzuvollziehen. Ich verstehe sie auf einem intellektuellen Level, insofern als dass ich die Argumente durchdringe und verstehe, aber ich kann nicht nachvollziehen, wie jemand diese Argumente fühlt und halte die entsprechenden Leute für von der Realität entkoppelt. Nur, das ist in etwa das, wie (häufig die gleichen) Leute auf die Klimakrise blicken.
Und ich glaube, der Schlüssel zum Verständnis dieser divergierenden Sichtweisen liegt darin, wie wir Krisen wahrnehmen. Ich nenne es die existenzielle Krise. "Normale" Krisen gibt es dauernd. Irgendwo liegt immer etwas im Argen, gibt es irgendwo eine unvorhergesehene Entwicklung, gilt es, eine Verschlechterung des Status quo abzuwenden. Eine existenzielle Krise aber ist selten. Wie der Name bereits sagt, betrifft sie sämtliche Lebensbereiche. Ich will damit nicht zwingend ausdrücken, dass sie unsere Existenz als Menschen oder Bürger physisch bedroht (obwohl ich das bei der Klimakrise langfrisitg so sehe), sondern dass sie die aktuelle Existenz tiefgreifend zu verändern in der Lage ist: unseren Lebensstil, unser Selbstverständnis, unsere Gesellschaft.
Warum ist das wichtig?
Meinungsverschiedenheiten spielen bei den meisten Themen keine große Rolle für den Diskurs als Ganzes. Wir können problemlos darüber diskutieren, ob die Grundrente dazu angetan ist, das dräuende Problem der Altersarmut zu lindern oder zu verschlimmern. Niemand begreift Altersarmut in Deutschland aktuell als ein existenzielles Problem. (An dieser Stelle noch einmal der Hinweis: die Höhe der Rente ist natürlich für diverse Rentner ein Problem, das ihre Existenz unmittelbar betrifft, aber die Debatte wird selbst von ihnen nicht als existenziell geführt.) Gleiches gilt für die Maut auf deutschen Autobahnen. Man kann hitzig darüber sprechen, aber existenziell ist es nicht mal für Abonnenten des ADAC-Magazins.
Oder wenden wir den Blick in die USA. Ob Medicare-For-All oder Reformen von Obamacare ist mir grundsätzlich nicht übermäßig wichtig; kein existenzielles Problem. Ich kann hier Kompromisse akzeptieren, und ein grundsätzliches Scheitern und Fortbestehen des Status Quo würde mich zwar sehr verärgern, aber nicht meine Grundfesten erschüttern.
Ich halte die Wahrnehmung einer existenziellen Krise für meine eigene politische Meinungsbildung in den letzten zwei Jahren für entscheidend, denn sie löst das für mich im Einstieg aufgestellte Rätsel. Warum ist meine Position unnachgiebiger geworden als früher? Um 2017 herum fiel es mir deutlich leichter als heute, neutrale Analyseartikel zu Themen zu schreiben, bei denen ich eine abweichende Meinung hatte, ob es sich um die Klimapolitik, Koalitionsfragen in den Ländern oder die republikanische Partei in den USA handelt. Das liegt nicht daran, dass sich meine Positionen wesentlich verändert hätten; ich glaubte damals im Großen und Ganzen an die Richtigkeit derselben Thesen wie heute.
Was sich geändert hat ist das Gefühl, dass wir uns in einer existenziellen Krise befinden, und ich bemerke immer mehr, wie dieses Gefühl mehr und mehr zu einem Unwillen führt, prophylaktische Kompromisse einzugehen. Dass Clinton etwa als eher zentristische Präsidentin agiert hätte, behinderte meine Unterstützung für ihre Kandidatur trotz des größeren Überlapps an policy-Forderungen mit ihrem Konkurrenten Sanders anno 2016 nicht, weil ich andere Faktoren als relevanter sah - Wählbarkeit, grundsätzliche Fähigkeit zum Regieren, coalition building, Politik des Möglichen, etc. - meine diesbezüglichen Artikel finden sich alle im Archiv.
