Die Evangelien, Jesus und der jüdische Freiheitskampf

Von Nicsbloghaus @_nbh

WEIMAR. (fgw) Unter Historikern ist es inzwi­schen über­wie­gende Meinung, dass die Evangelien mehr oder aus­schließ­lich Glaubensbezeugungen und keine his­to­ri­sche Berichte sind. Viele Ungereimtheiten, Irrtümer und Widersprüche sind nur dadurch zu erklä­ren, dass die Verfasser der Evangelien diese erst nach dem Jahr 70 und der end­gül­ti­gen Eroberung Israels und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels geschrie­ben haben und mit den jüdi­schen Gebräuchen und der Situation in Jerusalem nicht ver­traut waren. Die Evangelien ent­stan­den mit aller­größ­ter Wahrscheinlichkeit auch außer­halb von Judäa. Kein Evangelienschreiber war Augenzeuge oder Apostel oder hat Jesus auch nur per­sön­lich gekannt.

von Roland Weber

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Der Londoner Reform-Rabbi und Altertumsgelehrte Hyam Maccoby unter­sucht aus jüdi­scher Sicht das in den Evangelien wie­der­ge­ge­bene Geschehen. Nach dem Vorwort des Herausgebers erschließt er dabei den his­to­ri­schen Kern wie kein ande­rer. Ebenso über­zeu­gend gelingt ihm die Vorführung des haar­sträu­bend ver­lo­ge­nen Charakters der Evangelien; ihr durch skru­pel­lose Tatsachenverdrehung erziel­tes Wesen als anti­jü­di­sche – heute hieße es: anti­se­mi­ti­sche – Tendenzschriften, das nahezu jeden ihrer Sätze durch­zieht. Auch die­ser Zug ist aus der his­to­ri­schen Situation ableit­bar. (S.XII).

Zu Beginn setzt sich Maccoby mit Erzählung über die Volksbefragung zur Freilassung eines Gefangenen durch Pilatus aus­ein­an­der. Wie andere auch kommt er zu den Ergebnis, dass Pontius Pilatus alles andere als ein schwan­ken­der Charakter, son­dern viel­mehr ein bru­ta­ler Unterdrücker war. Sein Charakter wird in den Evangelien ver­fäl­schend dar­ge­stellt und ein „Recht” des Volkes zum Passahfest die Freilassung eines Gefangenen zu ver­lan­gen, exis­tiert weder nach jüdi­schem noch nach römi­schem Recht. Wie auch? Welcher Staatsgewalt würde es auch ein­fal­len, aus­ge­rech­net Aufrührer und Staatsfeinde nach einer Volksbefragung wie­der frei zu las­sen? Wenn es diese Szene aber so nie gege­ben hat, dann ist auch die christ­lich gepflegte Tradition und Feindschaft zu „den Juden” als „Christusmörder” eine mehr als unheil­volle Geschichtsklitterung.

Maccoby unter­sucht genau diese his­to­ri­sche Situation und stellt so in der Folge den christ­lich mys­ti­fi­zier­ten Jesus auf seine jüdi­schen Beine. Rom hatte Judäa besetzt und es kam immer wie­der zu Spannungen zwi­schen Juden und der Besatzungsmacht. Doch davon fin­det sich nichts in den Evangelien. Es ist, als würde jemand über Frankreich in den Jahren 1940-1945 schrei­ben, ohne zu erwäh­nen, dass es von Nazideutschland besetzt war. (S.8) Es wird klar, dass den Evangelienschreibern (wer dies war, weiß man übri­gens auch nicht, des­halb spricht man nur von einem Evangelium nach Markus, Matthäus etc) sehr daran gele­gen war, die his­to­ri­schen Spannungen zu ver­schlei­ern. Von gro­ßer Bedeutung war, dass die Juden jahr­hun­der­te­lang von ande­ren Völker beherrscht und dadurch in ihrem nationalen-religiösen Empfindungen als „aus­er­wähl­tes Volk Gottes” sich gede­mü­tigt sahen.

Die Tatsache, dass die Römer kreu­zig­ten, reichte aus, um sie als Wilde zu ver­dam­men. Die Evangelien jedoch, wel­che die Pharisäer, die Hauptopfer der römi­schen Kreuzigungspolitik, wegen ver­schie­de­ner angeb­li­cher Verbrechen der Scheinheiligkeit und Selbstgefälligkeit ver­dam­men, ver­ur­tei­len an kei­ner Stelle die Römer wegen der Zeit der Kreuzigungen oder über­haupt wegen irgend­ei­ner Sache. (S.19)

Aufgrund der his­to­ri­schen Situation ist ein Auftreten Jesu, ohne ihn in Bezug zu die­ser domi­nie­ren­den Besatzungsmacht zu set­zen, nicht denk­bar. Selbst die Stadt Sepphoris, die nur 6 km von Nazareth ent­fernt und sich in einem groß ange­leg­ten Wiederaufbau (Josef und Jesus sol­len ja Zimmerleute gewe­sen sein) befand, wird in den Evangelien nir­gends erwähnt. Wenn auch Galiläa selbst nicht unter direk­ter römi­scher Herrschaft stand, wuchs Jesus in einer patrio­ti­schen und stär­ker anti-römisch bestimm­ten Atmosphäre auf, als wenn er in Jerusalem selbst gebo­ren wäre. (S.20)

In den Evangelien wird Kritik an Rom sorg­fäl­tig ver­mie­den. (S.24) Die Evangelien ver­mei­den jeden Bezug zur his­to­ri­schen Wirklichkeit in Judäa. Es war eine Zeit, als kein Jude sich dem tie­fen, durch die römi­sche Anwesenheit ver­ur­sach­ten Elend ent­zie­hen konnte, als das jüdi­sche Volk und beson­ders seine ärms­ten Menschen durch maß­lose Steuern zur Verzweiflung getrie­ben wur­den und als die Juden gezwun­gen waren, die Wirklichkeit der stän­di­gen Demütigung ihren hoch­flie­gen­den Sehnsüchten als Volk gegen­über­zu­stel­len. Trotzdem zeich­nen die Evangelien Jesus als eine unpo­li­ti­sche Gestalt, für die die Unabhängigkeit sei­nes Volkes vom Joch der göt­zen­die­ne­ri­schen, grau­sa­men und aus­beu­te­ri­schen Eindringlinge eine bedeu­tungs­lose Sache war. (S.27)

Wenn man sich auf­grund der detail­lier­ten Informationen des Autors die his­to­ri­sche Situation vor Augen führt, wird eine der­art unpo­li­ti­sche und des­in­ter­es­sierte Einstellung des auf­tre­ten­den Jesus voll­kom­men unglaub­haft. Nach den von den Evangelienschreibern über­lie­fer­ten Worten die­ses Jesus ging es ihm ja „um das Wohl der Schafe Israels”. Und da gab es folg­lich nichts aus­zu­blen­den, son­dern Stellung zu bezie­hen.

Interessant sind die Ausführungen zu den reli­giö­sen Gruppen der dama­li­gen Zeit. Insbesondere die zwi­schen den Pharisäern und den Sadduzäern. Erstere stan­den dem ein­fa­chen Volk nahe, wäh­rend die Sadduzäer den Hohepriester, über­haupt das Tempelpriestertum und auch die Mehrheit im Sanhedrin stell­ten. Die Sadduzäer arbei­te­ten enger mit den Römern zusam­men und waren als jüdi­sche Oberschicht auch für die poli­ti­sche Ruhe mit­ver­ant­wort­lich. Der Angriff Jesu auf den Tempel war also vor allem ein Angriff auf die Sadduzäer. Ihnen gelang es den Frieden in Judäa auf­recht zu erhal­ten bis dann im Jahr 66 der erste große Aufstand gegen Rom aus­brach, der schließ­lich zum Untergang und zur Zerstörung des Tempels führte.

Die Evangelien mach­ten „die Pharisäer” zu Gegner Jesu, obwohl diese viel mehr an Gemeinsamkeiten hat­ten als offen­bart wird, da man im Zuge der „rom-freudlichen” Berichterstattung mit „den Sadduzäern” auf­grund ihrer Zusammenarbeit mit Rom zwangs­läu­fig auch die­ses ange­grif­fen hätte. Und das war ja das Letzte, was dann sich nach 70 hel­le­ni­sie­rende neu ent­ste­hende „Christentum” gebrau­chen konnte. Diese Religion musste alles tun, um von den Römer nicht als Widerstandsbewegung ange­se­hen zu wer­den.

Die Bezeichnung „Messias” (grie­chisch „Christos”) war kein gött­li­cher Titel bei den Juden. Sie bedeu­tet ein­fach „gesalbt”. Sie wurde zwei jüdi­schen Amtsträgern gege­ben, dem König und dem Hohepriester, die beide in der Amtseinsetzungszeremonie mit Öl gesalbt wur­den. (S.48) Der christ­li­che Anknüfungspunkt „Messias” ist des­halb schon falsch, weil ein Messias immer nur als ein Mensch, aber nie­mals als ein „Gott” ver­stan­den wurde. Die Vorstellung von einem mensch­li­chen Wesen, dass auch gött­lich war, war undenk­bar. (S.49) Jesus selbst hat sich nie als Messias, nie als König oder gar als Gott bezeich­net. Das alles wurde durch die Gemeinde „nach­ge­lie­fert”.

