Die Essenz aller Pfade

 Fühlende Wesen der sechs Welterfahrungen

Zwischen Buddhas und fühlenden Wesen besteht essentiell kein Unterschied. Während Buddhas sich der dreifachen Qualität ihrer Geistesnatur gewahr sind, erkennen fühlende Wesen ihre grundlegende Natur nicht. Aufgrund dessen wandeln fühlende Wesen in wiederkehrenden Erfahrungskreisläufen von Leid, Qual, Unsicherheit und Angst. Sie reagieren mit darauf mit den geistig-emotionalen Grundmustern des Festhaltens, der Ablehnung bzw. Abwehr, der Konkurrenz, des Abwertung bzw. der entwertenden Selbstüberhöhung und der Leugnung. Diese Geistesmuster bilden den Widerstand gegen die Offenheit jeglicher Lebenserfahrung und verhindern so eine tiefe und nachhaltige Zufriedenheit.
Da fühlende Wesen sich keine Erfahrungsalternative erlauben, was ja ein Beweis für die grundlegende Offenheit des Seins wäre, wiederholen sie ihre Leid und Qual bringende Erschaffung ihrer Erfahrungswelt. Und so erscheint Samsara – der quälende Erfahrungskreislauf – daraus, was eigentlich schon befreit ist, was die erwachte Wesensnatur ist.
Drei Ebenen oder Stufen von Sicht, Verhalten und Resultat bieten sich nun an, um aus diesen Leidenskreisläufen heraus die offene Wesensnatur zu realisieren. Die drei Stufen bauen aufeinander auf und alle drei führen zur Befreiung. Ihre Unterschiede liegen lediglich in den verwendeten Methoden, die aufgrund der verschiedenen Fähigkeiten der fühlenden Wesen geschickt angewandt werden.

Persönliche BefreiungDie Essenz aller Pfade

Im Fahrzeug der Shravaka (Hörer), welches den Pfad der persönlichen Befreiung darstellt, wird Anhaftung als das Hauptübel für Leiden und Qualen angesehen. Daher ist die ganze Praxis einschließlich Sicht, Verhalten bzw. Regelwerk und Inspiration darauf ausgerichtet, von Weltlichkeit Abstand zu nehmen und Entsagung zu üben. Dies führt zur Verwirklichung der Selbstlosigkeit, d.h. der Erkenntnis, dass es kein dauerhaftes, unveränderliches, aus sich selbst heraus bestehendes Ich oder Selbst gibt. Da dies auf alle Phänomene zutrifft, gibt es nichts woran anzuhaften wäre. Somit wird ein Zustand realisiert, der jenseits von Sorgen und Leid ist und einen einfachen Frieden darstellt.
Die Pratyekabuddhas (Alleinverwirklicher) erkennen, dass fühlende Wesen einen Geistesstrom besitzen. Dieses geistige Kontinuum muss kontrolliert werden. Durch das Ausführen positiver Taten und das Unterlassen von negativen Handlungen werden entsprechende Gewohnheiten im Geistesstrom gepflanzt. Diese Samen reifen schließlich zur Buddhaschaft.

Die Essenz aller PfadeAllumfassende Befreiung

Im Fahrzeug der Bodhisattvas, das von großem Mitgefühl und der Sicht der Leerheit geprägt ist, stellen Hass und Abneigung das Hauptübel für Leid und Qual dar. Die Praxis der Bodhisattvas ist somit darauf gerichtet, das Trennende und Abweisende abzubauen und „alle Wesen als Gäste einzuladen“. Dies beruht auf der Einsicht, dass echte Befreiung nicht erlangt werden kann, wenn nicht ausnahmslos alle Wesen auch Befreiung erlangen. So erlangt man Herzensweite und nachhaltige Freiheit.
Die Sicht der Befreiungshelden (Bodhisattvas) ist, dass die grundlegende Natur des Geistes frei von jeglichen Extremen und Begrenzungen ist. Da sie Abstand nehmen von den vier extremen Sichtweisen eines Eternalismus, Nihilismus, beiden und weder noch, begründen sie damit den „mittleren Pfad“. Dieser mittlere Pfad, der frei von Extremen ist, ist die Ursache für die Buddhaschaft.

Befreiung im Hier und JetztDie Essenz aller Pfade

Durch die Anwendung geschickter Mittel und der Sicht der Reinheit bzgl. der Erscheinungen kann Befreiung in diesem einen Leben erlangt werden. Diese Praxisstufe gliedert sich in zwei Teile – einen äußeren und einen inneren Abschnitt. Im äußeren Abschnitt ist Reinheit in Verhalten und Handlung von Bedeutung. Durch die geschickten Mittel meditativer Übungen werden die Umwelt und ihre Bewohner – die fühlenden Wesen – gereinigt und konstruktives Potential wird angesammelt. Durch die Sicht, dass alle relativen Erscheinungen Ausdruck der letztendlichen Wahrheit sind, beginnt man in den verschiedenen Meditationsübungen die unreine Sicht zu reinigen und eine reine Sicht zu entwickeln. Auf einer weiteren Praxisebene realisiert man, dass alles im Geist erscheint. Weiters erfährt man die Untrennbarkeit von Erscheinung und Geist.
Im äußeren Abschnitt spricht man von den allgemeinen Pfaden des Kriya, Upa und Yoga. Der innere Abschnitt gliedert sich auch in drei Aspekte – Maha, Anu und Ati. Allen drei Aspekten ist gemein, dass sie sehr rasche Resultate bringen.
Durch die Übung des Erzeugens wird nichts Neues hervorgebracht, sondern man erzeugt Gewahrsein von der ursprünglichen Natur, wie sie schon immer war. Mittels komplexer Visualisationen werden die Elemente, die Wahrnehmungsorgane und die Bewusstseinsarten gereinigt und als weibliche und männliche Buddhas erkannt. Ein weiterer Grund für die Übung der Erzeugungsstufe ist das Reinigen der vier Arten von Geburt im Daseinskreislauf.
Nachdem die Selbstnatur als Gottheit realisiert wurde, löst man durch die Übungen der Auflösungsstufe wieder alles in Leerheit auf. So wird alles als Projektion des Geistes erfahren und Buddhaschaft verwirklicht.
In einem weiteren Schritt des inneren Abschnitts richtet man den Fokus der Praxis von den Phänomenen und der Selbstnatur auf den inneren Erfahrungsbereich. Dies wird über die Praxis des Energieyogas bewerkstelligt.
Der Gipfel aller Pfade ist dann die Praxis der Großen Vollkommenheit. Erfolgte auf den bisherigen Pfaden eine ethische Schulung, eine Reinigung der Wahrnehmung und des Selbstverständnisses, so gibt es auf dieser Ebene nichts mehr zu schulen oder zu reinigen. Durch die Herzensanweisungen des Lehrers erfolgt eine Einführung in die Weisheitsnatur des Geistes.
Abhängig von der Praxis, der Übungsstärke und den Fähigkeiten des/der Praktizierenden ist es möglich, durch diese drei inneren Yogas in diesem einen Leben die Befreiung zu erlangen.

Buddhas und die Natur des Geistes

Die Essenz aller PfadeDa die fühlenden Wesen jene sind, die in einen Zustand der Verwirrung eingetreten sind, sind Buddhas diejenigen, die diese Verwirrung aufgelöst haben und die dreifache Wesensnatur erkennen. Sie sind sich der Offenheit, der Klarheit und des Mitgefühls der Geistnatur gewahr. Da sie nicht unter Verwirrung leiden, erkennen sie die Offenheit des Geistes, erfahren den Geist als offenen Raum – ohne Kern und Rand, ohne Merkmale, Farbe und Form. Weil sie die Lichtheit und Klarheit des Geistes erkennen, begründen sie kein äußeres Universum mit fühlenden Wesen darin, sondern sehen den Ausdruck der leuchtenden Präsenz der Geistnatur als uranfängliche Weisheitsenergien. Da sie sich der ungehinderten mitfühlenden Natur gewahr sind, erschaffen sie keine Objekte oder Erscheinungen, körperliche Formen und geistige Ansichten.
Da Buddhas anerkennen, dass von je her nie ein Ego bestanden hat, das zu reinigen, zu verwandeln oder aufzulösen gewesen wäre. Sie wissen, dass das angeborene Allgute weit offen, leuchtend klar und ungehindert mitfühlend ist.


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