In Bezug auf Deutschland gilt das nicht so sehr. Ich war einer der wenigen, die 2017 für eine Fortführung der Großen Koalition eintraten. Die grundsätzlichen Überlegungen hierzu haben sich auch wenig geändert, wenngleich es heute wohl der Wunsch nach einer grün-schwarzen Koalition wäre. Ich empfinde die Republicans in einer Weise als existenziell bedrohlich, die für die CDU oder FDP nicht gilt - auch wenn mich mit diesen Parteien inhaltlich wenig verbindet.
Die andere Möglichkeit ist, dass eine spiegelbildliche Polarisierung auf der anderen Seite stattfindet. Das ist etwas, das wir bedauerlicherweise gerade im Umfeld der Klimakrise ablaufen sehen. Während in einem Teil der Gesellschaft das Bewusstsein dafür, wie dringlich entscheidende Schritte angeraten sind, immer weiter wächst, entsteht eine (bislang glücklicherweise deutlich kleinere Gruppe), die sich in die andere Richtung radikalisiert und entweder abstreitet, dass überhaupt irgendwelcher Handlungsbedarf besteht oder gar dass der Klimawandel überhaupt existiert.
Welchen Weg eine Gesellschaft einschlägt, ist dabei nicht vorhersehbar. Ich hätte selbst vor zwei Jahren auch nicht angenommen, dass für mich der Klimawandel zum Topthema werden und ich meinen Lebensstil grundlegend in Frage stellen und ändern würde.
Und andererseits kann der krisenhafte Handlungsdruck ja auch bestehen! Wenn eine existenzielle Krise vorhanden ist, sind Taten dringend geboten und sind Kompromisse in Richtung Nichtstun höchst bedrohlich (anders als Kompromisse darüber, WIE gehandelt werden muss; das gilt es zu trennen). Wir sind uns nur aktuell nicht einig, ob und wo diese Krisen bestehen.
Wichtig ist, denke ich, dass wir uns in diesem Prozess so viel Offenheit wie möglich bewahren. Einerseits muss weiterhin die Möglichkeit offen gehalten werden, dass man selbst falsch liegt. Andererseits muss man sich im Klaren darüber sein, wann eigentlich sich der gesellschaftliche Diskurs entsprechend gedreht hat; es führt in den Untergang der Polarisierung, wenn man in einem permanenten Krisenmodus ist. Das sehen wir ja etwa an den Republicans in den USA. Ich hoffe, dass dieses Blog dazu auch einen Beitrag leisten kann.
Das erste Feld habe ich bereits mehrfach im Artikel erwähnt; hier handelt es sich um die Klimakrise. Meine große Angst ist, dass wir gerade das letzte Zeitfenster vergeuden, das uns bleibt, um dieser Gefahr halbwegs Herr zu werden und dass in zehn, zwanzig, dreißig Jahren die Welt, wie wir sie kennen, und die Gesellschaftsordnung, in der wir leben, nicht mehr wiederzuerkennen sein wird - und nicht im Guten.
Das zweite Feld ist die Gefahr von rechts. Ich bin inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass wir in zehn Jahren nicht mehr in einer rechtsstaatlichen Demokratie leben, von "praktisch null" auf "existent" geschwungen ist. Und diese Gefahr kommt ausschließlich von rechts. Es macht mich wahnsinnig zu sehen, wie das wegrelativiert, wegdiskutiert und geleugnet wird. Vielleicht habe ich tatsächlich Unrecht. Aber Fakt ist auch, dass diejenigen, die es relativieren, wegdiskutieren und leugnen auch wenig davor zu befürchten haben.
In beiden Fällen glaube ich, dass ich Recht habe. In beiden Fällen hoffe ich, dass ich nicht Recht habe.
Was meine ich damit? Für mich ist die Flüchtlingskrise ein minderes Problem. Ja, es kostet Geld. Ja, da entstehen vermutlich einige neue soziale Probleme; Brennpunktschulen, Gehttoisierung, und so weiter. Ja, einige von denen integrieren sich vermutlich nicht richtig. Ja, in einigen Jahren haben wir wahrscheinlich mehr syrische Restaurants als bisher. Und so weiter. Aber nichts davon ist etwas, das nicht zu managen wäre. Der Staat wird das leidlich durchverwalten, die Wirtschaft einen Gutteil der Leute aufnehmen (im Niedriglohnsektor überwiegend) und wenn die nächste Einwanderungswelle kommt, werden alle sagen wie gut die Syrer um Vergleich zu wer auch immer dann kommt integriert sind. In Kürze: No Big Deal.
