Der amerikanische Traum (aus Kapitel 2)
Der erste Textauszug / Leseprobe aus RENDEVOUS
Die Anreise in die USA verlief für Anna und David reibungslos. Bevor sie mit einem Mietwagen nach Kalifornien fuhren, verbrachten die beiden vier Wochen bei David´ s Großonkel und dessen Familie in Estes Park, mitten im Rocky Mountain National Park in Colorado gelegen. Der Ort ist nicht groß, gerade einmal überschaubare 5000 Einwohner, neunzig Prozent von ihnen augenscheinlich Republikaner und überchristlich. Besonders Großtante Phillis mit einem Bild es Papstes im Schlafzimmer und der heiligen Fatima in einer Vitrine schien das Christentum intensiv zu leben. Dass ihre deutschen Gäste Atheisten sind, erfuhr sie erst gar nicht. Wer weiß, wie viele Bekehrungsversuche sie gestartet hätte Es war ihr schon ein Dorn im Auge, dass die zwei jungen Leute Zigaretten rauchten. Man ging also brav am Samstag Morgen mit zur Christmesse in die aus Holz gebaute, kleine Kirche.
Vom amerikanischen Traum wird ja wirklich oft gesprochen, aber für wen ist er schon Wahrheit geworden? Die knallharte Realität würde Anna und David in San Francisco erwarten. Jeder Europäer, ja jedes Kind weiß ja, dass in den Staaten nicht einmal eine gesetzliche Krankenversicherung existiert. Die normale Arbeiterklasse ist im Rgelfall mit zwei bis drei Jobs voll eingespannt. Falls jemand aus dieser Schicht ernsthaft krank wird, hat er oder sie ein heftiges Problem. Die Waffenlobby und Pharmaindustrie ist stärker als das soziale Netz. Wie war das noch mal mit Deutschland und der von Schreihälsen genannten Ungerechtigkeit? Die Mehrheit der Amerikaner wohnt nicht in einem Häuschen mit Garage wie Al Bundy und Bruce Willis hat auch nicht die Welt gerettet. Das lustige Spiel als Polizei auf anderen Kontinenten kommt gottseidank seit einigen Jahren bei der US – Population nicht mehr so gut an. Der nette Abschlussball der High School, auf dem der Quarterback des Schultemas mit der Hübschesten aller Cheerleaderinnen auftaucht – höchstens noch in reichen Gemeinden wie Estes Park oder in Trilogien wie „Zurück in die Zukunft“.
Anna und David tuckerten jedenfalls nun mit einem alten Chevy gen Westküste und freuten sich auf eine der attraktivsten Städte dieses riesigen Landes. Manche sagen, an der Golden Gate Bridge und in den verwinkelten Gässchen San Franciscos leben besonders entspannte Zeitgenossen. Wie dem auch sei: Das bayerische Pärchen schaute auf die Meilenanzeige, denn die Temperatur stieg von Stunde zu Stunde. Anna sprach schon auf der Hälfte der Strecke vom pazifischen Ozean. Los Angeles wurde natürlich auch anvisiert, genau wie das nördlich gelegene Seattle im Anschluss an den Trip.
David erklärte seiner Liebsten, dass Kalifornien auf „The big one“ wartet. Ein interessantes Thema. Es würde bedeuten, dass sich der Bundesstaat durch ein schweres Seebeben und eine Erdplattenverschiebung eines Tages vom restlichen Festland abtrennt und zu einer Insel wird.
„Jederzeit könnte es soweit sein!“, sagte er lächelnd.
Anna hingegen dachte beim Gedanken an den Sonnenstaat eher an Rockkonzerte und Hollywood. Einmal sollte man es schon gesehen haben, auch wenn es nur eine einzige große Show ist.
Früh morgens um 6 Uhr erblickte das Paar dann die ersten funkelnden Lichter San Franciscos. Müde, erschöpft, dennoch euphorisch. Man kann sagen was man will, aber die Gebäude in den US – Großstädten machen schon Eindruck. Faszination der Moderne und Symbol für eine einst aufblühende Nation. Neuropa im Morgengrauen mit einem Pappbecher voll mit heißem Kaffee von der Tankstelle des ersten Vorortes. Anna und David begannen über Dinge wie den „Spring Break“ in den USA zu diskutieren. Sie wären wohl in früheren Zeiten selbst dabei gewesen. Vor allem für David hat sich so etwas längst erledigt. Was man ihm nicht anmerkt und auch nicht ansieht ist der Fakt, dass er eben seit zehn Jahren dieses Medikament einnimmt. Es hilft ihm seitdem gegen die Angst, die er am heutigen Tag längst im Griff hat. Nicht nur deshalb führt er seit Langem ein Tagebuch. Sein erster Eintrag darin in Amerika fiel sehr nachdenklich und tiefsinnig aus:
„Liebes Psychobuch,
warum muss von einem Land, in dem so viele nette und entspannte Menschen leben ein solches Unrecht ausgehen? Weshalb wird Weltpolizei gespielt und werden Waffen an vermeintliche Feinde und Freunde gleichzeitig geliefert? Ist das christlich? Ist es wirklich so, dass des Geldes wegen fünf Männer die ganze Welt regieren? Dass es auf dem ganzen Planeten im Wesentlichen um den schnöden Mammon geht ist klar. Dennoch ist das mit keiner Religion vereinbar. Auch die Grundgesetze, die überall für jeden Menschen gelten widersprechen dem, was da abläuft. Demonstrationen werden teils geduldet, anderswo vielleicht auch nicht, doch die Dinge ändern sich einfach nicht, obwohl es eigentlich so einfach wäre. Ich blicke gerade auf eine traumhafte Stadt in einer wundervollen Landschaft. Ein lauer Wind streift meiner Freundin hier auf der Veranda durch ihr langes Haar. Wir sind nun seit mehreren Stunden in Kalifornien. Im Innenhof unserer Pension spielen vier Afroamerikaner Basketball. Wir werden hier noch eine schöne Zeit erleben. Gute Nacht.“
Dadurch, dass David in der Vergangenheit bei mehreren Psychiatrieaufenthalten solch schlimme und traurige Dinge gesehen und erlebt hatte, war diese Reise bisher eine einzige Wohltat für den jungen Mann. Er wollte schon lange nicht mehr negativ denken. Der Zustand unserer Erde und er Menschen erleichterte das nur nicht immer. In seinen Träumen mischten sich eigene Erlebnisse und das aktuelle Weltgeschehen. Die Heimat, die ihm einst so zusetzte und sein Aaron, der mächtigste aller Krieger gesellten sich immer wieder dazu.
Am nächsten Tag klingelte schon um 7 Uhr morgens Anna´ s Mobiltelefon. Ihre Mutter wollte sich erkundigen, wie es ihr und David ging. David war überaus beliebt in der Familie seines Mädchens, die ebenfalls ein weltoffenes Denken innehatte.
Das Paar war schon auf dem Weg in die Innenstadt, als sie beinahe über ein wunderschönes Straßengemälde stolperten. Ein wahrer Künstler zeichnete hier wohl ein dreidimensionales Bild, das den Eindruck vermittelte, mitten im Gehweg sei eine Schlucht mit schier endloser Tiefe in die Dunkelheit. Der Erschaffer des Werkes ließ nicht lange auf sich warten. Verschmitzt lächelnd, mit einer Flasche Bourbon in der Hand zwängte sich ein langhaariger, schlanker Mann mittleren Alters aus einer Nische und begrüßte die Deutschen mit einer sehr hellen, ja fast unmännlichen Stimme: