(Fortsetzung von Teil 1).
Fortsetzung von Phire, Freitag, 13:23 (Lese-Bühne des Paschen Literatursalons. Ein Autor stellt sein neues Buch vor. Der Titel: „Denken ist dumm”):
Das Szenario passt perfekt zum Trend, die profitorientierten Strategien von Unternehmensberatern auf den Alltag der Menschen zu übertragen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind ohnehin längst von den Viren des Optimierungszwangs kolonisiert. Arbeit ist Freizeit und Freizeit ist Arbeit.
Bestens geschult in der strategischen Eindrucksmanipulation eines Politikers, lässt der Autor die Zuhörer an seinem „Geheimwissen“ teilhaben und übt damit vor allem eins aus: Macht.
Macht heißt vor allem, eine Wirkung auf andere Menschen auszuüben. Nicht unbedeutend ist daher gerade die Macht, unterhalten zu können. Erst dann wird regiert. Ist es dieselbe Macht, von der Schriftsteller Rainald Goetz später auf einer Lesung spricht?
Automat, Sonntag, 17. 34: Die Konsumgüterindustrie ist hier. Hallo! Sage ich, denke ich. Warum seid ihr hier? Ich will doch nur in Ruhe mein Buch lesen. Warum bin ich hier?
Asiatische Gothic-Lolitas scheinen einen natürlichen und deshalb unfairen Vorteil zu haben. Sie sind die Gewinnerinnen im Kampf um Aufmerksamkeit. Seltsam, dass Authentizität selbst in diesem Kontext entscheidet.
Übergabezeremonie Neusehland an Brasilien. Es ist ein schöner Raum mit kleinen Seen und riesigen Leinwänden, auf die die Zeremonie projiziert wird. Man kann sich aus jeder Perspektive der Bühne zuwenden. Die Kunstaffinen und die Künstler, Laudatoren und Veranstalter, Redner und Tänzer, sind sehr emotional. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich verstehe nicht worum es geht, verstehe keine der Anspielungen und Pointen. So etwas mag ich nicht. Elitäre Medien, Politik und arrivierte Künstler-Welt. Viele hier wollen ein Teil dessen sein. Sie geben sich so, als verständen sie die Milieu-Sprache, als hätten sie das kulturelle Kapital. Wahrscheinlich wissen selbst die meisten Redner nicht, was die anderen für dämliche Anspielungen von sich geben…
Ich verliere mich in meinen Gedanken…
Medienwissenschaftler und Jakob Augstein verschränken mediengerecht ihre Beine und tauschen Selbstverständlichkeiten aus (Foto: Phire)
Phire, Freitag, 14:01: Während mein masochistisches Selbst noch bleiben möchte, überwiegt am Ende die hungrige Rastlosigkeit, die mich zum Stand des Thüringischen Wirtschaftsministeriums führt. Dort soll der Journalist Jakob Augstein über die Zukunft von Blogs diskutieren. Als ich ankomme, sitzt der Verleger des FREITAG bereits im schneidigen Anzug, seine Physiognomie medienaffin unter Kontrolle haltend, einem Doktor der Medienwissenschaft gegenüber, dessen Fragen entweder wie Antworten klingen oder durch die unkritische Allgemeingültigkeit bereits im Mund zu zerbröseln scheinen.
Ja, auch heute hätten Blogs im Gegensatz zu etablierten Medien kaum Einfluss in Deutschland und wenn, dann würden eben diese wenigen Blogger erst über eben diese Medien wie etwa den SPIEGEL bekannt. Augstein lässt sich nichts anmerken, der Blick bleibt cool, wobei er die Kritik der trivialen Fragen des Moderators in subtilen Zwischentönen versteckt.
Nachdem ich meinen Blutzuckerhaushalt künstlich durch eine Portion ZEIT-Traubenzucker erhöht habe, bleibe ich kurz an der Bildungsbühne in Halle 4 stehen. Dort erfahre ich vom britischen Physik-Professor und Autor des Buches „Elefanten im All“ Ben Moore, dass der menschliche Körper zu 10 % aus Sternenstaub und zu weiteren 10% aus Urknall-Materie besteht.