Aber es gibt genug Leute, die das anders sehen. Für sie gefährden die Flüchtlinge etwas Fundamentales in Deutschland, ist die Flüchtlingskrise DER bestimmende Faktor der letzten Jahre. Für sie ist alles vernetzt. Ob wir über Jugendgewalt reden, Kriminalität generell, den Sozialstaat, die Kosten desselben, die EU-Politik, alles hat direkt und meist prominent mit der Flüchtlingskrise zu tun. Über allem schwebt die Vorstellung, dass hier eine langfristige Katastrophe angelegt ist, die uns auf mindestens ein, wenn nicht mehrere Jahrzehnte plagen wird und gegen die sofort und mit scharfen Maßnahmen reagiert werden muss. It's a Big Deal.
Und ich tue mich schwer, die zweite Sicht nachzuvollziehen. Ich verstehe sie auf einem intellektuellen Level, insofern als dass ich die Argumente durchdringe und verstehe, aber ich kann nicht nachvollziehen, wie jemand diese Argumente fühlt und halte die entsprechenden Leute für von der Realität entkoppelt. Nur, das ist in etwa das, wie (häufig die gleichen) Leute auf die Klimakrise blicken.
Was ist da los?
Für mich handelt es sich um DAS Problem unserer Zeit, das, wenn nicht mit scharfen Maßnahmen angegangen, zu katastrophalen Folgen führen wird. Für andere handelt es sich um EIN Problem, drängend gewiss, aber nichts, was die Politik nicht wegverwalten und die Wirtschaft nicht durch das, was sie eben tut, zu lösen helfen würde. Sicherlich nichts jedenfalls, für das es sich lohnen würde, die bestehende Gesellschaft in Frage zu stellen.Und ich glaube, der Schlüssel zum Verständnis dieser divergierenden Sichtweisen liegt darin, wie wir Krisen wahrnehmen. Ich nenne es die existenzielle Krise. "Normale" Krisen gibt es dauernd. Irgendwo liegt immer etwas im Argen, gibt es irgendwo eine unvorhergesehene Entwicklung, gilt es, eine Verschlechterung des Status quo abzuwenden. Eine existenzielle Krise aber ist selten. Wie der Name bereits sagt, betrifft sie sämtliche Lebensbereiche. Ich will damit nicht zwingend ausdrücken, dass sie unsere Existenz als Menschen oder Bürger physisch bedroht (obwohl ich das bei der Klimakrise langfrisitg so sehe), sondern dass sie die aktuelle Existenz tiefgreifend zu verändern in der Lage ist: unseren Lebensstil, unser Selbstverständnis, unsere Gesellschaft.
Warum ist das wichtig?
Meinungsverschiedenheiten spielen bei den meisten Themen keine große Rolle für den Diskurs als Ganzes. Wir können problemlos darüber diskutieren, ob die Grundrente dazu angetan ist, das dräuende Problem der Altersarmut zu lindern oder zu verschlimmern. Niemand begreift Altersarmut in Deutschland aktuell als ein existenzielles Problem. (An dieser Stelle noch einmal der Hinweis: die Höhe der Rente ist natürlich für diverse Rentner ein Problem, das ihre Existenz unmittelbar betrifft, aber die Debatte wird selbst von ihnen nicht als existenziell geführt.) Gleiches gilt für die Maut auf deutschen Autobahnen. Man kann hitzig darüber sprechen, aber existenziell ist es nicht mal für Abonnenten des ADAC-Magazins.
Oder wenden wir den Blick in die USA. Ob Medicare-For-All oder Reformen von Obamacare ist mir grundsätzlich nicht übermäßig wichtig; kein existenzielles Problem. Ich kann hier Kompromisse akzeptieren, und ein grundsätzliches Scheitern und Fortbestehen des Status Quo würde mich zwar sehr verärgern, aber nicht meine Grundfesten erschüttern.
Eine Frage der Wahrnehmung
Nicht immer existiert überhaupt eine existenzielle Krise. Wir kennen lange Phasen unserer Geschichte, in der es keine gab. Praktisch die gesamte Regierungszeit Merkels bis 2005 war eine solche Zeit. Und wie uns das Beispiel zeigt, kann eine solche Krisenwahrnehmung auch sehr einseitig sein und nur von kleinen gesellschaftlichen Gruppen als solche wahrgenommen werden oder aber nur von einer Hälfte der Gesellschaft. In diesem Fall entsteht eine asymmetrische Krisenwahrnehmung. Das dürfte der häufigere Fall sein. Natürlich gibt es auch existenzielle Krisen, die einer überwältigenden Mehrheit als solche empfunden werden - man denke nur an den RAF-Terror im Deutschen Herbst 1977, in dem lagerübergreifend Einigkeit über die Ausnahmesituation bestand, in der man sich befand.Ich halte die Wahrnehmung einer existenziellen Krise für meine eigene politische Meinungsbildung in den letzten zwei Jahren für entscheidend, denn sie löst das für mich im Einstieg aufgestellte Rätsel. Warum ist meine Position unnachgiebiger geworden als früher? Um 2017 herum fiel es mir deutlich leichter als heute, neutrale Analyseartikel zu Themen zu schreiben, bei denen ich eine abweichende Meinung hatte, ob es sich um die Klimapolitik, Koalitionsfragen in den Ländern oder die republikanische Partei in den USA handelt. Das liegt nicht daran, dass sich meine Positionen wesentlich verändert hätten; ich glaubte damals im Großen und Ganzen an die Richtigkeit derselben Thesen wie heute.
Was sich geändert hat ist das Gefühl, dass wir uns in einer existenziellen Krise befinden, und ich bemerke immer mehr, wie dieses Gefühl mehr und mehr zu einem Unwillen führt, prophylaktische Kompromisse einzugehen. Dass Clinton etwa als eher zentristische Präsidentin agiert hätte, behinderte meine Unterstützung für ihre Kandidatur trotz des größeren Überlapps an policy-Forderungen mit ihrem Konkurrenten Sanders anno 2016 nicht, weil ich andere Faktoren als relevanter sah - Wählbarkeit, grundsätzliche Fähigkeit zum Regieren, coalition building, Politik des Möglichen, etc. - meine diesbezüglichen Artikel finden sich alle im Archiv.
In Bezug auf Deutschland gilt das nicht so sehr. Ich war einer der wenigen, die 2017 für eine Fortführung der Großen Koalition eintraten. Die grundsätzlichen Überlegungen hierzu haben sich auch wenig geändert, wenngleich es heute wohl der Wunsch nach einer grün-schwarzen Koalition wäre. Ich empfinde die Republicans in einer Weise als existenziell bedrohlich, die für die CDU oder FDP nicht gilt - auch wenn mich mit diesen Parteien inhaltlich wenig verbindet.
Polarisierung
Mit dieser Wahrnehmungsverschiebung, das zeigen ja auch die Kommentare hier im Blog, bin ich sicherlich nicht alleine. Die größte Gefahr dieser Entwicklung ist dabei die Polarisierung nach den Extremen. Wenn nämlich eine Seite eine existenzielle Krise wahrnimmt, gibt es dafür zwei Perspektiven. Erstens kann die andere Seite nachgeben und den entsprechenden Forderungen wenigstens teilweise nachgeben; auf diese Weise verschiebt sich der Rahmen der Politik deutlich. Das ist etwa im Fall der Flüchtlingskrise geschehen; praktisch niemand läuft heute noch mit "Refugees Welcome" herum, die Debatte hat sich hauptsächlich darauf veschoben, wie man damit umgeht. (Nicht, dass es etwas daran geändert hätte, dass es weiterhin von einer Gruppe als existenzielle Krise betrachtet wird, aber das Thema wurde weitgehend eingehegt.)Die andere Möglichkeit ist, dass eine spiegelbildliche Polarisierung auf der anderen Seite stattfindet. Das ist etwas, das wir bedauerlicherweise gerade im Umfeld der Klimakrise ablaufen sehen. Während in einem Teil der Gesellschaft das Bewusstsein dafür, wie dringlich entscheidende Schritte angeraten sind, immer weiter wächst, entsteht eine (bislang glücklicherweise deutlich kleinere Gruppe), die sich in die andere Richtung radikalisiert und entweder abstreitet, dass überhaupt irgendwelcher Handlungsbedarf besteht oder gar dass der Klimawandel überhaupt existiert.