Eine wei­tere Erfindung der Evangelien war, dass Jesus frei­wil­lig in den Tod ging und dass er damit die Schuld der Menschen til­gen wollte. Letzteres ist ein­zig die Interpretation eines sich selbst ernen­nen­den Apostel Paulus. Die ganze Vorstellung von einem Gottmenschen, der sich opfert um die Sünden des Menschengeschlechts zu süh­nen, ist der jüdi­schen Tradition fremd. Sie gehört zu der sado­ma­so­chis­ti­schen Romatik der hel­le­nis­ti­schen Mysterienkulte mit ihrer unwi­der­steh­li­chen Anziehungskraft für die, wel­che die Last der Schuld uner­träg­lich schwer fan­den und sich danach sehn­ten, dass sie ihnen von einer cha­ris­ma­ti­schen gött­li­chen Gestalt abge­nom­men würde. Auf Juden übt es keine Anziehungskraft aus, sich vor der mora­li­schen Last zu drü­cken; mora­li­sche Last ist für sie keine Last, son­dern ein Vorrecht. (S.68)

In der Folge setzt sich der Autor mit den christ­lich bekann­ten Mythen von Jungfrauengeburt, Unterordnung eines Johannes des Täufers und vor allem dem angeb­li­chen Pazifismus die­ses Jesus aus­ein­an­der. (S.73)

Auch kleine Details erhär­ten den Verdacht, dass mit den Evangelien mehr erfun­den als wahr­heits­ge­treu berich­tet wird. Beim tri­um­pha­len Einzug wurde ja angeb­lich mit Palmenzweigen gewe­delt. Zur Passahzeit gibt es in der Region keine Palmzweige, und es ist unwahr­schein­lich, dass seine Bewunderer Jesus mit ver­welk­ten Palmzweigen vom ver­gan­gen Herbst begrüßt hät­ten. (S.92)

Die Herrschaft Jesu als König der Juden in Jerusalem dau­erte weni­ger als eine Woche. Den Evangelien zufolge war die ein­zige kon­struk­tive Tat, die Jesus aus­führte, die Reinigung des Tempels. (S.97)

Der Autor betont an vie­len Stellen, wie sehr die Evangelien sich von jüdi­schen Vorstellungen unter­schei­den. Jesus ver­stand sich jedoch immer als Jude, der nur „erfüllt” bzw. ankün­digt und es wirkt des­halb voll­kom­men unglaub­wür­dig, was ihm die Evangelien an Absichten und Taten unter­stel­len. Dazu gehört vor allem die Auffassung, dass sich Jesus für die Menschheit „geop­fert” habe.

Eine der­ar­tige Verbindung von Größenwahn und selbst­mör­de­ri­scher Phantasie war der Gesellschaft Judäas und Galiläas zu Lebzeiten Jesu ganz und gar fremd. Sie hat­ten ihren eige­nen apo­ka­lyp­ti­schen Über­spannt­hei­ten, aber diese Art von hel­le­nis­ti­scher Schizophrenie lag völ­lig außer­halb ihrer Erfahrung und ihres Verständnisses. Jesus sah sich nie in die­ser Weise. (S.101)

Jesus war letzt­lich nur einer der vie­len „Freiheitskämpfer”. Was ihn aller­dings von ande­ren unter­schied, war, dass er glaubte durch sei­nen „Auftritt” in Jerusalem etwas in Richtung „Befreiung” unter­nom­men zu haben. Sicherlich war er von einem Eingreifen Gottes über­zeugt und wurde in die­ser Hoffnung kläg­lich ent­täuscht. Aber er – oder doch mehr Paulus – hatte etwas ganz ande­res in Gang gesetzt.

Der Prozess Jesu kann, so wie in den Evangelien geschil­dert wurde, nie statt­ge­fun­den haben. Es ist beein­dru­ckend, wie „ver­ständ­lich” die Geschichte wird, wenn man Jesus in den his­to­ri­schen Kontext stellt. Über­aus span­nend ist auch, wie diese jüdi­sche „Vorlage” zu einer phan­tas­ti­schen Geschichte umge­mo­delt wurde. Entscheidend für die wei­tere Geschichte war der Untergang Judäas im Jahre 70. Aufgrund die­ses Untergangs der kon­ku­rie­ren­den jüdisch-christlichen Fraktion in Jerusalem (mit dem Herrenbruder Jakobus), defi­nierte sich die neue Sekte im „hel­le­nis­ti­schen Ausland” (Antiochien, Alexandrien u.a.) und durch die Lehren des Paulus (Korinth u.a.) immer stär­ker in der Abgrenzung zum Judentum. Aus die­sem Grund musste aus einem jüdi­schen Freiheitskämpfer und Juden ein „glo­ba­ler unpo­li­ti­scher Erlöser” wer­den.

Wenn man ein­mal diese his­to­risch prä­zi­sen und infor­ma­ti­ven Inhalte zur Kenntnis genom­men hat, wird man über die „christ­li­che Verkündigung” nur noch den Kopf schüt­teln kön­nen. Es liest sich tat­säch­lich span­nend wie ein Kriminalroman. Sämtliche Fakten und Indizien fügen sich naht­los zusam­men und die Motive lie­gen klar zu Tage. Die zu unrecht Verdächtigten sind reha­bi­li­tiert und die Wahrheit kommt ans Licht. Ein letz­tes Abstreiten wirkt des­halb nur noch ermü­dend und wird die Verurteilung nicht ver­hin­dern.

Kurz: Höchst emp­feh­lens­wert!

Hyam Maccoby: Jesus und der jüdi­sche Befreiungskampf. 172 S. Ahriman-Verlag Freiburg 1996. 16,00 Euro. ISBN 3-89484-501-5

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]

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