Automat, Sonntag, 18:06: Ich bin wieder wach. Jetzt taumele ich in die internationale Halle C4. Im Gegensatz zur Sektion F5 Kinderbücher und Entertainment herrscht hier meditative Ruhe. Einige Araber diskutieren auf einer Mini-Bühne in ihrer Sprache. Es ist interessant, was hier auf der Buchmesse für Mikro-Welten existieren. Ein guter Soziologie-Dozent hat mir in einem Uni-Seminar mal die „Soziale Welten“ anhand der Zeitschriftensektion in einer Bahnhofsbuchhandluch erklärt: Die verschiedenen Spezialzeitschriften wie beispielsweise „Tattoo World“, „Kaninchenzuchtmagazin“ oder „Schöner Wohnen“ stehen für verschiedene Soziale Welten in denen sich die Menschen bewegen und dessen Repräsentanten sie sind.
Schriftsteller Rainald Goetz liest aus seinem Roman Johan Holtrop und schwitzt (Foto: Phire)
Phire, Samstag, 12:01: Endlich erreiche ich die Lesung von Rainald Goetz, und bin sogar pünktlich oder: just in time, wie es wahrscheinlich der Typ von eben gesagt hätte. Als Goetz die Bühne betritt, bestätigt sich sofort der Eindruck, den ich aufgrund einiger Videos bereits gespeichert hatte: Sein Körper ist zu langsam für die Schnelligkeit seiner Gedanken.
Sternenstaub ist träge, er musste ja auch einen weiten Weg zurücklegen. Dennoch sind seine Bewegungen so ruckartig wie der Kopf eines nach Futter suchenden Vogels. Auch wenn Goetz, bestens vorbereitet auf die gelangweilten Fragen des Journalisten, nicht nach Würmern, sondern nach Wörtern sucht.
Und während ich mich noch frage, ob seine Hyperaktivität einer vorauseilenden Professionalität oder einem beherztem Ingwerteekonsum geschuldet ist, sprudeln Sätze wie Wasserfälle aus seinem Mund, die sich wie Seifenblasen im Raum verteilen, dabei aber nicht zerplatzen. Es geht um seinen neuen Roman Johan Holtrop, eine Art personifizierter Abgesang auf den fatalistischen Profitzwang großer Unternehmen im Finanzkapitalismus.
Automat, Sonntag, 18:11: Laut Anselm Strauss, dem Schöpfer der Theorie, konstituieren sich Soziale Welten durch eine Kernaktivität, gemeinsame Ziele und Ideologien. Die Teilnehmer der jeweiligen sozialen Welten teilen Ressourcen und entwickeln bestimmte Techniken zur Erreichung ihrer Ziele. Die Segmentierung der Gesellschaft in soziale Welten könne als Reaktion auf die durch den Modernisierungsprozess ausgelösten Desintegrationserfahrungen aufgefasst werden.
Wird unsere Gesellschaft immer Fragmentierter? Steht die Buchmesse hierfür stellvertretend? Wird es immer mehr Menschen in Tierkostümen geben?
Phire, Samstag, 12:37: Goetz, manischer Zeitungsleser, hält eigens von ihm mitgebrachte Zeitungsausschnitte aus vergangenen Wirtschaftsteilen hoch und erklärt, dass es besonders Artikel über Konzernmanager gewesen seien, die ihn zu seinem Buch inspiriert hätten. Es ist das Projekt Wirklichkeit, die Selbstverständlichkeit der Realität, die Goetz seit seinen Werken “Klage” oder “loslabern” antreibt.
Das zentrale Motiv des Buchs sei, so Goetz, seinen eigenen Kritiker mimend, Verachtung. Verachtung gehe oft von Macht aus. Deshalb würden die Protagonisten mit entsprechenden Positionen ihre Mitarbeiter auch ständig mit besonderer Herablassung behandeln.
Das sei doch auch im richtigen Leben so, eigentlich verachte doch jeder jeden. Auf der Straße, im Supermarkt oder im Büro. Aber gerade durch die alltäglichen Machtspiele von Vorgesetzten würde die Negativität immer wieder aufs Neue nach unten diffundieren.
Auf die Nachfrage des Interviewenden, inwiefern sich seine Gesellschaftskritik von der eines Günter Wallraff unterscheide, winkt Goetz entschlossen ab. Mit dieser Art der „U-Boot-Forschung“ könne er nichts anfangen und bringt anschließend etwas, das noch lange nachhallen wird, auf den Punkt: “Man muss die Wirklichkeit nicht enttarnen, sondern das Bekannte ernst nehmen.”