Welchen Weg eine Gesellschaft einschlägt, ist dabei nicht vorhersehbar. Ich hätte selbst vor zwei Jahren auch nicht angenommen, dass für mich der Klimawandel zum Topthema werden und ich meinen Lebensstil grundlegend in Frage stellen und ändern würde.
Krisenwahrnehmungen ernst nehmen
Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass es sich hierbei um eine Art Knacks, eine Wahrnehmungsstörung handeln würde. Das ist dezidiert nicht der Fall. Was man als existenzielle Krise betrachtet oder nicht ist ja erst einmal eine Entscheidung des Individuums; von dieser Sichtweise dann genügend Menschen zu überzeugen, um Handlungsdruck im politischen System zu erschaffen, ist legitimer Teil des politischen Prozesses. Gerade dafür ist die pluralistische Demokratie ja da.Und andererseits kann der krisenhafte Handlungsdruck ja auch bestehen! Wenn eine existenzielle Krise vorhanden ist, sind Taten dringend geboten und sind Kompromisse in Richtung Nichtstun höchst bedrohlich (anders als Kompromisse darüber, WIE gehandelt werden muss; das gilt es zu trennen). Wir sind uns nur aktuell nicht einig, ob und wo diese Krisen bestehen.
Wichtig ist, denke ich, dass wir uns in diesem Prozess so viel Offenheit wie möglich bewahren. Einerseits muss weiterhin die Möglichkeit offen gehalten werden, dass man selbst falsch liegt. Andererseits muss man sich im Klaren darüber sein, wann eigentlich sich der gesellschaftliche Diskurs entsprechend gedreht hat; es führt in den Untergang der Polarisierung, wenn man in einem permanenten Krisenmodus ist. Das sehen wir ja etwa an den Republicans in den USA. Ich hoffe, dass dieses Blog dazu auch einen Beitrag leisten kann.
Ein Ausblick
Ich möchte zum Abschluss noch kurz skizzieren, welche Krisenwahrnehmung ich mittlerweile habe. Ich sehe eine existenzielle Krise gerade auf zwei Gebieten, und auf beiden Gebieten hat sich diese Wahrnehmung für mich erst im letzten Jahr ergeben.Das erste Feld habe ich bereits mehrfach im Artikel erwähnt; hier handelt es sich um die Klimakrise. Meine große Angst ist, dass wir gerade das letzte Zeitfenster vergeuden, das uns bleibt, um dieser Gefahr halbwegs Herr zu werden und dass in zehn, zwanzig, dreißig Jahren die Welt, wie wir sie kennen, und die Gesellschaftsordnung, in der wir leben, nicht mehr wiederzuerkennen sein wird - und nicht im Guten.
Das zweite Feld ist die Gefahr von rechts. Ich bin inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass wir in zehn Jahren nicht mehr in einer rechtsstaatlichen Demokratie leben, von "praktisch null" auf "existent" geschwungen ist. Und diese Gefahr kommt ausschließlich von rechts. Es macht mich wahnsinnig zu sehen, wie das wegrelativiert, wegdiskutiert und geleugnet wird. Vielleicht habe ich tatsächlich Unrecht. Aber Fakt ist auch, dass diejenigen, die es relativieren, wegdiskutieren und leugnen auch wenig davor zu befürchten haben.
In beiden Fällen glaube ich, dass ich Recht habe. In beiden Fällen hoffe ich, dass ich nicht Recht habe.